1994 Der blanke Wahn

Verlag Eulenspiegel - Das Neue Berlin

Klappentext:

Joseph Kowalski ist Student und knapp bei Kasse. So läßt er sich für ein gutes Honorar auf das Experiment eines Gerichtspsychiaters ein. Geprüft werden soll, wie sich reale Haftbedingungen auf Normalbürger auswirken. Als Kowalski dann wegen Terrorismusverdacht verhaftet wird, glaubt er, das gehöre zum verabredeten "Spiel", und als Beamte ihn massiv unter Druck setzen und den Quälereien sadistischer Mithäftlinge ausliefern, vermutet er eine Verwechselung. Es braucht seine Zeit, bis er ahnt, daß es um sein Leben gehen könnte.

Ein Thriller voller überraschender Wendungen.

 

Buchcover "Der blanke Wahn"

Auszug:

Dreitagebuch
Nur die Lügen glaubt man mir. Vielleicht ist das sogar verständlich. Ich jedenfalls hätte Mühe, meine Geschichte zu glauben, wenn ein anderer sie mir erzählte. Aber ich habe sie erlebt, ich erlebe sie noch immer, der Alptraum dauert an, und ein Ende ohne Schrecken ist kaum vorstellbar.
Was mir hier geschieht, muß ich aufschreiben und weiß doch jetzt schon, daß Skepsis die Reaktion sein wird. Dieser Bericht entsteht auf Anraten meines Anwalts. Meine Freilassung hat zur Voraussetzung, daß ich die Adressaten des Textes - Polizei, Staatsanwaltschaft, Gericht - von der Wahrheit überzeugen oder sie wenigstens mit meinen Erlebnissen menschlich anrühren kann. Ich werde mich zur Logik zwingen und die Chronologie der Ereignisse wahren.
An jenem Tag, als das Verhängnis begann, saß ich daheim am Computer und schrieb an meiner Dissertation. Als es klingelte, hatte ich keine Lust, mich unterbrechen zu lassen, aber der Störer blieb hartnäckig. Ich sicherte den Text auf der Festplatte und öffnete die Wohnungstür. Der Mann im Hausflur war mir unbekannt. Er mochte zehn Jahre älter als ich sein. Sein gar zu konservatives Outfit -zweiteiliger Anzug in Rotbraun und Grau, helles Hemd, Krawatte, schwarzer Aktenkoffer mit Zahlenschloß in der linken Hand - harmonierte nicht recht mit seiner jugendlichen Erscheinung. Selbst die Designerbrille, für sich betrachtet oder in einem anderen Gesicht eher extravagant, betonte die maskenhafte Seriosität seiner Erscheinung. Dazu noch das ungemein gewinnende Lächeln. Ein Versicherungsvertreter, dachte ich, noch ehe er ein Wort gesagt hatte.
»Herr Joseph Kowalski?« fragte er, und als ich dies bestätigte, stellte er sich vor: »Doktor Blome-Bernhardt vom Institut für forensische Psychologie.«
Ich war durch seine Erscheinung so sehr auf Vertreter festgelegt, daß ich es gar nicht registrierte.
»Ich nehme nie an Umfragen teil«, versuchte ich ihn abzuwimmeln.
»Das ehrt Sie«, sagte er und strahlte mich ohne Ironie an. »Nein, es geht um etwas ganz anderes. Sozusagen um die Möglichkeit, mühelos Geld zu verdienen.«
»Ich kaufe auch nichts.«
Noch immer war ich in Gedanken bei meiner Dissertation und nicht auf das Gespräch konzentriert.
»Keine Angst, Herr Kowalski, Sie sollen weder etwas kaufen noch etwas verkaufen. Ihr Betreuer, der Professor Hohmann, sagte mir. Sie seien für mein Vorhaben genau der Geeignete. Ich werde Ihre Zeit nicht durch ein ungebührliches Ansinnen vergeuden.«
Da hatte er endlich einen Namen genannt, der meine Sperre durchbrach. Er war kein Vertreter, sondern Gerichtspsychologe. Einer meiner Dozenten hatte ihn zu mir geschickt. Ein Dienstbesuch, keine Belästigung. Ich bat den Gast in meine Wohnung. Sie besteht - neben der winzigen Küche und einem noch kleineren Bad mit Duschkabine - nur aus einem einzigen Raum. Also setzte ich mich wieder an den Schreibtisch, und er nahm davor in einem meiner beiden Sessel Platz. Wehmütig betrachtete ich den Computer. Gerade hatte sich das Programm zum Schonen des Bildschirms eingeschaltet. Große bunte Fenster rasten auf mich zu wie die Enterprise durchs Weltall. Ich wollte endlich weiterschreiben und blieb reserviert.
»Wenn mein Mentor Sie schickt«, sagte ich, »dann werden Sie wissen, daß ich meine Dissertation schreibe.«
»Selbstverständlich«, versicherte er mir und lächelte sehr freundlich.
Obwohl der Kerl so stockbürgerlich aussah, begann mich seine Ausstrahlung für ihn einzunehmen.
»Ich weiß sogar, worüber Sie schreiben«, führ er fort. »Über die Freiheit des menschlichen
Willens. Mir ist aber auch bekannt, daß Sie einen nicht unbeträchtlichen Teil Ihrer wertvollen Zeit für das Herumjobben und Geldverdienen vergeuden müssen.«
»So geht es den meisten Empfänger des BAFöG-Trinkgeldes«, sagte ich, äußerlich noch immer abweisend, innerlich bereits gespannt darauf, was er von mir wollte.
»Ist mir bekannt; schließlich habe ich auch mal studiert. Wenn Sie auf mein Angebot eingehen, dann kommen Sie zehnmal besser zurecht«, begann er seine Werbung.
»Entweder man kommt aus, oder man kommt nicht aus. Alles andere sind lediglich graduelle Unterschiede, die mich nicht sonderlich interessieren. Wenn es mir um Geld ginge, hätte ich nicht Philosophie studiert, sondern Computertechnik oder Management.«
»Ich bin autorisiert. Ihnen für Ihre einmonatige Mitwirkung in einem Forschungsprojekt ein Entgelt von 40 000 DM anzubieten.«
»Wen soll ich dafür umbringen?«
Er lächelte so herzlich, wie man über diesen alten blöden Witz nur eben lächeln kann, ohne sich einerseits unglaubwürdig zu machen oder andererseits den Wiederkäuer zum Kretin zu degradieren.
»Ich erwarte nichts als Ihre Bereitschaft, über mein Angebot unvoreingenommen nachzudenken.«
Angesichts der für mich phantastischen Summe gab ich meine Widerspenstigkeit auf.
»Was hätte ich zu tun?«
Da machte er den ersten Fehler in seinem Verkaufsgespräch - genau das war es, ein Verkaufsgespräch, auch wenn er mir Geld anbot und nicht abschwatzen wollte -, den ersten und wohl auch einzigen Fehler.
»Gut so«, lobte er. »Die Frage gefällt mir. Gleich zur Sache kommen, nicht lange drum herum reden.«
Sofort verschloß ich mich wieder.
»Ihre Antwort gefällt mir weniger. Sie sind der Frage ausgewichen.«
Für einen Augenblick wurde sein Lächeln fadenscheinig, aber aus der Ruhe ließ er sich nicht bringen.
»Darf ich Sie, ehe ich Sie einweihe, um eines bitten: daß Sie, sollten Sie mein Angebot ablehnen, darüber Stillschweigen wahren.«
»Es ist etwas Ungesetzliches?!« vermutete ich sofort.
»Ich bitte Sie!« verwahrte er sich und wurde sehr ernst. »Ich bin Gerichtsmediziner! Sollten Sie etwas entdecken, das mit dem Strafgesetz kollidiert, dürfen Sie sich auf keinen Fall an Ihr Wort gebunden fühlen. Niemals würde ich etwas Illegales decken oder von jemandem erwarten, daß er dies tut. Wenn ich auf absolute Geheimhaltung insistiere, geht es mir lediglich um den Schutz des Forschungsthemas vor der Öffentlichkeit und vor Kollegen, die mir zuvorkommen könnten. An die Öffentlichkeit werde ich mich selber wenden, wenn die Zeit dafür reif ist, das heißt, wenn die ersten Ergebnisse des Experiments vorliegen. Ich unterbreite Ihnen mein Projekt, und Sie haben die Freiheit, mitzumachen oder das Angebot auszuschlagen.«
»Akzeptiert.«
»Gestatten Sie mir zuvor noch ein paar persönliche Fragen? Nur um mich zu vergewissern, daß Sie tatsächlich der Richtige für mein Vorhaben sind.«
»Wenn die Fragen nicht zu persönlich werden.«
»Ihr Alter?«
»Siebenundzwanzig.«
»Woher stammen Sie?«
»Ich bin hier geboren und wohne neuerdings auch ausschließlich wieder hier, seit das Studium meine ständige Anwesenheit in Berlin nicht mehr erforderlich macht. Es ist ja nicht weit. Ich kann morgens hin- und abends zurückfahren.«
»Ihre nächsten Angehörigen?«
»Keine. Meine Eltern sind tot.«
»Mein Beileid. Haben Sie Geschwister?«
»Ich bin Einzelkind. Glücklicherweise.«
»Und sonstige Angehörige?«
»Ein Bruder meines Vaters. Der ist allerdings rübergegangen, ehe ich geboren bin. Ich habe ihn bisher nur zweimal zu Gesicht bekommen - im allgemeinen Vereinigungstaumel, das nächste Mal bei der Beerdigung meiner Eltern.«
»Haben Sie Freunde?«
»Freunde? Na ja ... Doch, irgendwie schon.«
»Sie meinen, es gibt ein paar Leute, die Sie mehr oder weniger häufig sehen, für die Ihnen aber die Bezeichnung Freunde etwas zu anspruchsvoll erscheint?«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Nur eine Frage noch, dann beginne ich mit dem Erklären. Haben Sie eine Frau oder Freundin?«
»Jetzt wird es mir zu persönlich.«
»Es ist doch nichts Ehrenrühriges, eine Freundin zu haben.«
»Nein, aber ich gehöre auch nicht zu den Typen, die sich mit ihren Eroberungen brüsten.«
»Nun gut, dann lassen wir es dabei bewenden.« Er räusperte sich. »Waren Sie schon mal im Gefängnis?«
Natürlich nicht, und das sagte ich ihm auch, verwundert darüber, daß er seine Erklärungen mit einer weiteren sehr persönlichen Frage eröffnete. Er nickte; es war nichts anderes zu erwarten gewesen. Trotzdem begann er mit einem Aber.
»Aber Ihnen ist gewiß bekannt, daß Häftlinge und auch Rechtstheoretiker und Psychologen über die Härten, ja, nennen wir es gar die Unmenschlichkeit des Strafvollzugs, klagen.«
Um der Korrektheit willen, weise ich daraufhin, daß ich kein Band mitlaufen ließ (und hätte ich's getan, so stünde es mir hier auf keinen Fall zur Verfügung). Ich gebe unsere Konversation aus der Erinnerung wieder - nach bestem Wissen und Gewissen. Mein Gedächtnis ist gut, ich bin dessen sicher, daß ich etliche Sätze wörtlich und alle wesentlichen dem Sinn nach notiert habe. Worauf ich verzichte, sind Floskeln, Wendungen, Laute, die zu jedem Gespräch gehören. An dieser Stelle steuerte ich sicher ein »Wem nicht« bei; auf solcherart Detailmalerei verzichte ich.
»Studien an Häftlingen belegen«, erklärte der Doktor, »daß die Klagen nicht ohne Substanz sind. Im Gefängnis scheint sich, vor allem bei langjährigen Strafgefangenen, ein Entmenschlichungsprozeß zu vollziehen. Der Verlust oder die starke Einschränkung von Kontakten zur realen Außenwelt läßt die Gefühle und übrigens auch die Intellektualität verkümmern. Aber Häftlinge sind, von einer Handvoll Justizirrtümer mal abgesehen. Kriminelle. Menschen, die auch in Freiheit ein Leben abseits der Normen der Gesellschaft führen. Menschen, die fähig waren, andere zu berauben, zu töten oder sie sonstwie zu schädigen. Vielleicht war es ja die von vornherein verkümmerte Intelligenz und Emotionalität, die sie zu ihren Taten trieb. Woran es uns gebricht für eine zwingende Untersuchung, die einzig Gesetzesänderungen bewirken könnte, woran es fehlt, sind Vergleichswerte. Was wir brauchen, sind durchschnittlich angepaßte Bürger, die bereit sind, für uns die Haftbedingungen zu testen. Menschen mit normalem Denken und Fühlen. Menschen wie Sie.«
»Ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstehe«, sagte ich, obwohl ich sicher war, ihn verstanden zu haben.
Geduldig präzisierte er: »Wir wollen feststellen, welche Auswirkungen die Haft auf unbescholtene Bürger hat.«
Mehr als ein »Hmm« fiel mir nicht ein; ich war schon fast weichgeklopft. Wodurch eigentlich? Ich begreife es bis heute nicht. Ich erinnere mich an das Gespräch, ich lese, was ich eben geschrieben habe, und ich begreife es dennoch nicht. War es sein Charisma? Oder sollte ich doch materieller orientiert sein, als ich von mir glaube?
Der Doktor ahnte wohl, daß er sein Ziel erreicht hatte, denn langsam erlaubte er sich auch wieder ein kleines Lächeln.
»Das Experiment sieht vor, daß die Freiwilligen - Sie wären, sofern Sie zusagen, natürlich nicht der einzige -, daß die Freiwilligen zu einem von uns noch festzulegenden Zeitpunkt in ein Gefängnis verbracht und dort einen Monat verwahrt werden. Sie sind dem normalen Gefängnisalltag ausgesetzt. Nach einem Monat kehren alle wieder in ihr gewohntes Leben zurück. Bestandteil des Experimentes sind zwei psychologische Untersuchungen - eine vorher, zur gründlichen Analyse der Persönlichkeit, die andere hinterher, um in der Lage zu sein, etwaige Veränderungen oder deren Ausbleiben festzustellen.«
»Wie viele Versuchskaninchen sind vorgesehen?« fragte ich.
»Fünfundzwanzig Freiwillige einstweilen.«
»Fünfundzwanzig?« Ich rechnete schnell aus: »Das kostet Sie eine Million!«
»Wir werden von zwei Ministerien gefördert«, sagte der Doktor, und sicher hätte er mir auch erzählt, von welchen, aber ich ließ ihn nicht ausreden. Wo der Haken sei, wollte ich wissen.
»Was für ein Haken?«
»Sie bieten mir 40 000 Mark an - fürs Nichtstun!« sagte ich ohne Umschweife. »Das wäre leichtverdientes Geld.«
»Nun ja«, er wiegte skeptisch den Kopf, hob dann beide Hände über die Tischplatte und ließ sie wieder sinken. »Die Bezahlung ist gut, weil das Experiment hoch angebunden ist. Sonderlich schwer wird es wirklich nicht, aber voraussichtlich nicht sehr angenehm. Einen Monat lang können Sie nicht selbst bestimmen, wann Sie aufstehen und wann Sie sich schlafen legen, Sie können nicht ins Kino oder ins Theater oder zur Disko gehen, und für Ihre Dissertation bliebe wenig Muße. Wahrscheinlich gar keine.«
Der Rattenfänger hatte mich.
»Einen Monat reduzierte Willensfreiheit aus freier Entscheidung«, versuchte ich eher ihn als mich zu überzeugen. »Danach könnte ich meine Dissertation in einem Ritt schreiben. Das klingt zu schön, um wahr zu sein. Ist das die Versteckte Kamera?«
Einen Moment lang fürchtete ich ernstlich, die Tür werde nun aufpendeln und ein lachendes, schwatzendes Fernsehteam ausspeien, das meine Leichtgläubigkeit zur Unterhaltung der Mit- und Nachwelt aufgezeichnet hatte. Denn so ähnlich hatten meine Träume ausgesehen. Eine Fee erscheint als Botschafterin des Landes, in dem Wünsche noch erhört werden, und versorgt mich mit den materiellen Mitteln, die es mir erlauben, die Dissertation in spätestens einem halben Jahr fertigzustellen. Das wäre leicht zu schaffen, würde mich nicht der Zwang zum Geldverdienen an kurzer Leine immer wieder aus dem Himmel brillanter Gedankenspiele auf den profanen Boden des Alltags herunterzerren. Mein überdurchschnittlich hohes Arbeitstempo würde es der Universität sicher erleichtern, in mir den geeigneten Kandidaten für eine Assistentenstelle oder wenigstens für einen hochschulnahen Honorarjob zu erkennen. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil angesichts der Bewerberschwemme. Der Vorschlag könnte es mir erleichtern, mein künftiges Leben zu meistern. Wenn er echt war und kein Scherz.
»Ich bitte Sie!« beruhigte mich der Doktor mit sonorer Stimme.
»Können Sie mir das schriftlich geben?«
»Selbstverständlich haben wir einen Vertrag vorbereitet.« Er öffnete seinen nappaledernen Aktenkoffer, indem er so lässig wie zügig an den beiden Zahlenschlössern drehte, und holte eine Handvoll Blätter hervor. Der Vertrag in fünf Exemplaren. Eines davon, bestehend aus drei mittels einer Heftklammer verbundenen Blättern, schob er mir über den Tisch zu. »Lesen Sie ihn sich genau durch«, empfahl er mir. Leider folgte ich seiner Empfehlung nicht. Ich habe, wie die meisten Menschen, ein gestörtes Verhältnis zu Formularen. So überflog ich den Text nur und stellte fest, daß aus dem juristischen Kauderwelsch etwa das hervorging, was er mir in einfacheren Worten erläutert hatte. So erinnere ich mich nicht einmal genau an den Kopf des ersten Bogens. Institut für forensische Psychologie stand darauf, blaugedruckt, aber die Anschrift seiner Arbeitsstätte entging mir. Falls ich überhaupt daran gedacht haben sollte, dann, daß ich das Institut ja spätestens bei der ersten psychologischen Untersuchung zu Gesicht bekommen würde. Viel mehr interessierten mich die Zahlungsmodalitäten. Die Hälfte der Summe - also 20 000 DM; die Zahl stand tatsächlich da - wurde bei Unterzeichnung des Vertrages fällig, die zweite Hälfte binnen 14 Tagen nach Entlassung aus der Haft. Zu überweisen auf das Konto ... Die Nummer und die Bankleitzahl waren frei gelassen. Unterzeichnet hatten für das Institut jemand mit völlig unleserlichem Namenszug sowie der Doktor Blome-Bernhardt, dessen Schrift kaum besser, dessen Name jedoch in Klammern darunter gedruckt stand. Auf der anderen Seite war der Raum für die Unterschrift des Vertragspartners freigelassen. Unter der gepunkteten Linie stand in Klammern: Der Freiwillige. Alles schien seine Richtigkeit zu haben. Ich brummelte Zustimmung, und der Doktor nickte erfreut. Er legte einen Stift auf den Vertrag.
»Moment«, bremste ich ihn, obwohl ich das Unterzeichnen kaum noch abwarten konnte.
»Wann wird das Experiment denn stattfinden?«
»So bald wie möglich«, versicherte er. »Wir sind am zügigen Verlauf des Experiments mindestens so interessiert wie Sie am Fertigstellen Ihrer Dissertation.«
Präziser wurde er nicht, und ich bohrte nicht nach. Ich ergriff den Kugelschreiber. Als ich unterzeichnet hatte, schlug er das Innenblatt des Vertrages auf und deutete darauf.
»Ich möchte Sie noch einmal auf den Paragraphen sieben hinweisen«, sagte er und klopfte mit dem Zeigefinger auf die Ziffer. »Absolute Geheimhaltung gegenüber jedermann. Also auch nahestehenden Personen gegenüber. Sie müssen für den einen Monat eine Legende erfinden. Auslandsrecherchen für Ihre Dissertation oder Urlaub. Vielleicht haben Sie in einem Preisausschreiben eine Reise gewonnen. Das bleibt Ihrer Phantasie überlassen, und ich denke auch, wir dürfen diesen Einsatz für unser Honorar erwarten.«
»Ich kann doch meine Freundin nicht beschwindeln«, wandte ich ein.
Da lächelte er sehr breit und sehr herzlich, und zum erstenmal schwang Ironie in seiner Stimme mit.
Glauben Sie, Fräulein Weisbach sagt Ihnen immer die Wahrheit?«
Zugegeben: Ich fühlte mich überrumpelt. Da hatte er mich gefragt, ob ich eine Freundin habe, und kannte sogar schon deren Namen. Einen Moment lang wurde er mir unheimlich. Aber ich wandte nichts mehr ein und unterzeichnete auch die anderen vier Exemplare des Vertrages.
Dabei und danach redeten wir nicht mehr viel miteinander. Es war, meinte ich, alles gesagt. Wir verblieben so, daß ich in den nächsten Tagen von ihm hören würde.

Als er gegangen war, betrachtete ich noch einmal den Vertrag. Genaugenommen las ich mir nur das vereinbarte Honorar durch. Es war nicht mehr geworden und nicht weniger. Mir standen 40 000 DM ins Haus, und ich sollte es Ellen nicht mitteilen? Das war eine Bedingung des Vertrages, die ich nicht einzuhalten gedachte. Trotzdem ließ ich die Blätter zwischen den Bergen meiner Schnellhefter verschwinden, damit Ellen ihn nicht zufällig fand. Den Zeitpunkt meiner Offenbarung wollte ich selber bestimmen.
Ich wandte mich wieder meiner Arbeit zu, brachte die Fenster im Weltraum zum Verschwinden und versuchte, mich zu konzentrieren. Das gelang mir schneller als erwartet. Die Freiheit des menschlichen Willens ist nun mal ein sehr fesselndes Thema, jedenfalls für mich. Mit meiner Betrachtungsweise verstoße ich gegen das, was dem Zeitgeist als opportun erscheint. Als Sklavenmoral erscheint es mir, die Freiheit mit der Einsicht in die Notwendigkeit gleichzusetzen. Nichts dagegen, aus Einsicht in Notwendigkeiten vernünftig zu handeln. Die wahre Freiheit allerdings besteht darin, sich wider die Vernunft gegen Notwendigkeiten zu entscheiden. Diese kostbare Möglichkeit der Willensfreiheit ist dem Menschen und nur ihm gegeben. Ich berauschte mich an meinen Worten. Als am späten Abend Ellen kam, hatte ich den Vertrag vergessen.
Sie war müde, weigerte sich aber, ins Bett zu gehen. Unbedingt wollte sie mir ein Video vorführen. Sie hatte es von der Probe mitgebracht. Ellen ist Schauspielstudentin und steht kurz vor dem Examen. Weshalb ihr Studienjahr die Abschlußinszenierung ausgerechnet an unserem Theater macht, weiß ich nicht. Für mich war es ein glücklicher Zufall, denn dadurch lernte ich Ellen kennen. Sie stammt aus einem so kleinen wie noblen Kurort im Schwarzwald und wohnt hier bei Verwandten. Kennengelernt haben wir uns vor einem Vierteljahr. Seitdem ist sie fast jeden Abend und an Wochenenden auch tagsüber bei mir.
Der Regisseur inszenierte den Hamlet. Ich liebe dieses Stück, und da ich noch keine Zeit gehabt hatte, zu den Proben zu gehen, war ich schnell überredet, mir das Video vom zweiten großen Durchlauf anzusehen - dem ersten Vorspiel in der Öffentlichkeit; ein paar Angehörige hatten im Theater gesessen, erzählte mir Ellen. Ihre Quartiergeber allerdings nicht. Die waren eher an Ellens Mietzuschuß als an ihrer Schauspielerei interessiert.
Dicht nebeneinander saßen wir in den Sesseln. Kuscheln mochte sie allerdings nicht; das lenke meine Aufmerksamkeit zu sehr ab. Ich solle mich konzentrieren. Das tat ich, oder ich versuchte es zumindest. Meine Arbeit ging mir nicht aus dem Kopf, und die Inszenierung war nicht dazu angetan, sie mich vergessen zu lassen.
Daß Shakespeares Charaktere in zeitgenössischen Kostümen herumlaufen, ist man heutzutage gewohnt. Hamlet im Parka, Claudius in Nadelstreifen, Rosenkranz und Güldenstem in Ledermänteln und mit Schlapphüten. Ophelia in Minirock und hautengem Pulli, der durchscheinend an den Brüsten klebt, nachdem sie ins Wasser gegangen ist; sie hatten eigens eine Szene eingerügt, in der ihr wassertriefender Körper über die Bühne getragen und an der Rampe ausgestellt wurde - geschenkt, obwohl es meine Freundin ist, die sich da entblößt, zum einzigen Zweck, das Publikum aufzugeilen. Selbst daß Polonius die Aktionen Hamlets am Monitor verfolgt, mag noch angehen. Genau diese platte Originalitätssucht macht Regisseure berühmt. Wenn die Aufführung allerdings schlichtweg langweilig ist, dann handelt es sich um eine Meisterleistung: Aus einem der spannendsten Renaissancedramen ein banal gegenwärtigen, trotz zahlreicher Kürzungen quälend endlosen Langweiler zu machen dürfte nicht jedem Regisseur glücken.
Ich schlief nicht ein. Drei Stunden, die mir doppelt so lang vorkamen, hielt ich durch. Das war weniger auf das Video zurückzuführen als auf Ellens Haltung. Sehr gespannt und sehr nervös saß sie neben mir und verbat sich jede Berührung. Endlich, Mittemacht war lange schon vorüber, endlich watete Fortinbras übern Totenberg und übernahm die Macht, da sonst kein Herrscher überlebt hatte: "Nehmt auf die Leichen! Solch ein Blick wie der ziemt wohl dem Feld, doch hier entstellt er sehr. Geht, heißt die Truppen feuern!" So habe ich den Text aus Schlegels trefflicher Übersetzung im Kopf; Ellens Regisseur hatte eine andere Fassung verwendet, eine eigene, nehme ich an, die sehr nach Prosa und auf jeden Fall prosaisch klang. Ein sehr dünn klingender Beifall des im großen Saal verlorenen Häufleins der Angehörigen beendete meine Qualen. Ich ließ das Band zurücklaufen.
"Und?" fragte Ellen gespannt.
Ich hatte es befürchtet. Was sollte ich ihr nur sagen? Daß es großartig war? Daß es nichts taugte? Daß ich endlich ins Bett wollte nach vierzehn Stunden am Computer und drei weiteren vor dem Fernsehapparat? Ich konnte mich nicht entschließen und rettete mich in ein klägliches "Na ja". Vergebens.
"Was soll das heißen?" beharrte Ellen.
Wenn mein Schwarzwaldmädel wütend ist, sieht sie noch schöner als sonst aus. Verliebt schaute ich sie an. Sie bemerkte es nicht einmal, gereizt, wie sie war.
"Ich will deine Meinung hören! Wenn du schon nicht hingekommen bist."
"Nach der Premiere sage ich dir meine Meinung."
Noch immer glaubte ich, mich irgendwie drücken zu können. Ich ergriff ihre Hand. Sie riß sie weg.
"Du magst die Inszenierung nicht!" behauptete sie.
"Ich habe das Gefühl, daß du Streit suchst."
Auch diesem letzten Schlichtungsversuch erteilte sie postwendend eine kalte Abfuhr.
"Ich will deine Meinung hören!"
Ich hatte keine Wahl.
"Okay. - Mir hat die Inszenierung nicht gefallen. Damit meine ich nicht das holprige Deklamieren. Ihr seid ja noch Studenten. Aber der Regisseur ist kein Anfänger. Was für einen Hamlet präsentiert er? Einen Waschlappen. Einen langweiligen Allerweltskerl, der erst handelt, als er vergiftet ist."
"Das hat sich nicht der Regisseur ausgedacht, sondern Shakespeare!"
"Bei Shakespeare ist Hamlet ein Prinz, kein Durchschnittsbürger. Ein hochgebildeter, tatkräftiger Mann. Der durchschaut den Hof, und der kann handeln, wenn er es für richtig hält."
Natürlich sagte ich mehr als diese drei Sätze. Ausreden ließ Ellen mich nicht.
Gehässig unterbrach sie: "Jetzt kommt, daß er einen freien Willen besitzt."
"Wie jeder Mensch", bestätigte ich; so leicht ließ ich mich nicht provozieren. "Und mehr: Er besitzt Macht, Einfluß, Geistesgaben, Kraft, Gewandtheit. Er macht die Anschläge seiner Feinde zunichte und sorgt dafür, daß niemand vom Königsmord profitiert. Fast besiegt er die Übermacht. Bei euch ist er ein pubertierender Bengel, der nur aus Angst vor der Peitsche des berühmten Regisseurs bis zum Schluß auf der Bühne bleibt. Und deine Ophelia ist..."
"Hör auf!"
Genau in diesem Augenblick stoppte der Bandrücklauf, sozusagen aufs Stichwort. Ich war belustigt, aber leider gab ich dieser Regung nicht nach. Vielleicht hätte das Gespräch sich durch einen Scherz noch retten lassen. Ich sprach weiter.
" ... ist dieses Hamlets wert. Das Flittchen vom Dienst. IM der Stasi oder des BND. Sie bringt sich nur um, weil es im Drehbuch steht, nicht aus der Verzweiflung verschmähter Liebe. Sie ..."
"Hör auf!" schrie Ellen in meine Analyse hinein. "Ich habe übermorgen Premiere! Meinst du, daß ich spielen kann, wenn du alles so runterreißt?"
"Du wolltest es doch hören!" erinnerte ich sie.
"Ich hatte einfach vergessen, wie grausam unsensibel du sein kannst!"
"Unsensibel ist dein Regisseur. Ich ..."
"Ich! Ich! Ich! Immer nur ich! Denkst du auch mal an mich? Schauspieler müssen an ihr Stück glauben können, sonst überzeugen sie nicht. Ich reiße mir auf der Bühne den Arsch auf."
"Du verträgst keine Kritik!" sagte ich und wollte noch etwas Beschwichtigendes hinzufügen.
Sie ließ mich nicht zu Wort kommen.
"Sag mir, wie ich besser werde, aber nicht, daß alles Scheiße ist", forderte sie.
"Das kann ich nicht", gab ich zu. "Dein Regisseur hat sich monatelang damit befaßt und es nicht herausgefunden. Wie sollte es mir in Minuten glücken?" Und dann wurde ich meinen Trost doch noch los: "Es ist doch bloß eine Studenteninszenierung. Die wird dreimal gezeigt und dann schnell vergessen."
"So schnell wie du", sagte sie. "Ich gehe."
"Wohin?"
Schweigend erhob sie sich.
"Du bist heute nicht gut drauf, was?" fragte ich.
"Und bitte komm auf keinen Fall zur Premiere!"
Sie griff sich meine Reisetasche und warf wahllos ein paar ihrer auf dem Bett liegenden Sachen hinein.
"Das meinst du doch nicht ernst, Ellen", warb ich mit weicher Stimme und einem Kloß im Hals.
"Diesmal bist du zu weit gegangen."
"Ich bin gar nicht gegangen. Ich sitze noch."
"Das schönste ist, daß ich mir deine blöden Witze nicht mehr anhören muß."
Sie zerrte den Reißverschluß der Tasche zu und ging hinaus, ohne mich noch einmal anzusehen. Die Wohnungstür knallte sie hinter sich ins Schloß.
"Ellen!" sagte ich hilflos.
In dieser Nacht schlief ich sehr wenig. Natürlich glaubte ich nicht, daß es sich um eine endgültige Trennung handelte. Ihr Temperament war nun mal etwas hitzig. Das gehörte zum Beruf. Übermorgen würde ich zur Premiere gehen und ein paar lobende Worte über ihr sensibles Spiel sagen. Und in Zukunft würde ich Kritik an ihrer Arbeit dezenter formulieren. Es war nichts geschehen, das sich nicht mit einem Kuß reparieren ließ. Oder doch? Sie war nicht einfach nur türenknallend hinausgegangen, sondern hatte ihre Sachen gepackt. Eine Überreaktion im Probenstreß, beruhigte ich mich.
Früh am Morgen holte ich frische Brötchen vom Bäcker, brühte mir einen extra starken Kaffee und kehrte dann an meinen Computer zurück. Wenn man das Thema seines Lebens gefunden hat, wird man auch mit Liebeskummer fertig.
Gegen 9 Uhr klingelte es. Wieder hatte ich keine Lust zum Öffnen, und wieder war der Störenfried sehr hartnäckig. Da ich bei dem ständigen Dingdong ohnehin keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte, öffnete ich die Tür. Ich hatte den Bruchteil einer Sekunde Zeit, drei Männer wahrzunehmen, zwei in Uniform und einen Zivilisten, da brüllte mich der Zivilist schon an:
"Hände hoch!"
Die Uniformierten zielten mit ihren Pistolen auf mich. Ich war so perplex, daß ich regungslos stehenblieb. Meine Kinnlade klappte herunter.
"Hoch! Keine Tricks!" bellte mich der Zivilist an.
Mechanisch gehorchte ich.
"Umdrehen. Gesicht zur Wand."
"Was soll das?" fragte ich.
"Schnauze."
Jemand tastete mich von hinten ab, sehr gründlich, kein Körperteil außerdem Kopf wurde ausgelassen. Mein Herz begann zu rasen. Ich konnte mir den Überfall nicht erklären. Einbrecher, die sich als Polizisten maskierten? Echte Polizisten, die mich verwechselten? Mit wem? Natürlich fanden sie keine Waffe. Ich besitze keine.
"Okay", sagte der Zivilist, und es klang ein wenig enttäuscht. "Umdrehen. Hände langsam nach vom."
Direkt vor mir stand einer der Uniformierten, ein ungewöhnlich großer, stämmiger junger Mann, dem sich zu widersetzen mir nicht angeraten schien. Er legte mir Handschellen an.
"Was soll das?" fragte ich erneut, und wieder interessierte es den Mann in Zivil nicht. Er wandte sich an seine Leute.
"Seht euch in der Wohnung um, ob er allein ist. Äußerste Vorsicht!"
Sie nickten. Bisher hatten sie kein Wort gesagt. Sie verschwanden im Flur, mit ausgestreckten rechten Armen, wie gezogen von ihren Pistolen. Und ich stand im Hausflur, mit Handschellen gefesselt, und mußte machtlos zusehen.
Die Nachbarin öffnete einen Spaltbreit ihre Tür. Der Zivilist hörte es und blökte sie an: "Tür zu!" Sie gehorchte ihm auf der Stelle, aber ich bin sicher, daß sie uns durch den Türspion beobachtete.
"Was soll das?" fragte ich ein drittes Mal, und endlich bequemte er sich, mir zu antworten.
"Herr Joseph Kowalski, Sie sind vorläufig festgenommen. Sie haben das Recht zu schweigen. Sie haben das Recht, einen Anwalt zu verständigen. Alles, was Sie aussagen, kann gegen Sie verwendet werden." Oder so ähnlich, ich kenne die offizielle Formel nicht.
"Warum nehmen Sie mich fest?" fragte ich.
"Paragraph 129 a." Das hielt er wohl für eine ausreichende Erklärung.
"Weswegen?"
"Wenn Ihresgleichen auch sonst nichts weiß, dieser Paragraph ist Ihnen bestens bekannt!" bemerkte er. Sein Sarkasmus prallte an mir ab.
"Tut mir leid, ich studiere Philosophie, nicht Jura."
"Bildung terroristischer Vereinigungen, Herr Kowalski." Seine Stimme triefte vor Ironie.
"Was?"
"Sie sind der aktiven Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verdächtig", erklärte er etwas ernsthafter.
"Ich? - Ach so. Ich verstehe. Natürlich."
Es mag unwahrscheinlich klingen, aber über dem Streit mit Ellen und meiner Arbeit hatte ich meinen Vertrag mit dem Doktor total vergessen. Erst bei diesem völlig absurden Vorwurf fiel er mir wieder ein, und erleichtert atmete ich auf. Das Experiment begann schneller als erwartet. In einem Monat würde ich um 40 000 DM reicher sein.
"Ich begrüße es, daß Sie sich nicht länger dumm stellen wollen", sagte der Mann in Zivil.
"Ja, ich bin manchmal etwas begriffsstutzig", entschuldigte ich mich. "Ich war nicht ganz auf der Höhe, hab gerade an meiner Dissertation geschrieben."
"Dissertation, ah ja", sagte er ohne echtes Interesse, fragte immerhin: "Welches Thema?"
"Über die Freiheit des menschlichen Willens", informierte ich ihn.
"Die Freiheit, die Sie meinen, kennen wir", glaubte er in seiner Rolle sagen zu müssen und setzte gar noch eins drauf: "Wollen Sie denn nie dazulernen?"
"Ich lerne nicht, ich lehre!" konterte ich ironisch.
"Das möge Gott verhüten!" versetzte er schlagfertig.
"Sie klingen ziemlich echt", lobte ich.
Er sprach wie ein Polizist, und er sah irgendwie auch so aus. Woran erkennt man Polizisten? An ihrer Haltung. Sie besitzen Macht, zumindest den Nicht-Polizisten gegenüber, und sie sind es gewöhnt, immer Recht zu behalten, auch wenn sie gar keines haben. Das strahlen sie aus. Je länger sie im Dienst sind, desto bornierter werden sie. Selbstgerecht und saturiert. Dieser Mann - inzwischen weiß ich natürlich, wer er ist, aber ich werde die Chronologie meiner Erzählung nicht verletzen - "dieser Mann konnte gut und gerne einen Kriminalkommissar darstellen. Mittelgroß, sehr aufrecht, gutgenährt, nicht fett, im Dienst ergraut und abgestumpft, ein routinierter Ermittler von fünfzig Jahren. Seinem Akzent nach stammte er vom Nordrhein. Eine realistische Wahl.
"Nur einen Fehler haben Sie gemacht", teilte ich ihm mit.
"Ich?" fragte er, aus seinem Konzept gebracht.
"Sie sind nur zu dritt", sagte ich und grinste. "Wenn Sie mich wirklich für einen Terroristen hielten, wären Sie mit zwei Hundertschaften GSG 9 angerückt. Vielleicht hätten Sie sich als Verhaftungsgrund einen Ladendiebstahl ausdenken sollen. Das wäre wesentlich glaubwürdiger!"
"Sie gestehen also Ladendiebstähle?" fragte er, noch immer verunsichert, besann sich dann seiner Rolle. "Wann, wo, wie oft?"
"So gefallen Sie mir schon besser", lobte ich. "Borniert wie ein echter Bulle."
"Du Arsch!" brüllte er mich an. "Deine Arroganz treiben wir dir schon aus. Wir haben ganz andere kleingekriegt, Kowalski, ganz andere!"

 

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