Das Internet
war schuld. Und meine Neugier. Daß alles wieder von vorn anfing,
und schlimmer als zuvor, habe ich mir selbst eingebrockt. Ich hatte
gehofft, keinen von diesen Leuten jemals wiedersehen zu müssen.
Mir war klar, daß daraus nichts Gutes entstehen würde.
Schon die erste Begegnung hatte ich nur durch ein Wunder überlebt.
Ein paar Sekunden langsamer, und eine Bombe hätte mich erwischt.
Kurz davor wollte der gräßliche Michalke mich erschießen.
Ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen. Michalkes
Tod verfolgt mich heute noch in meinen Träumen. Dabei ist es
schon zehn Jahre her.
Es war am 11. November 1989 in Berlin. Michalke gab sich als Hotelportier
aus, und ich ließ ihn in mein Zimmer ein. Sofort richtete er
eine Pistole auf mich.
"Her mit die Fotos, aber'n bißken plötzlich!"
verlangte er in seinem dreisten Berliner Dialekt, und ich begriff
nicht, was das sollte. Ich erkannte ihn nicht einmal sofort; ich sah
nur seine Waffe.
Michalke wußte es besser. "Du vastehst mir janz jenau!"
behauptete er.
Das hatte mit der Entführung von Katja zu tun, begriff ich endlich.
Michalke arbeitete für Jäger, der ebenfalls hinter meinem
Film her gewesen war. Was hatte ich nur fotografiert? Touristische
Motive und Katja. Es war ein völlig normaler Film mit seltsamen
Lichtflecken. Damit konnte nicht mal ich etwas anfangen. Aber Michalke
stürzte sich auf die Bilder, die auf dem Tisch lagen. Er war
abgelenkt, ich rannte davon. Eigentlich wollte ich nach unten auf
die Straße, doch auf der Treppe kamen mir Leute entgegen. Ich
war in Panik. Anstatt sie um Hilfe zu bitten, rannte ich in die Gegenrichtung.
Die Treppe hinauf bis auf den Boden, eine hölzerne Leiter empor
und durch eine Luke aufs Dach. Ich versteckte mich, soweit das auf
einem Dach überhaupt möglich ist. Wenig später erschien
Michalke. Er führte Selbstgespräche und sah sich nach allen
Seiten um, ohne mich zu entdecken. Und immer noch hatte er die Pistole
in der Hand. Er meinte es ernst. Wenn er mich entdeckte, würde
er ohne Zögern abdrücken. Ich versuchte, nicht zu atmen,
ich hörte ihn keuchen und brubbeln, ganz nah war er, "Na
warte, du Affenarsch", sagte er, und dann strauchelte er, "o
Scheiße", sagte er noch, dann schrie er und ließ
die Pistole nicht los und konnte sich nicht halten und fiel vom Dach.
Ich gebe zu, daß ich in meinem Schrecken kopflos gehandelt habe.
Um die Leiche kümmerte ich mich überhaupt nicht. Ich rannte
zurück in mein Zimmer, raffte das Nötigste zusammen und
verdrückte mich. Erst am nächsten Tag, als das Schlimmste
überstanden war, bin ich zur Westberliner Polizei gegangen. Zunächst
glaubte man mir nicht, denn es war kein Toter gefunden worden, und
als sie im Hotelhof nicht einmal Blutspuren fanden, mußte ich
ein Höchstmaß an Überredungskunst aufbieten, um sie
aufs Dach zu locken. Dort gab es dann immerhin Spuren eines Absturzes,
was meine Glaubwürdigkeit rehabilitierte. Sonderbar blieb es:
kein Blut, keine Leiche, keine Zeugen. Doch der Currywurststand am
Potsdamer Platz blieb geschlossen, der Inhaber war verschwunden. Daß
die Bude bestenfalls Tarnung war, verrieten die Polizisten mir irgendwann:
Michalke stand im Verdacht, ein Spion zu sein. Nur für wen er
spionierte, war unbekannt. Vermutlich für alle Seiten, wenn sie
ihn bezahlten. Die Beamten einigten sich auf die Version, daß
Michalkes Kumpane Leiche und Spuren beseitigt hatten. Im Osten durften
sie damals noch nicht wirksam werden, die Ermittlungen wurden eingestellt,
und später erfuhr ich, daß er für tot erklärt
wurde, ohne daß sie ihn gefunden hatten.
Zehn Jahre später führte Katja mir ihren neuen Computer
vor. Welcher Teufel ritt mich, in die Suchmaschine ausgerechnet den
Namen Michalke einzugeben, Herrmann Michalke, der Name war eindeutig
wegen der unüblichen Schreibweise mit doppeltem R. Meine Recherche
war nur eine Laune, ich war sicher, daß sie null Ergebnisse
bringen würde, doch das war ein Irrtum:
http://www.tagesspiegel.de/archiv/1999/03/22/michalke_herrmann.html
Ich folgte dem Link ins Archiv des Tagesspiegel und fand unter der
Rubrik "Berliner Köpfe" folgenden Artikel:
Totgesagte
leben länger
Wie viele Touristen
aus aller Herren Länder mögen sich an seinem legendären
"Bratwursthimmel" gestärkt haben, damals, direkt an
der Mauer, wenige Schritte von der Aussichtsplattform entfernt! Herrmann
Michalke, das freundliche Berliner Original vom Potsdamer Platz -
eigentlich ein gebürtiger Breslauer -, war sicher einer der meistfotografierten
Imbißbudenbesitzer der Welt. Seine Wirkungsstätte inspirierte
den Regisseur Wim Wenders zu dessen berühmten Werk über
das geteilte Berlin und lieferte den Namen zum Film gleich mit.
Mit dem Fall der Mauer verschwand der Imbiß, und mit ihm Herrmann
Michalke. Gleichzeitig kamen Gerüchte in Umlauf, daß der
freundliche Bratwurstverkäufer in äußerst unappetitliche
Geschäfte verwickelt gewesen sein soll: Von Waffenhandel war
die Rede, von Kidnapping, sogar von Mord. Michalke, so hieß
es plötzlich, war Mitglied einer kriminellen Ost-West-Organisation,
die vor nichts zurückschreckte und mögliche Belastungszeugen
skrupellos aus dem Weg räumte. Aber alle Ermittlungen gegen ihn
und gegen seine mutmaßlichen Komplizen verliefen im Sande. Nach
Michalkes angeblichem Tod - er soll 1989 in Kreuzberg ums Leben gekommen
sein - wurde das Verfahren eingestellt. Zurück blieben die Touristenfotos
und zwiespältige Erinnerungen an eine schillernde Figur aus der
Zeit des Kalten Krieges. Aber seit einiger Zeit kommt der Verschollene
wieder ins Gerede: Er sei, so munkelt man, gar nicht tot, sondern
halte sich seit Jahren im Ausland versteckt. Mehr noch: Michalke betreibe
- mit Hilfe seines alten Kumpels Laurent L. - immer noch das gleiche
Geschäft wie früher und habe sogar irgendwo in England,
Frankreich oder in den USA wieder eine Art Gaststätte eröffnet,
die ihm als logistische Basis für seine dunklen Machenschaften
diene. Beweise dafür gibt es allerdings nicht.
Aber Herrmann Michalke ist wieder da, und sei es als Gespenst. Wie
heißt es doch so schön: Totgesagte leben länger! G.
A.
Es war der leichtfertige
Tonfall, der mich aufbrachte. "Das freundliche Berliner Original!"
Ich hatte ihn als mordlüsternen Choleriker kennengelernt. Und
Wim Wenders läßt sich gewiß nicht durch Currybuden
inspirieren; der Film heißt ja auch nicht "Der Bratwursthimmel
über Berlin"! Wäre der Artikel sachlicher geschrieben
gewesen, hätte ich die Informationen zur Kenntnis genommen und
im hintersten Winkel meines Gehirns endgelagert. Doch ich ärgerte
mich, Katja war fast noch wütender, und so stiegen wir beide
wieder in eine Geschichte ein, von der wir wünschten, daß
sie nie passiert wäre. Hätten wir gewußt, was daraus
entstehen würde, dann hätten wir den Computer zerschlagen,
unsere Koffer gepackt und uns ein halbes Jahr auf einer einsamen Südseeinsel
versteckt. Oder ich wäre wenigstens zu meiner Tante nach München
gefahren, wie ich eigentlich vorgehabt hatte, doch war sie verreist,
teilte mir mein Cousin am Telefon mit, also rief ich am nächsten
Tag beim Tagesspiegel an, um den Journalisten G. A. aufzutreiben.
Es war Karfreitag, die Redaktion war nicht besetzt. Warum nahm ich
das nicht als letzte Warnung von ganz oben, die Finger von der Sache
zu lassen? Ich machte weiter, und das Verhängnis nahm seinen
Lauf.
2
Früher war hier ein
breiter, kahler Sandstreifen vor der buntbemalten Mauer, zu dem man
über eine schmale, gepflasterte Straße lief. Wo hatte "Michalkes
Bratwursthimmel" gestanden? Vielleicht auf dem eingezäunten,
mit dürrem Unkraut bewachsenen kahlen Baugelände? Oder dort,
wo Debis und Sony das errichtet haben, was sie für die Stadt
der Zukunft halten? Der Potsdamer Platz, gerade zur Hälfte fertiggestellt,
ist immer noch die größte Baustelle Europas. Durch die
engen Straßen jagt die Luft dahin wie bei einem Sturm. Die lichtarmen
Schluchten erinnern mich an das Neubauzentrum von Boston. Glas und
Beton. Wer Natur sehen will, kann ins Imax gehen und auf die Panoramabildwand
starren. Die Seitengäßchen wären gänzlich tot,
gäbe es nicht die schreibwütigen Politessen, die mit finsteren
Gesichtern giftgrüne Zettel ausfüllen und hinter die Scheibenwischer
sämtlicher Autos zwängen; jene unbeliebten Botschaften,
die in Deutschland seltsamerweise Knöllchen heißen. Die
Schellingstraße ist kahl, baumlos, rechteckig, tot. Hat Schelling
das verdient, gerade er, der die Architektur als "Musik im Raum"
bezeichnete? Der einzige Trost: Es sind nur zweihundert Meter bis
zu den Arkaden mit ihren Dutzenden von Geschäften. Und: Wer hätte
es verdient, seinen Namen mit einer solchen Straße in Verbindung
gebracht zu sehen? Außer dem Architekten selber will mir niemand
einfallen.
"Vor fünfzig oder achtzig Jahren ist das Wissen verlorengegangen,
in welchem Verhältnis die Fenster zum Rest der Fassade stehen
sollten", trieb ich Konversation. "Glasfassaden sehen technisch
und kalt aus", ich deutete nach vorn, "Gebäude ohne
Fenster", ich zeigte mit dem Daumen über die Schulter, "wirken
wie Silos, die protzig großen Fenster links wirken öde
und langweilig, und die kleinen auf der anderen Seite sehen lächerlich
aus."
"Unser neues Zentrum scheint dir nicht zu gefallen", bemerkte
Katja unengagiert.
"Eher nicht", gab ich zu. "Aber es hat auch eine gewisse
Faszination. Wir sind in die U-Bahn gestiegen und haben, obwohl wir
nur 15 Minuten unterwegs waren, eine Zeitreise gemacht. Keine sonderlich
verlockende Perspektive, aber immerhin die Zukunft. Ein Vergnügen
für Masochisten. Und das ist heute ja in."
Wir suchten nach einem Platz, an den wir uns setzen konnten. Die Gerichte
im "Tony Roma's" - Hähnchenbrust für 23,50 DM!
- kamen uns überteuert vor. Wir sehnten uns nach den goldenen
Preisen von Michalkes Bratwursthimmel zurück. Gleich nebenan
bei McDonalds kamen sie ihnen recht nah, aber so masochistisch war
ich nun auch wieder nicht veranlagt. Schließlich setzten wir
uns auf die Korbstühle vor dem "Bistro". Das klang,
sofern nomen omen war, recht preisgünstig. Als wir die Karte
sahen, korrigierten wir unser positives Vorurteil Bistros gegenüber,
aber da saßen wir schon, also ließen wir uns Kaffee kommen.
Eine Tasse des dünnen Gebräus kostete soviel wie ein Pfund
Kaffee im Großhandel. Vielleicht hätte ich einen Tee nehmen
sollen, doch den trinke ich im Ausland nur, wenn ich ihn selber zubereite.
Außerhalb von England versteht man einfach zu wenig von der
Teezubereitung.
Wir sprachen nicht über Preise und Nationalgetränke. Katja
hatte ohnehin wenig zu meinen launigen städtebaulichen Betrachtungen
beigesteuert, woraus ich mühelos folgerte, daß der ernste
Teil des Nachmittags gekommen war. Gestern hatten wir uns entspannt
unterhalten, so, wie man eben miteinander plaudert, wenn man sich
zehn Jahre nicht gesehen hat. How do you do? I'm fine. Zum Ballett
geht sie nur noch als Zuschauerin, aus dem Hobby war kein Beruf geworden,
sie hatte etwas Zeitgemäßes studiert, war jetzt Computerdesignerin,
ja, sie kam aus, könnte besser sein, reichte gerade. Spät
in der Nacht waren wir schlafen gegangen, jeder in einem anderen Zimmer.
Vor zehn Jahren waren wir heftig ineinander verliebt gewesen. Auch
jetzt prickelte es wieder zwischen uns, eigentlich von der ersten
Sekunde an, aber wir waren gehemmt. Manchmal steht einem die Lebenserfahrung
im Wege.
Katja war Anfang 30, doch hatte sie sich kaum verändert. Nur
die Farbspritzer waren aus ihrem Gesicht verschwunden, und sie war
noch ein wenig blonder als damals. Kennengelernt hatte ich Katja auf
der Westseite des Brandenburger Tores. Sie hatte ihre neue Wohnung
am Prenzlauer Berg gemalert und erst am Nachmittag des 10. November
im Radio gehört, daß die Grenze offen war. Der Pinsel fiel
ihr aus der Hand, sie glaubte es nicht, mußte sofort nachsehen
wie Hunderttausende anderer, ging im Menschenstrom über die Bornholmer
Brücke, wies ihren blauen Personalausweis vor; der Grenzer murmelte:
"Das ist nicht erlaubt", aber er winkte sie durch wie alle
anderen, und auf einmal stand sie auf der bunten Seite der Mauer mitten
im größten Volksfest, das es je in Berlin gegeben hatte.
Wildfremde Menschen umarmten sie, drückten ihr ein Glas in die
Hand, schenkten ihr Sekt ein, wenn sie eine Hand frei hatten, weil
gerade kein Trabant vorbeikam, auf dessen Dach sie begeistert klopfen
konnten. Heute ist der Trabant selten geworden, und er löst mit
Sicherheit keine Begeisterung mehr aus. Nicht im Osten und schon gar
nicht im Westen. Die Zeiten haben sich geändert.
"Wir müssen darüber sprechen", begann Katja. Es
sind fast immer die Frauen, die solche Gespräche verlangen, und
es ist meist dieser Satz, mit dem sie beginnen.
"Das müssen wir", bestätigte ich, ohne um Präzisierung
zu bitten. Ich wußte nur zu genau, was sie meinte.
"War das damals nichts als ein One-Night-Stand?" kam sie
sofort zur Sache.
"Natürlich nicht", sagte ich, und fügte hinzu:
"Außerdem waren es fünf Nächte. Eine bei dir,
vier in meinem Hotel am Hermannplatz. Ich konnte mich im Osten ja
nicht mehr blicken lassen ..."
"Ich kann selbst bis fünf zählen", unterbrach
sie mich. "War da mehr? Und wenn mehr zwischen uns war - warum
hat es dann zehn Jahre gedauert, bis wir uns wiedergesehen haben?"
Mußte sie das Gespräch ausgerechnet in diesem sterilen
Ambiente führen? Es fiel mir schwer, das zu sagen, was ich ihr
sagen wollte, doch ich sprach es aus. "Es war Liebe, und ich
kann es mir nicht wirklich erklären. Warum hast du mich nie besucht?
Ihr durftet doch endlich reisen!"
"Du durftest sowieso reisen und bist auch nicht gekommen!"
"Zu euch habe ich mich nicht getraut, solange die Stasi noch
Macht hatte. Immerhin wollte Jäger mich in die Luft sprengen."
"Mich auch, und ich wohnte in der Nähe seines Hauptquartiers.
Er hat sich übrigens nie wieder blicken lassen."
"In meinem Land hatte er keine Macht. Warum bist du nicht gekommen?
Ich hab dich ein paar Mal eingeladen!"
"Du weißt doch, daß es mit den Terminen nicht geklappt
hat, mal konnte ich nicht, mal du. Dann aber bin ich losgefahren,
ganz spontan, das war im Sommer 1990. Und du warst nicht da, obwohl
in deinem letzten Brief gestanden hatte, daß der nächste
Auftrag dich erst wieder im Herbst ins Ausland führt."
Nun war ich tatsächlich verblüfft. "Du hast mich besucht?
Warum weiß ich nichts davon? Warum hast du nie ein Wort davon
geschrieben?"
"Vorher ging es nicht, es war ein spontaner Entschluß.
Und hinterher? Ich kam mir blöd vor ... Und dann warst du nicht
mal da! Nein, das war mir zu peinlich."
"Du hast fast gar nicht mehr geschrieben."
"Mein Studium fing an... Und es war so viel Zeit vergangen."
"Wenn ich das gewußt hätte ... Ich war damals Berufsanfänger,
ich konnte nicht nein sagen, wenn ein Auftrag kam. Freiberuflicher
Fotograf - das ist ein harter Job. Meist bringt er wenig ein. Seit
Berlin lief es wie verrückt. Der erste Film war zwar versaut,
aber an den nächsten Tagen sind mir ein paar schöne Bilder
vom Vereinigungstaumel geglückt. Die wurde ich reißend
los, und dann folgte ein Auftrag nach dem anderen. Ich kam kaum nach.
Ich wußte doch nicht, daß du kommst! Ich hätte den
Termin sausen lassen!"
"Ach, Roger!" sagte Katja.
3
Heutzutage haben Geheimdienste
ihre Homepages wie jeder normale User. Hat man erst einmal einen gefunden,
findet man alle. Als Brite begann ich natürlich bei den heimischen
Diensten - MI 5, MI 6, SAS. Nicht daß ich im Augenblick brennend
daran interessiert gewesen wäre; Katja und ich surften herum,
weil wir die Spannung nicht aushielten, die zwischen uns bestand.
Das Gespräch im "Bistro" hatte nur die Sachverhalte
geklärt, nicht die Gefühle. Also setzten wir die Michalke-Forschung
fort. Was lag näher als ein Sprung über den Atlantik zur
CIA? Meine geheimen Landsleute waren so freundlich, mir das Link zu
liefern:
http://www.cia.gov
Ein stolzer Adler
auf tiefblauem Grund erschien, daneben sein stilisierter Bruder im
Wappen, der so aussah, als stützte er sich auf ein Rednerpult.
Die Startseite bietet etliche Links an, darunter eine Kinderseite
mit putzigen Vögeln, die treu zur CIA halten, nur daß schwer
zu unterscheiden ist, ob es junge Adler oder Spatzen sind. Ein niedlicher
Hund auf Wacht für die Demokratie bellt viermal, wenn man den
Lautsprecher anklickt. Wir wechselten auf die Seiten für die
Erwachsenen. FAQs, häufig gestellte Fragen, ein Klick, und wir
sahen, was man schon immer über die CIA wissen wollte. Wie hoch
ist das Budget? Sorry, leider geheim. Wie viele Mitarbeiter gibt es?
Sorry, leider geheim. Absolut nicht geheim ist hingegen, ob die CIA
an Morden beteiligt ist. Keinesfalls, denn das ist ihr durch eine
Dienstanweisung ausdrücklich untersagt. Das muß man sich
im Original auf der Zunge zergehen lassen:
Does the Central Intelligence
Agency engage in assassinations?
No. Executive Order No. 12333 explicitly prohibits the Central Intelligence
Agency from engaging, either directly or indirectly, in assassinations.
Internal safeguards and the congressional oversight process assure
compliance.
"Wer's glaubt, wird
Ehrenmitglied der CIA!", sagte Katja, und wir lachten.
"Hollywood könnte dicht machen, wenn das stimmt."
Dann entdeckte ich endlich die Suchmaschine. Mit ihrer Hilfe kann
man im Archiv der CIA stöbern. Natürlich ist es nicht das
echte Archiv. Man liest das, was sie einen lesen lassen wollen. Frisiertes
Material. Suchbegriff Germany. Klima: gemäßigt und maritim;
kühl und trübe, feuchte Winter und Sommer, manchmal warme
tropische Winde, hohe relative Luftfeuchtigkeit. Aha. Bundeskanzler:
Helmut Kohl ...
Katja lachte. "Es scheint sich um ein sehr altes Archiv zu handeln!"
Als nächsten Suchbegriff tippte ich Berlin Connection ein. Und
wurde fündig. Berlin Connection ist das Codewort für...,
las ich, drückte sofort die rechte Maustaste und orderte "save
as".
"Lädst du das etwa?" fragte Katja, plötzlich sehr
ernst.
"Was sonst?"
"Bist du verrückt geworden?"
Sie zerrte mir die Maus aus der Hand, klickte auf den DFÜ-Netzwerkmonitor
und trennte die Verbindung. Ich war sprachlos.
"Es ist gefährlich, einen Geheimdienst per Internet zu besuchen",
erklärte sie. "Während man das belanglose Zeug lädt,
das sie einem anbieten, sehen sie sich in deinem Computer um."
"Kann schon sein", gab ich zu, "falls das technisch
möglich ist. Steht denn etwas Geheimes auf deiner Festplatte?
Und falls ja: Meist du, die CIA interessiert sich dafür?"
"Erstens: Es ist technisch möglich", dozierte Katja.
"Zweitens: Es gibt zwei oder drei Texte, von denen ich nicht
möchte, daß jemand sie liest. Nicht mal du, und schon gar
nicht ein Geheimdienst. Und drittens: Dienste interessieren sich für
alles. Unsere Stasi hat sogar Wäscherechnungen archiviert. Eure
NSA ist keinen Deut besser."
"Unsere? Ich bin Engländer", erinnerte ich sie. "Aber
du hast natürlich recht", lenkte ich ein. "Falls sie
wirklich automatische Fangschaltungen besitzen, ist es besser, man
geht ihnen aus dem Weg."
"Was ist denn angekommen?" fragte sie und starrte auf den
Bildschirm.
Berlin Connection ist das
Codewort für eine Organisation, die in den Zeiten des Kalten
Krieges von Ost- und Westagenten gegründet wurde. Sie diente
nicht dem Interesse der Staaten oder Dienste, sondern einzig denen
der Beteiligten. Bekannte Mitglieder sind Arnfried Wolff-Glogowski
(alias "Jäger", geboren 1953 in Neubrandenburg), zuletzt
Hauptmann im Ministerium für Staatssicherheit der DDR, derzeit
Regionalpolitiker einer postkommunistischen Partei (Party of Democratic
Socialism or PDS); Herrmann Michalke (geboren 1941 in Breslau), bis
1964 Leutnant im MfS, seitdem in Westberlin, Inhaber von "Michalkes
Bratwursthimmel", wegen Spionageverdacht vor Gericht, Freispruch,
1989 verschollen und für tot erklärt; Laurent Leterrier
(geboren 1948 in Reims), ehemals in Berlin tätiger V-Mann des
französischen Auslandsgeheimdienstes DGSE (Direction générale
de la sécurité extérieur), 1990 ausgemustert
(Verdacht der Spionage für KGB und CIA), seitdem in verschiedenen
Berufen und verschiedenen Ländern, derzeit mit Green Card in
den Vereinigten Staaten, Inhaber von "Michalkes Bratwursthimmel"
am Union Square, New York. Der Kopf der weit verzweigten kriminellen
Organisation und die weiteren Mitglieder konnten bisher nicht ermittelt
werden. 1989 gelang durch die Aktivitäten eines Außenseiters
der bisher größte Schlag gegen die Berlin Connection. Der
brit...he Foto raf Ro r P n
Transfer interrupted!
"Typisch. An der spannendsten
Stelle ist Schluß", sagte ich.
"Das ist doch schon eine ganze Menge", widersprach Katja;
es war ihr peinlich, daß sie die Verbindung getrennt hatte.
"Wir wissen jetzt", erklärte sie, "daß die
CIA sich mit der Berlin Connection befaßt hat. Zweitens: Sie
hatten weniger Erfolg dabei als du, denn den größten Schlag
haben nicht sie geführt. Und drittens: Wer ist Leterrier?"
"Wolltest du mal Lehrerin werden?"
"Ich bin nur gründlich. Wer ist Leterrier?"
"Dem bin ich nie von nahem begegnet, aber die Polizei hat mir
ein Foto von Michalkes dickstem Freund vorgelegt, auf dem ich ihn
identifizieren konnte. An dem Morgen, als du Brötchen holen wolltest
und entführt wurdest, hat er vor deinem Haus herumgelungert und
mich beobachtet. Ich glaube, er hat mich sogar fotografiert. Ein ganz
schlimmer Finger, haben sie gesagt, aber der Franzose war ebenso verschwunden
wie sein deutscher Kumpan. Sie hatten ihn in Verdacht, Michalkes Leiche
beseitigt zu haben."
"Leterrier aus Frankreich. Michalke aus Westberlin, Jäger
aus Ostberlin", sagte Katja. "Ich dachte, die Stasi hat
mich entführt. Dabei war es eine internationale Bande!"
"Apropos Jäger. Wieso heißt der auf einmal Wolff-Glogowski?"
"Das wußtest du nicht? Na klar, du liest in London sicher
keine deutschen Zeitungen. Der Typ wollte in die Politik, aber er
ist über seine Vergangenheit gestolpert. Das war diesen Winter.
Ich glaube, seine Partei hat ihn rausgeworfen. Das ging durch alle
Zeitungen, weil er eine stadtbekannte schillernde Figur ist. Zog als
Lebemann durch alle Spielbanken und plauderte sehr gewandt über
Menschenrechte. Er soll sogar eine Affäre mit unserer Justizsprecherin
gehabt haben. Wurde natürlich dementiert, also ist es wohl wahr."
"Na toll. Ich frage mich, weshalb die CIA nur die drei Leute
namentlich kennt, die auch mir begegnet sind. Ich habe alles in meinem
Tagebuch notiert. Auf simplem Papier, nicht in einem Computer, geschweige
denn online. Wie sind sie in den Besitz meiner Aufzeichnungen gekommen?"
"Die Geburtsdaten hast du sicher nicht gewußt, oder? Wahrscheinlich
haben sie ihre Informationen von der deutschen Polizei", versuchte
sie, mich zu beruhigen.
"Das sagt mir mein Verstand auch, aber mein Gefühl rebelliert
dagegen. Ich fürchte, die CIA interessiert sich nicht nur für
die Berlin Connection, sondern auch für mich!"
"Ach, Roger!" sagte Katja.
4
Einen so mißtrauischen
Menschen wie Gert Arnold habe ich selten getroffen. Er ist freier
Journalist und hat den kleinen Artikel über Michalke geschrieben,
den ich im Internet-Archiv des Tagesspiegel entdeckte. Wir saßen
in einer kleinen Kreuzberger Kneipe beim Bier, doch über seine
Quellen mochte er mir nichts verraten. Wenn die Presse ihre Informanten
nicht schützt, werde es bald keine interessanten Informationen
mehr geben, sagte er. Und es handle sich bei der Nachricht vom Überleben
Michalkes um ein Gerücht, jedoch kein völlig unbegründetes.
Weshalb ich denn so sehr daran interessiert sei. Ein Bratwursthändler
wollte Sie erschießen? Ach, tatsächlich? Und dabei ist
er vom Dach gestürzt? Klingt sehr wahrscheinlich. War das Maschinengewehr
zu schwer und hat ihn in die Tiefe gezogen? So, nur eine Pistole!
Naja, einem schwächlichen Menschen wird selbst eine Flaumfeder
zur drückenden Last.
Um die Kette seiner Witzeleien zu zerreißen, gab ich ihm zwei
eng beschriebene Blätter. "Die ganze Geschichte in Kurzfassung",
sagte ich. "Notiert für den Untersuchungsausschuß
gegen die Berlin Connection."
Arnold nahm das Papier und überflog es.
Aussage zur
Berlin Connection
Von Roger Penrose
Am 10. November
1989 fuhr ich im Auftrag des "Geographic Journal" in meiner
Eigenschaft als freiberuflicher Fotograf nach Berlin (West), um einige
Sehenswürdigkeiten zu fotografieren. Der Auftrag hatte mit der
Grenzöffnung nichts zu tun, wurde aber dadurch beeinflußt.
Neben "Michalkes Bratwursthimmel", einem Imbißwagen
an der Mauer zwischen Potsdamer Platz und Brandenburger Tor, fotografierte
ich eine Katze. Diese saß auf einer verschlossenen hölzernen
Kiste neben einem knapp halbmeterhohen, runden Blechbehälter
von etwa 30 Zentimeter Durchmesser. Solche Büchsen wurden, wie
ich später herausfand, in Rußland zum Transport von Filmen
benutzt. In dieser Büchse befand sich mit Sicherheit kein Film,
denn er strahlte radioaktiv, was dazu führte, daß der Film
in meinem Fotoapparat beschädigt wurde. Die Fotos habe ich vor
einem halben Jahr dem Untersuchungsausschuß übergeben.
Der Behälter ist nicht mehr darauf zu sehen.
Im Verlauf des Tages lernte ich die Ostberlinerin Katja Damm kennen
und besuchte sie in ihrer Wohnung am Prenzlauer Berg. Am nächsten
Morgen wurde sie beim Brötchenholen entführt. Einen der
Entführer identifizierte sie später anhand von Fotos als
Laurent Leterrier, einen französischen Mehrfachagenten. Der andere
ist ihr unbekannt; auf Grund seines leichten Akzents hielt sie ihn
für einen Russen. Er konnte sich fließend mit Leterrier
in dessen Muttersprache verständigen.
Ich erhielt in der Wohnung von Katja Damm einen Anruf, in dem mir
bedeutet wurde, wenn ich sie lebend wiedersehen wolle, solle ich zur
Aussichtskuppel des Ostberliner Fernsehturms kommen. Dort erwartete
mich ein Herr, der sich als Jäger vorstellte, Mitarbeiter des
Ministeriums für Staatssicherheit. Es war, wie inzwischen allgemein
bekannt, Hauptmann Arnfried Wolff-Glogowski. Er verlangte meinen Fotoapparat.
Ich trug ihn in einer Tasche, die ich bei mir führte, so daß
er ihn nicht sehen konnte, und behauptete, daß ich gar keinen
Fotoapparat besitze. Er fiel nicht darauf herein und stellte mich
relativ unverblümt vor die Alternative, die er am Telefon schon
angedeutet hatte: Ich solle ihm meine Fotos und den Film übergeben,
anderenfalls könne Fräulein Damm etwas zustoßen. Er
brachte mich in einem Wartburg mit livriertem Chauffeur zum Checkpoint
Charlie. Nun war ich natürlich neugierig, was ich fotografiert
hatte; meines Wissens war nichts von Interesse für die Staatssicherheit
dabei. Ich ließ den Film in einem kleinen Fotoladen nahe meinem
Hotel am Hermannplatz entwickeln. Ich bemerkte die Lichtflecken und
konnte sie mir nicht erklären. Wie ein Materialfehler sahen sie
nicht aus. Erst die spätere polizeiliche Analyse klärte
mich darüber auf, daß es sich um Strahlenschäden handelte.
Während ich über den Bildern grübelte, drang Herrmann
Michalke, der Inhaber von "Michalkes Bratwursthimmel", mit
einer Pistole in mein Hotelzimmer ein und verlangte die Bilder. Mir
gelang die Flucht aus dem Zimmer, ich versteckte mich auf dem Dach,
und bei der Suche nach mir stürzte er ab. In Panik verließ
ich das Hotel, ohne mich um Michalke zu kümmern. Als ich klarer
denken konnte, machte ich mich auf die Suche nach Katja Damm. Mir
wurde ein Hinweis von ihren Entführern zugespielt, daß
ich sie in der Kanalisation suchen solle. Der Einstieg war übrigens
jene vermeintliche Holzkiste, auf der die Katze gesessen hatte. Katze
und Blechbüchse waren inzwischen verschwunden. Obwohl ich mir
einen Plan der Kanalisation hatte besorgen können, irrte ich
durch die dunklen, feuchten, stinkenden Gänge. Ich mußte
einen Buchstabencode an einer Tür knacken und gelangte in einen
Bunker, in dem Katja Damm sich tatsächlich befand. Sie war geknebelt
und an einen Stuhl gefesselt. Im Keller standen auch dutzende von
den russischen Filmbüchsen, die jedoch nicht strahlten, wie die
Untersuchung von Katja und mir am nächsten Tag ergab. Ich befreite
Katja. Über ein dort hängendes Walkie-Talkie nahm ich Kontakt
zu den Entführern auf. Der Mann auf der anderen Seite war eindeutig
Jäger. Er wies mich darauf hin, daß gleich eine Bombe explodieren
würde und ich es leider nicht geschafft hatte. "Das war
es dann, Mister Penrose." Ich fand tatsächlich eine Bombe,
hütete mich aber vor dem Versuch, sie zu entschärfen, denn
davon verstehe ich nichts. Katja hatte inzwischen eine Tür entdeckt,
und mit einem Schlüssel, den ich bei mir führte, gelang
es mir, das einfache Schloß zu öffnen. Wir rannten davon.
Als wir im Freien waren, explodierte die Bombe, eine riesige Staubwolke
entstand. Menschen kamen nicht zu Schaden. Im Vereinigungstaumel,
der nur ein paar hundert Meter weiter stattfand, fiel die Explosion
nicht einmal auf.
Am nächsten Tag erstattete ich Anzeige bei der Polizei. Die Leiche
von Michalke wurde nicht gefunden, doch er wurde für tot erklärt.
Die Polizei gebrauchte den Begriff "Berlin Connection" und
nannte mir als weiteres Mitglied Leterrier. Ihrer Erkenntnis nach
befaßte sie sich mit Ost-West-Schmuggel. Die Mitglieder im Osten
waren bei der Westberliner Kripo unbekannt, und denen im Westen hatte
sich bisher nichts beweisen lassen. Und jetzt war Michalke vermutlich
tot, Leterrier hatte sich nach Frankreich abgesetzt. Auf Jäger
hatten sie keinen Zugriff. Die Ermittlungen wurden eingestellt ...
Arnold legte die Papiere
auf den Tisch, ohne die letzte Sätze zu lesen. "Tolle Story"
sagte er. "Ein bißchen nüchtern notiert. Die sollten
Sie kräftig ausschmücken!"
"Weshalb haben Sie sich überhaupt mit mir getroffen, wenn
Sie mir kein Wort glauben?"
"Um meinen Spaß zu haben. Und ich muß zugeben, daß
Sie meine Erwartungen an Ihre Unterhaltsamkeit weit übertreffen."
"Was hat Sie darauf gebracht, daß ich Sie amüsieren
könnte?"
"Natürlich Ihr Anruf. Sie haben behauptet, Engländer
zu sein, ohne sich die Mühe zu machen, wenigstens das R zu rollen.
Sie sprechen besser deutsch als ich, ohne jeden Fehler oder Dialekt."
Ich hielt ihm meinen Reisepaß unter die Nase und sagte: "Ich
habe Verwandte in Deutschland."
Der Paß, immerhin, war ein Beweis, also fragte er ohne jeden
ironischen Unterton: "Sind Sie Deutschbrite?"
"Das gerade nicht, aber meine Tante hat einen Deutschen geheiratet.
Ich bin zweisprachig aufgewachsen, denn ich war als Kind und Jugendlicher
oft hier."
"In Berlin?"
"Erst in Hamburg, dann in München."
Unhörbar ratterte es in seinem Gehirn, ich sah es ihm an, endlich
verschwand das ewige Grinsen aus seinem Gesicht. "Lucy Dahrenbeck
ist Ihre Tante?" fragte er.
Nun war ich verblüfft. "Sie kennen meine Tante?"
"Nicht persönlich", sagte er. "Aber den Namen
kennt jeder. Sie gehört zu den oberen Eintausend. Besitzerin
der Südstrom AG. Wenn ich mich recht entsinne, ist sie eine geborene
Penrose." Auf einmal war er wie ausgewechselt. "Dann stimmt
das etwa alles, was Sie da aufgeschrieben haben?"
"Freut mich, daß meine noblen Verwandten mich glaubwürdiger
machen. Natürlich stimmt alles. Michalke starb bei dem Versuch,
mich zu ermorden. Das war am 11. November 1989. Einen Sturz vom Dach
überlebt niemand."
"Kommt darauf an, wie hoch das Dach ist."
"Die übliche Berliner Traufhöhe. Achtzehn Meter, schätze
ich. Oder zwanzig. Wer sagt, daß er noch lebt?"
"Mein Gewährsmann klang ziemlich glaubwürdig, obwohl
er ein stadtbekannter Windhund und Spieler ist."
"Jäger?" fragte ich.
Der Journalist nickte. "Arnfried Wolff-Glogowski."
"Er hatte Michalke den Mordauftrag erteilt!"
"Da irren Sie sich. Der Mann war bei der Staatssicherheit der
DDR, und das war ganz gewiß ein übler Haufen, aber im Unterschied
zu vielen anderen Geheimdiensten in Ost und West gehörte Auftragsmord
nicht zu den Spezialitäten."
"Vielleicht hat er den Auftrag ja nicht von Amts wegen erteilt,
sondern rein privat - als Mitglied der Berlin Connection ..."
"... deren Existenz bis heute nicht bewiesen ist", unterbrach
er mich.
"Immerhin gibt es einen Untersuchungsausschuß des Bundestages."
"Ja, klar", sagte er, aber der Unterton, den er nicht ganz
verbergen konnte, klang wie "Politiker reden viel, wenn der Tag
lang ist". Er war Lokalreporter, der Ausschuß tagte derzeit
noch in Bonn, und die dickste Schlagzeile, die er bisher produziert
hatte, war der Hinauswurf seines Vorsitzenden vor einem halben Jahr
gewesen; die Gründe dafür waren geheim. Bert Mann von der
CDU war durch Siegfried Fugger von der CSU ersetzt worden. Stellvertreter
blieb Anwalt Burckhardt Burbach von der SPD.
"Ich bin Zeuge dieses Ausschusses", sagte ich. "Vor
einem halben Jahr habe ich Burbach Fotos übergeben, und jetzt
bin ich nur wegen der Aussage, die Sie gelesen haben, in Deutschland."
"Burbach? Der Anwalt? Der sitzt im Untersuchungsausschuß?"
Wenn ein bekannter Name ins Spiel kam, wurde Arnold wach. Saß
ein Promi im Ausschuß, dann mußte die Berlin Connection
existieren. Auf der Stelle witterte er eine bebilderte Story für
sich und fragte nach den Fotos.
Die seien leider nicht verwendbar, erklärte ich ihm. Das entscheidende
Foto und einige auf dem Film angrenzende seien verstrahlt. Ich hatte
etwas Radioaktives fotografiert, ohne es zu wissen, und das sei zwar
für den Ausschuß interessant, aber nicht reproduktionsfähig.
Im übrigen war ich nicht scharf darauf, interviewt zu werden.
Ich wollte etwas von Arnold wissen und lenkte ihn wieder auf seine
Quelle, über die er dem Neffen von Lucy Dahrenbeck selbstverständlich
detailliert Auskunft gab.
Es war kurz vor Jägers Entlarvung gewesen, als er sich noch allerorten
sehen ließ und auch gern gesehen war. Er kam auf jedem Parkett
zurecht wie ein echter Mann von Welt. Die Weltläufigkeit hatte
er wohl in Spielkasinos gewonnen, wo er oft bis an die eigene Schmerzgrenze
hinter dem Erfolg her war. Daß er jedoch in einigen Kasinos
wegen Zahlungsunfähigkeit Hausverbot habe, war ein Gerücht;
Arnold hatte es überprüft. Spielbanken lebten von Kunden
wie ihm, und anschreiben ließen sie prinzipiell nicht, er konnte
also nur verspielen, was er mitbrachte. Wie dem auch sei, auf einer
bunten Gesellschaft mit regionalpolitischem Hintergrund sei das Gespräch
auf Michalke gekommen, den verschollenen Bratwurstkönig.
"Jäger wußte etwas beizusteuern. Unlängst habe
er einen alten Bekannten getroffen, der ihm erzählte, daß
er Michalke begegnet sei, nein, Irrtum ausgeschlossen, sie kannten
sich gut und haben miteinander gesprochen. Michalke sei im Ausland
untergetaucht wegen einer dummen Geschichte, die nun längst verjährt
sei. Er erwäge die Rückkehr. Tja, Totgesagte leben länger,
zitierte Glogowski seinen ehemaligen Generalsekretär. Mehr wußte
er auch nicht, aber mir reichte es für den kleinen Artikel."
"Wer hat das Gespräch auf Michalke gebracht?" fragte
ich.
"Keine Ahnung. Den Anfang habe ich nicht mitbekommen."
"Wußte Jäger, daß Sie von der Presse sind?"
"Er kennt mich."
"Dann ist alles klar. Michalke selbst hat mit Hilfe seines alten
Kumpels Jäger die Nachricht von seinem Überleben lanciert,
um die Reaktionen zu testen. Wahrscheinlich will er wirklich nach
Deutschland zurückkehren. Wie waren denn die Reaktionen?"
"Auf den Artikel gab es bis heute gar keine. Bei der Gesellschaft
erinnerte man sich gern an ihn. Ein echtes Berliner Original eben.
Hätten wir abgestimmt, wäre die Mehrheit für Rückkehr
gewesen. Ich weiß aber nicht, wie die Justiz es sieht. Wenn
der Mordversuch an Ihnen aktenkundig ist, dann ist er mit Sicherheit
noch nicht verjährt."
"Er hat mich nicht angefaßt und kam nicht zum Schießen.
Er wollte meine Fotos haben. Und das läßt sich als Diebstahl
mit Waffe hinstellen. Ich habe im deutschen Strafgesetzbuch nachgesehen.
Das verjährt nach zehn Jahren, und die sind fast herum."
"Sie meinen, ich habe mich zu Michalkes Werkzeug machen lassen?"
"Wenn Sie das so sehen wollen ..."
Er wollte es so sehen und war sehr zerknirscht, erzählte ich
Katja am Abend. Es war unser letzter, und wir waren noch immer voreinander
befangen, also retteten wir uns in Sachdiskussionen.
"Wie ist es möglich, daß er den Sturz überlebt
hat?" fragte sie.
"Indem er nicht bis unten gefallen ist. Das ist die einzig mögliche
Erklärung. Balkons gibt es dort zwar nicht, aber vielleicht stand
ein Fenster offen, und er konnte sich festhalten und irgendwie hineinklettern.
Das wäre zwar auch ein Wunder, aber kein so großes wie
das Überleben des Aufschlags im Hof. Um sich festzuhalten, mußte
er die Pistole fallen lassen. Das hat mich wahrscheinlich gerettet,
sonst hätte er mich auf meinem Weg nach unten abgefangen und
es noch einmal versucht. Ohne Waffe war er mir nicht gewachsen. Er
hat sich versteckt, bis ich verschwunden war, dann hat er seine Pistole
aus dem Hof geholt und ist geflohen. Gleich bis ins Ausland, sicher
ist sicher."
"Wir sollten doch noch mal bei der CIA nachsehen, vielleicht
wissen die mehr."
"Habe ich längst getan", bekannte ich.
"Was? Wann denn?"
"Gleich neulich, als du schon schliefst. Ich wollte den Rest
des Textes lesen. Es gab ein überraschendes Ergebnis: Not found.
Ich sollte präzisere Angaben machen, belehrte mich die Suchmaschine."
"Du hast hinter meinem Rücken gesurft? Auf meinem Computer?
Ach, Roger!"
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