Auszug:
Mittwochabend
1
Gretel Pusch zählte
das Geld und, quittierte den Empfang. Hoffentlich war das der letzte,
dachte sie. Üblicherweise gehörte es nicht zu den Aufgaben
ihrer Poststelle, die Tageseinnahmen der umliegenden Verkaufsstellen
entgegenzunehmen, aber in der Sparkasse wurde gebaut. Gretel mochte
nicht schätzen, wieviel Geld sie zu hüten hatte - auf jeden
Fall zu viel, wenn man bedachte, daß es hier keine besonderen
Sicherheitsvorkehrungen gab und sie den Dienst alleine versah.
Zum Glück würde bald der Geldfahrer kommen, der Feierabend
war nahe. Es war voll in dem kleinen Raum. Der vielen Einzahlungen wegen
hatte sich ein Kundenstau ergeben. Niemand murrte, obwohl die meisten
sicher von der Arbeit kamen und schnell nach Hause wollten. Mit müden,
gelangweilten Gesichtern harrten sie darauf, ein paar Zentimeter vorrücken
zu können. Waren sie endlich an der Reihe, äußerten
sie still ihre Wünsche.
Die meisten Kunden waren der jungen Postangestellten bekannt. Das war
nicht ungewöhnlich in einer Gegend wie dieser. Fast könnte
man meinen, es wäre eine Kleinstadt oder ein großes Dorf.
Das war es früher tatsächlich, gehörte noch keine hundert
Jahre zu Berlin, und den provinziellen Charakter hatte dieser Ortsteil
nie verloren. Es gab keine Wohngiganten, die Mietshäuser waren
selten höher als zwei Stockwerke, kleine Bauten dominierten. Gretel
Puschs Postaußenstelle lag in einer Villa, die sich die Post mit
einer Archivverwaltung teilte (das Archiv lag am anderen Ende der Stadt).
Mit jenem Automatismus, den man sich aneignet, wenn man eine Arbeit
über Jahre ausübt, bediente Gretel Pusch die Kunden und dachte
dabei an alles mögliche. Die Schlange war schon wesentlich kürzer
geworden, nur noch fünf Leute waren zu bedienen. Als die Tür
kraftvoll ins Schloß geworfen wurde, blickte die Angestellte nicht
auf. Statt dessen sahen sich einige Kunden um. Die resolute Frau Mirsch,
eine fette, vitale Invalidin, sagte: "Ein bißchen früh,
was?" Die Kunden lachten. Gretel Pusch legte zehn Zwanziger-Briefmarken
auf das Schalterpult und blickte auf. In der Tür stand der Weihnachtsmann
und lachte sie starr-pappig an.
Er war in der Tat zu früh gekommen, mehr als drei Monate. Man schrieb
den 18. September. Ein warmer, sonniger Spätsommertag. Auch jetzt
noch, kurz vor 18 Uhr, schien die Sonne, allerdings stand sie schon
tief und war hinter den Häusern nicht mehr zu sehen.
Der Weihnachtsmann krächzte: "Das ist..."
Er räusperte sich und sagte dann energischer: "Das ist ein
Überfall!"
Er trug einen trotz der milden Temperatur bis zum Hals geschlossenen
Parka, hatte die Kapuze über den Kopf gezogen. Das Gesicht war
hinter einer Papplarve mit Wattebart verborgen. Unter dem linken Arm
trug er eine Tasche, in der rechten Hand hielt er - tatsächlich,
das war ja eine Pistole! Sollte das ernst gemeint sein?
Frau Mirsch glaubte es nicht. Sie sagte: "Auch wenn Sie der Weihnachtsmann
sind, hier geht es der Reihe nach; Stellen Sie sich hinten an."
Mag sein, daß ohne die Frührentnerin alles anders gelaufen
wäre. Ihr heiter-energischer Ton besaß so viel Suggestivkraft,
daß tatsächlich niemand den Eindringling ernst nahm. Die
bei seinem Eintritt bekundete Heiterkeit hielt an. Ja, sahen die denn
seine Pistole nicht?
"Das ist ein Überfall. Geld her!" sagte der Weihnachtsmann
mit verstellt klingender Stimme und ging auf den Schalter zu.
"Jetzt ist aber genug!"
Frau Mirsch riß dem Witzbold, unbeeindruckt von Pistole und Worten,
die Maske herunter. Der wollte es verhindern, griff mit der linken Hand
nach oben. Die Tasche rutschte unter dem Arm vor und fiel zu Boden.
Trotz der schnellen Bewegung schaffte er es nicht, der Gummi war gerissen,
die Maske war in der Hand von Frau Mirsch, und nun konnte sie in sein
Gesicht blicken, aber da war kein Gesicht. Zu sehen war eine braune,
bis zum Kinn heruntergezogene Pudelmütze. Für die Augen waren
zwei Löcher hineingeschnitten. Das war kein Spaßvogel, das
war .ein Gangster! Frau Mirsch erbleichte und ließ die Maske fallen.
Sie rechnete damit, auf der Stelle erschossen zu werden. Sie wollte
um ihr Leben flehen, aber sie brachte keinen Ton heraus. Auch die anderen
Postkunden wußten nun, daß der Eindringling es ernst meinte.
Niemand hätte ihm noch Widerstand entgegenzusetzen gewagt.
Der Gangster drehte sich, die Pistole in der Hand, von einem Kunden
zum anderen, wich langsam in Richtung Tür zurück. Drohend
streckte er den Arm mit der Pistole aus, ohne ein Wort hervorzubringen,
tastete mit der anderen Hand nach hinten, riß die Tür auf
und ging rückwärts hinaus. Die Tür fiel zu, und die Kunden
blickten sich verwundert an.
Die bleiche Frau Mirsch keuchte hervor: "Ich muß mich setzen."
Ein junger Mann führte sie zu einem der beiden Stühle, die
gleich neben der Tür an einem kleinen, zum Ausfüllen von Formularen
bestimmten Tisch standen. Als er sich umwandte, bemerkte er, daß
ihn alle anstarrten, als erwarteten sie etwas von ihm. Er sagte: "Mal
sehen, wo er hingeht."
Schnell folgte er dem Gangster. Als er vor die Außentür trat,
sah er ihn in etwa 50 Meter Entfernung auf dem Parkplatz. Er saß
auf einem Motorrad, hatte es gerade gestartet, fuhr an. Ein Bursche
in Jeanskleidung kam hinter einem Baum vor, rief etwas, rannte auf das
Motorrad zu. Er faßte den Gepäckständer, stolperte dann
oder wurde mitgerissen. Was immer er vorgehabt haben mochte, er konnte
es nicht ausführen. Im Fernsehen geschah so etwas zumeist in Zeitlupe,
aber hier ging alles so schnell, daß man es kaum verfolgen konnte.
Der Jugendliche stürzte auf den Asphalt, prallte mit dem Kopf gegen
die Bordsteinkante und blieb reglos liegen. Der Gangster wandte sich
nicht einmal um. Er beschleunigte und verschwand hinter den Häusern
der gewundenen Straße.
Passanten blieben stehen, gingen hinüber zum Gestürzten. Ein
fetter Mann im grauen Sommeranzug bückte sich über ihn. Der
junge Postkunde rannte zum Parkplatz hinüber. Als er ankam, richtete
sich der Fette wieder auf, betrachtete bestürzt und angeekelt seine
blutige Hand und sagte: "Der ist ja.. !"
"Hier war eben ein Postüberfall!" sagte der junge Mann,
stolz darauf, Zeuge eines so bedeutenden Ereignisses geworden zu sein.
"Das muß gemeldet werden!" ließ sich eine Frau
vernehmen. Der fette Mann betrachtete noch immer fassungslos seine Hand.
"Ich mach's!" Der junge Mann rannte zur Post zurück.
"Und einen Rettungswagen!" rief ihm die Frau hinterher.
Obwohl er drei Minuten weggewesen war, hatte sich im Postraum nichts
verändert. Frau Mirsch saß auf dem Stuhl und war bleich.
Die anderen umstanden sie und tauschten ihre Meinungen aus. Gretel Pusch
saß unbeachtet hinter ihrem Schalter und starrte ins Leere. Als
der junge Mann die Tür aufriß, zuckten alle zusammen, waren
aber erleichtert, als sie ihn erkannten.
"Hat schon jemand die Polizei angerufen?"
Kopfschütteln.
"Das habe ich mir gedacht!" Der junge Mann ging forsch zum
Schalter. Erstaunt registrierte er, daß auf dem Pult Geldsäckchen
lagen.
Die Postangestellte, von niemandem beachtet während des Überfalls,
hatte offenbar den Forderungen des Gangsters nachkommen wollen. Hatte
der das etwa nicht bemerkt?
"Legen Sie das weg und wählen Sie 1-1-0", wies der junge
Mann an. Gretel Pusch gehorchte, ohne zu zögern. Als sie das Freizeichen
hörte, gab sie den Hörer ihrem Auftraggeber.
Der junge Mann besaß einen Hang zum Dramatisieren. Verständlich,
denn sein Leben verfloß relativ ereignislos - er war Bibliothekar.
Die Formulierung seiner Meldung bewirkte, daß sich von Anfang
an die Mordkommission mit der Klärung des Falles befaßte.
Daß sich gerade das später als Vorteil erweisen sollte, war
zu diesem Zeitpunkt noch von niemandem zu ahnen.
"Hallo? Hier hat ein bewaffneter Raubüberfall stattgefunden.
Ein Toter... Na, in der Post doch. Blumenstraße ... Mit einer
Pistole ..! Liegt draußen ... Jonas Müller ... Nur als Kunde...
Mache ich ... Kommen Sie so schnell wie möglich!"
2
Oberleutnant Iwers und Oberleutnant
Gahler saßen im ersten Lada. Im zweiten folgten Hauptmann Krüger,
der Leiter der MUK II, und Hauptmann Marquardt, der Kriminaltechniker
der Kommission. In zwei weiteren Fahrzeugen folgten die technischen
Spezialisten.
Hauptmann Krüger, ein vor allem durch seinen Habitus jünger,
fast noch studentisch wirkender Mittdreißiger, leitete die MUK
erst seit einem Dreivierteljahr, und das mit fast immer hervorragenden
Ergebnissen. Für seinen bisher größten Erfolg hielt
er die Aufklärung des auf offener Straße an einem Klempnermeister
begangenen Mordes, dem ein Mord an einem Museumsdirektor gefolgt war,
beide mit einer 7,35er Mauser begangen. Krügers Kommission hatte
keine Woche gebraucht, um die raffiniert ans Werk gegangene Doppelmörderin
zu überführen. Das war vor einem halben Jahr passiert. Auch
danach hatte er natürlich zu tun gehabt, jeden Tag, und nicht nur
mit dem Schreiben von Berichten, aber es war kein Fall dabeigewesen,
der seine ausgeprägte Kombinationsfähigkeit in ähnlicher
Weise herausgefordert hatte wie jener Doppelmord. Glücklicherweise
war Mord hierzulande ein seltenes Verbrechen, und intelligent ausgeführte
Morde gab es gleich gar nicht. Vielleicht schlössen sich Mord und
Intelligenz ohnehin gegenseitig aus. Auch die Doppelmörderin war
bei aller Raffinesse nicht sonderlich intelligent vorgegangen. Gerade
durch übermäßige Planung hatte sie Spuren gelegt, durch
die sie schnell überführt werden konnte. Was hatte ihr das
Ganze eingebracht? Lebenslänglich hinter Gittern...