1987 Das geomantische Orakel

Verlag Das Neue Berlin, Berlin 1987

Klappentext:

Am Stadtrand von Berlin erscheint unzeitgemäß auf einer Post ein Weihnachstmann. Die amüsierte Verblüffung der Kunden wandelt sich jäh in angstvolles Erstaunen, als dieser sich als Geldgangster entpuppt. Der Überfall mißlingt, doch der Täter entkommt unerkannt.

Hauptmann Krügers 2. Fall mutet zunächst wie eine Provinzoperette an. Da geschieht ein Mord. Ein Blatt mit geheimnisvollen Zeichen deutet auf einen Zusammenhang zwischen beiden Verbrechen.

Buchcover von Das geomantische Orakel

 

Auszug:

Mittwochabend

1

Gretel Pusch zählte das Geld und, quittierte den Empfang. Hoffentlich war das der letzte, dachte sie. Üblicherweise gehörte es nicht zu den Aufgaben ihrer Poststelle, die Tageseinnahmen der umliegenden Verkaufsstellen entgegenzunehmen, aber in der Sparkasse wurde gebaut. Gretel mochte nicht schätzen, wieviel Geld sie zu hüten hatte - auf jeden Fall zu viel, wenn man bedachte, daß es hier keine besonderen Sicherheitsvorkehrungen gab und sie den Dienst alleine versah.
Zum Glück würde bald der Geldfahrer kommen, der Feierabend war nahe. Es war voll in dem kleinen Raum. Der vielen Einzahlungen wegen hatte sich ein Kundenstau ergeben. Niemand murrte, obwohl die meisten sicher von der Arbeit kamen und schnell nach Hause wollten. Mit müden, gelangweilten Gesichtern harrten sie darauf, ein paar Zentimeter vorrücken zu können. Waren sie endlich an der Reihe, äußerten sie still ihre Wünsche.
Die meisten Kunden waren der jungen Postangestellten bekannt. Das war nicht ungewöhnlich in einer Gegend wie dieser. Fast könnte man meinen, es wäre eine Kleinstadt oder ein großes Dorf. Das war es früher tatsächlich, gehörte noch keine hundert Jahre zu Berlin, und den provinziellen Charakter hatte dieser Ortsteil nie verloren. Es gab keine Wohngiganten, die Mietshäuser waren selten höher als zwei Stockwerke, kleine Bauten dominierten. Gretel Puschs Postaußenstelle lag in einer Villa, die sich die Post mit einer Archivverwaltung teilte (das Archiv lag am anderen Ende der Stadt).
Mit jenem Automatismus, den man sich aneignet, wenn man eine Arbeit über Jahre ausübt, bediente Gretel Pusch die Kunden und dachte dabei an alles mögliche. Die Schlange war schon wesentlich kürzer geworden, nur noch fünf Leute waren zu bedienen. Als die Tür kraftvoll ins Schloß geworfen wurde, blickte die Angestellte nicht auf. Statt dessen sahen sich einige Kunden um. Die resolute Frau Mirsch, eine fette, vitale Invalidin, sagte: "Ein bißchen früh, was?" Die Kunden lachten. Gretel Pusch legte zehn Zwanziger-Briefmarken auf das Schalterpult und blickte auf. In der Tür stand der Weihnachtsmann und lachte sie starr-pappig an.
Er war in der Tat zu früh gekommen, mehr als drei Monate. Man schrieb den 18. September. Ein warmer, sonniger Spätsommertag. Auch jetzt noch, kurz vor 18 Uhr, schien die Sonne, allerdings stand sie schon tief und war hinter den Häusern nicht mehr zu sehen.
Der Weihnachtsmann krächzte: "Das ist..."
Er räusperte sich und sagte dann energischer: "Das ist ein Überfall!"
Er trug einen trotz der milden Temperatur bis zum Hals geschlossenen Parka, hatte die Kapuze über den Kopf gezogen. Das Gesicht war hinter einer Papplarve mit Wattebart verborgen. Unter dem linken Arm trug er eine Tasche, in der rechten Hand hielt er - tatsächlich, das war ja eine Pistole! Sollte das ernst gemeint sein?
Frau Mirsch glaubte es nicht. Sie sagte: "Auch wenn Sie der Weihnachtsmann sind, hier geht es der Reihe nach; Stellen Sie sich hinten an."
Mag sein, daß ohne die Frührentnerin alles anders gelaufen wäre. Ihr heiter-energischer Ton besaß so viel Suggestivkraft, daß tatsächlich niemand den Eindringling ernst nahm. Die bei seinem Eintritt bekundete Heiterkeit hielt an. Ja, sahen die denn seine Pistole nicht?
"Das ist ein Überfall. Geld her!" sagte der Weihnachtsmann mit verstellt klingender Stimme und ging auf den Schalter zu.
"Jetzt ist aber genug!"
Frau Mirsch riß dem Witzbold, unbeeindruckt von Pistole und Worten, die Maske herunter. Der wollte es verhindern, griff mit der linken Hand nach oben. Die Tasche rutschte unter dem Arm vor und fiel zu Boden. Trotz der schnellen Bewegung schaffte er es nicht, der Gummi war gerissen, die Maske war in der Hand von Frau Mirsch, und nun konnte sie in sein Gesicht blicken, aber da war kein Gesicht. Zu sehen war eine braune, bis zum Kinn heruntergezogene Pudelmütze. Für die Augen waren zwei Löcher hineingeschnitten. Das war kein Spaßvogel, das war .ein Gangster! Frau Mirsch erbleichte und ließ die Maske fallen. Sie rechnete damit, auf der Stelle erschossen zu werden. Sie wollte um ihr Leben flehen, aber sie brachte keinen Ton heraus. Auch die anderen Postkunden wußten nun, daß der Eindringling es ernst meinte. Niemand hätte ihm noch Widerstand entgegenzusetzen gewagt.
Der Gangster drehte sich, die Pistole in der Hand, von einem Kunden zum anderen, wich langsam in Richtung Tür zurück. Drohend streckte er den Arm mit der Pistole aus, ohne ein Wort hervorzubringen, tastete mit der anderen Hand nach hinten, riß die Tür auf und ging rückwärts hinaus. Die Tür fiel zu, und die Kunden blickten sich verwundert an.
Die bleiche Frau Mirsch keuchte hervor: "Ich muß mich setzen."
Ein junger Mann führte sie zu einem der beiden Stühle, die gleich neben der Tür an einem kleinen, zum Ausfüllen von Formularen bestimmten Tisch standen. Als er sich umwandte, bemerkte er, daß ihn alle anstarrten, als erwarteten sie etwas von ihm. Er sagte: "Mal sehen, wo er hingeht."
Schnell folgte er dem Gangster. Als er vor die Außentür trat, sah er ihn in etwa 50 Meter Entfernung auf dem Parkplatz. Er saß auf einem Motorrad, hatte es gerade gestartet, fuhr an. Ein Bursche in Jeanskleidung kam hinter einem Baum vor, rief etwas, rannte auf das Motorrad zu. Er faßte den Gepäckständer, stolperte dann oder wurde mitgerissen. Was immer er vorgehabt haben mochte, er konnte es nicht ausführen. Im Fernsehen geschah so etwas zumeist in Zeitlupe, aber hier ging alles so schnell, daß man es kaum verfolgen konnte.
Der Jugendliche stürzte auf den Asphalt, prallte mit dem Kopf gegen die Bordsteinkante und blieb reglos liegen. Der Gangster wandte sich nicht einmal um. Er beschleunigte und verschwand hinter den Häusern der gewundenen Straße.
Passanten blieben stehen, gingen hinüber zum Gestürzten. Ein fetter Mann im grauen Sommeranzug bückte sich über ihn. Der junge Postkunde rannte zum Parkplatz hinüber. Als er ankam, richtete sich der Fette wieder auf, betrachtete bestürzt und angeekelt seine blutige Hand und sagte: "Der ist ja.. !"
"Hier war eben ein Postüberfall!" sagte der junge Mann, stolz darauf, Zeuge eines so bedeutenden Ereignisses geworden zu sein.
"Das muß gemeldet werden!" ließ sich eine Frau vernehmen. Der fette Mann betrachtete noch immer fassungslos seine Hand.
"Ich mach's!" Der junge Mann rannte zur Post zurück.
"Und einen Rettungswagen!" rief ihm die Frau hinterher.
Obwohl er drei Minuten weggewesen war, hatte sich im Postraum nichts verändert. Frau Mirsch saß auf dem Stuhl und war bleich. Die anderen umstanden sie und tauschten ihre Meinungen aus. Gretel Pusch saß unbeachtet hinter ihrem Schalter und starrte ins Leere. Als der junge Mann die Tür aufriß, zuckten alle zusammen, waren aber erleichtert, als sie ihn erkannten.
"Hat schon jemand die Polizei angerufen?"
Kopfschütteln.
"Das habe ich mir gedacht!" Der junge Mann ging forsch zum Schalter. Erstaunt registrierte er, daß auf dem Pult Geldsäckchen lagen.
Die Postangestellte, von niemandem beachtet während des Überfalls, hatte offenbar den Forderungen des Gangsters nachkommen wollen. Hatte der das etwa nicht bemerkt?
"Legen Sie das weg und wählen Sie 1-1-0", wies der junge Mann an. Gretel Pusch gehorchte, ohne zu zögern. Als sie das Freizeichen hörte, gab sie den Hörer ihrem Auftraggeber.
Der junge Mann besaß einen Hang zum Dramatisieren. Verständlich, denn sein Leben verfloß relativ ereignislos - er war Bibliothekar.
Die Formulierung seiner Meldung bewirkte, daß sich von Anfang an die Mordkommission mit der Klärung des Falles befaßte. Daß sich gerade das später als Vorteil erweisen sollte, war zu diesem Zeitpunkt noch von niemandem zu ahnen.
"Hallo? Hier hat ein bewaffneter Raubüberfall stattgefunden. Ein Toter... Na, in der Post doch. Blumenstraße ... Mit einer Pistole ..! Liegt draußen ... Jonas Müller ... Nur als Kunde... Mache ich ... Kommen Sie so schnell wie möglich!"


2

Oberleutnant Iwers und Oberleutnant Gahler saßen im ersten Lada. Im zweiten folgten Hauptmann Krüger, der Leiter der MUK II, und Hauptmann Marquardt, der Kriminaltechniker der Kommission. In zwei weiteren Fahrzeugen folgten die technischen Spezialisten.
Hauptmann Krüger, ein vor allem durch seinen Habitus jünger, fast noch studentisch wirkender Mittdreißiger, leitete die MUK erst seit einem Dreivierteljahr, und das mit fast immer hervorragenden Ergebnissen. Für seinen bisher größten Erfolg hielt er die Aufklärung des auf offener Straße an einem Klempnermeister begangenen Mordes, dem ein Mord an einem Museumsdirektor gefolgt war, beide mit einer 7,35er Mauser begangen. Krügers Kommission hatte keine Woche gebraucht, um die raffiniert ans Werk gegangene Doppelmörderin zu überführen. Das war vor einem halben Jahr passiert. Auch danach hatte er natürlich zu tun gehabt, jeden Tag, und nicht nur mit dem Schreiben von Berichten, aber es war kein Fall dabeigewesen, der seine ausgeprägte Kombinationsfähigkeit in ähnlicher Weise herausgefordert hatte wie jener Doppelmord. Glücklicherweise war Mord hierzulande ein seltenes Verbrechen, und intelligent ausgeführte Morde gab es gleich gar nicht. Vielleicht schlössen sich Mord und Intelligenz ohnehin gegenseitig aus. Auch die Doppelmörderin war bei aller Raffinesse nicht sonderlich intelligent vorgegangen. Gerade durch übermäßige Planung hatte sie Spuren gelegt, durch die sie schnell überführt werden konnte. Was hatte ihr das Ganze eingebracht? Lebenslänglich hinter Gittern...

 

 

 

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