Buchcover Das Netz der Schatten  
 

Martin Parr, ein erfolgloser Mann mit vielen Talenten, wird als Opfer einer Verwechslung von Geheimdiensten gejagt. Nachdem er alles verloren hat - seine Freundin,sein Zuhause, sogar seinem Namen -, taucht er unter und sinnt auf Rache. Und plötzlich ist es soweit: Ein von den eigenen Leuten niedergeschossener Agent des BND bittet ihn um Hilfe. Christoph Lächner und die russische Spionin Zofia sind korrupten Kollegen auf der Spur und ihres Lebens nicht mehr sicher. Parr fühlt sich wie der Held in einem Abenteuerfilm. Eben noch hielt er sich für eine gescheiterte Existenz, und auf einmal hat er Freunde und wird gebraucht. Aber ist die Wirklichkeit nicht ein bißchen zu schön, um wahr zu sein? Dieser doppelbödige Action-Thriller um den Spion wider Willen Martin Parr ist die in sich geschlossene Fortsetzung von Der unsichtbare Zweite.

Argument Verlag 15,80 DM (veraltete Angabe; derzeit ist das Buch - falls überhaupt - nur gebraucht zu erwerben. Auszug folgt.)

11.00 Uhr
 
Einen Topmanager zu kidnappen erforderte offenbar keine so gründliche Vorbereitung wie der nächtliche Anruf beim eigenen Abteilungsleiter. Wir mußten schnell handeln, um wenigstens einmal etwas Vorsprung vor X zu bekommen. Laurenz Stettner hatte keine Leibwächter. Warum also nicht einfach in sein Büro marschieren und ihm dort die Pistole auf die Brust setzen? Ich gebe zu, daß der Einfall von mir stammte und ich ihn nicht sonderlich ernst gemeint hatte, doch die beiden sprangen darauf an. Wie sie zu denken und zu planen pflegten, könne von X möglicherweise vorausgesehen werden, doch ich sei eine unbekannte Größe, also eine Variable im Spiel. Am hellichten Tag mit einer Pistole in ein Büro zu marschieren war so verrückt, daß es vielleicht sogar klappen konnte. Vorausgesetzt, Stettner war im Büro, und vorausgesetzt, seine Vorzimmerdame ließ uns vor, und vorausgesetzt, es wimmelte im Büro nicht von Mitarbeitern.
Die zahlreichen unbekannten Faktoren zu beachten hätte uns gelähmt. Wir ignorierten sie einfach. Da wir bisher stets Pech gehabt hatte, waren wir, statistisch gesehen, endlich an der Reihe mit dem Glück. Ein wenig nachhelfen mußten wir allerdings. Nicht alle sollten den Manager aufsuchen, eine so große Delegation würde auffallen. Lächner allein hatte bessere Aussichten. Er sah als einziger von uns so seriös aus, daß er auch ohne Termin vielleicht zum Chef vorgelassen wurde.
Lächner trug einen neuen Anzug, da der alte blutig und zerrissen war. Nun war der Herr wieder vorzeigbar. Ein solider Geschäftsmann. In die Jahre gekommen, aber drahtig, etwas altmodisch, aber keinesfalls von der neuen Zeit überrollt.
Die Firma TransNukem saß in einem sechsstöckigen Bürogebäude nahe dem Bahnhof Zoo. Viel Blau, viel Stahl, viel Glas. Zofia war hineingegangen, ohne an der Pforte aufgehalten zu werden. Nach einer Viertelstunde war sie wieder herausgekommen und hatte uns ein Zeichen gegeben, die Luft sei rein. Lächner setzte sich sofort in Bewegung. Als er an ihr vorbeiging, raunte sie ihm ein paar Informationen zu. Er ließ sich nicht anmerken, daß er sie verstanden hatte, öffnete die Tür und verschwand im Gebäude.
Zofia sah sich auf der Straße um. Verglichen mit dem nächtlich unbelebten Friedrichshain ein Menschengewimmel. Autos stauten sich an Ampeln, und Hunderte geschäftige Leute eilten über die Fußwege, überholten die Touristen, drängten und schoben. Ich stand vor dem Schaufenster eines Schuhladens und betrachtete das Treiben in der spiegelnden Scheibe.
Da ihr nichts Verdächtiges auffiel, kam sie zu mir und informierte auch mich. Das Gebäude sei relativ frei begehbar, abgesehen von der TransNukem. Die hat ein Viertel der sechsten Etage gemietet. Eine Glastür hindert Besucher des Hauses daran, sich aus Neugier oder Unkenntnis des Weges in die Büros zu verirren. Sie wird von außen durch eine Magnetkarte und von innen durch einen Summer geöffnet, wenn man herein will. Neben der Tür ist eine Wechselsprechanlage. Zofia hatte geklingelt, und ohne daß jemand ihr Fragen stellte, wurde die Tür für sie geöffnet. Sie war über den Flur gegangen und hatte keinen Wachmann gesehen. Eine Sekretärin kam aus einer Tür und fragte sie, zu wem sie wolle. Sie erfand einen Namen und erfuhr zu ihrem Bedauern, daß ein Mitarbeiter dieses Namens dort nicht bekannt sei. Die Sekretärin schien das ebenso zu bedauern; sie war sehr höflich. Ihre Verpflichtungen ließen es leider nicht zu, sie zur Glastür zu begleiten. Zofia hätte also im Bürotrakt bleiben können, doch das war nicht vorgesehen.
Inzwischen war Lächner sicher auch bei der Sekretärin angelangt und versuchte, sie mit seinem Altmännercharme zu bezirzen. Sofern ihm das gelang, würde er in den nächsten Minuten dem Manager gegenüberstehen.
Laurenz Stettner galt als unkonventioneller Selfmademan. Zwar war er niemals Tellerwäscher gewesen, eigentlich überhaupt nicht arm, nicht nur aus meiner Perspektive nicht, seine Eltern besaßen eine Gasthauskette, und als er fünfundzwanzig Jahre war, überschrieben sie ihm eine halbe Million. Er ließ sich auf Spekulationen ein, hatte Glück, kaufte sich Aktien und Firmenanteile, und mit achtundzwanzig war er reich und clever genug, die TransNukem zu übernehmen und vor der Pleite zu bewahren. Auch wenn die Kernkraft seit Harrisburg und Tschernobyl in Verruf geraten ist, bleibt sie doch die Energie der Zukunft. Daran glaubte er, und darum wurde er nicht müde, das jedem Reporter zu erzählen. Und es kamen viele Reporter; erfolgreiche Jungunternehmer sind die wahren Helden der westlichen Welt. Um so mehr, wenn sie wortgewandt sind, kritische Fragen freundlich abschmettern und alles hinreichend einfach erklären können. Harrisburg war eine Anfangsschwierigkeit, und die Russen haben gepfuscht. Im übrigen häufe sein Unternehmen keinen neuen Müll auf, sondern entsorge ihn auf umweltfreundliche und kostengünstige Weise. Selbst wenn heute nacht überall auf der Welt sämtliche Reaktoren abgeschaltet und nie wieder in Betrieb genommen werden, sei bereits genug Müll produziert worden, die TransNukem bis zu seinem, Stettners, Rentenalter zu beschäftigen. Mit diesen Weisheiten hatte uns Zofia vor unserer Visite versorgt; sie verdankte sie der Presse.
Gesehen hatte sie ihn, außer auf Fotos und im Fernsehen, noch nicht. Er war ihr bei ihrem Abstecher in den sechsten Stock auch nicht zufällig über den Weg gelaufen. Sie wußte nicht mal, ob er überhaupt im Büro war. Ebensogut konnte er in Lubmin nach dem Rechten sehen oder in Moskau neues Unrecht organisieren, wenn er nicht gar, einem spontanen Einfall folgend, in die Karibik geflogen war, weil ihm das europäische Wetter nicht behagte. Das glaubten wir nicht, weil wir es nicht glauben wollten.
Ich stellte mir vor, wie Lächner die Vorzimmerdame beschwatzte. Was? Kein Termin notiert? Das sei unmöglich, er habe sich telefonisch avisieren lassen. Ein Fax habe er eigenhändig durch die Leitung geschickt, und sein Geschäftsführer habe ihm fernmündlich versichert, der Termin sei bestätigt. Muß unbedingt geklärt werden, was da falsch gelaufen ist. Da ich schon mal hier bin, ist vielleicht noch nicht alles verloren. Ich bin Teweleit, Teweleit & Söhne, Import-Export, Firmensitz in München und Hamburg. Eher Nordsüd- als Ostwest-Handel, aber wir sind nicht eng, sondern weit, weltweit, haha. Ich habe Herrn Stettner einen Vorschlag zu unterbreiten, dauert nicht länger als fünf Minuten. Wenn er nicht interessiert ist, war es das. Wir sparen beide Zeit, in der ich mich nach anderen Partnern umsehen und er Golf spielen kann. Wenn er interessiert ist, was ich, nebenbei gesagt, erwarte, vereinbaren wir ein ausführliches Gespräch, und ich werde selber darauf achten, daß es im Kalender vermerkt wird, aber das wird nicht nötig sein, denn Herr Stettner wird es rot anstreichen lassen.
Was er tatsächlich sagte, weiß ich nicht. Ich stand neben Zofia, inzwischen vor einem Buchladen. Dort fühlte ich mich besser aufgehoben als vor dem Schuhgeschäft. Wir redeten wenig, und wenn, waren es Spekulationen. Er ist drin, glaubten wir, sonst wäre er schon wieder draußen. Und was wird er machen, wenn er in Stettners Büro ist? Muß er Zeit mit Scheinvorschlägen vergeuden, weil ein paar Mitarbeiter um den Chef herumwieseln, oder kann er ihm sofort die Pistole auf die Brust setzen? Was ist, wenn die Sekretärin mithört? Wird sie schon nicht. Sie interessiert sich nicht für Geschäfte, sonst wäre sie nicht Sekretärin, sondern Firmenchefin.
Alles wird gut. Er wird jetzt ganz cool dastehen und Stettner die Pistole gegen die Schläfe oder noch besser gegen die Eier drücken und wird ihn nach zweifelhaften Geschäften und nach seiner Verbindung zum Geheimdienst fragen, und der Manager wird es erst nicht ernst nehmen und dann ganz schnell umkippen und alles sagen, was wir hören wollen. Ich bin ein gewissenloser Verbrecher, Geld ist wichtiger als Menschenleben, und Herr X heißt Hintermoser und ist Referatsleiter, und wenn Sie wollen, geben ich Ihnen alles schriftlich, nur bitte nicht schießen.
Dann sind sie fertig, Lächner schlägt ihm den Kolben über den Kopf oder die Handkante ins Genick und verläßt das Büro. Er spielt den enttäuschten Kleinunternehmer und teilt der Sekretärin wütend mit, ihr Chef sei ein bornierter Idiot, aber das brauche sie ihm nicht auszurichten, das habe er schon selbst hinreichend deutlich erklärt. Weil eine Polstertür zwischen Vorzimmer und Büro ist und weil sie niemals den Chef belauscht, glaubt sie das auch und gibt ihr tiefes Verständnis für seine Frustration zu erkennen und begleitet ihn zur Tür, ohne Verdacht zu schöpfen, und dann ist Lächner draußen, ehe jemand etwas mitbekommt.
Alles wird gut. Es muß einfach gut werden.
Ein Fenster im sechsten Stock splitterte. Des Straßenlärms wegen hörten wir das Bersten des Glases nicht. Doch weil wir aufmerksam waren, sahen wir es, sahen, wie ein Mann durch die Luft segelte und zwischen ein paar Fußgängern aufschlug. Die hatten Glück, daß sie nur von seinem Blut bespritzt und nicht erschlagen wurden, aber sie kreischten laut los und blickten nach unten und dann unsicher nach oben, als ob von nun an alle paar Sekunden jemand herunterstürzen würde, ein Platzregen von lebensmüden Managern.
»Scheint doch nicht alles gutgegangen zu sein«, sagte ich.

13.05 Uhr
 
»Ich hab ihn doch nicht aus dem Fenster geworfen!« verwahrte sich Lächner.
»Wer sonst?« fragte ich.
Wir saßen in der Couchecke der Wohnung, die wir nach unseren nächtlichen Telefonaten besetzt hatten. Bei seinem dreistündigen Ausflug am Sonntagmorgen hatte er die Abreise einer Familie — Mann, Frau, zwei Kinder — beobachtet und aus der Menge des Gepäcks auf längere Abwesenheit geschlossen. Er war ins Haus gegangen, um zu sehen, aus welcher Wohnung der Mann die Koffer holte. Es war anzunehmen, daß Freunde oder Nachbarn einen Schlüssel hatten, um die Blumen zu gießen, aber für zwei Tage könnte es ein einigermaßen sicheres Quartier für Notfälle sein. Mit einem Universalschlüsselbund aus Panows Beständen hatte ich keine Mühe gehabt, die Tür zu öffnen. Daß wir schlecht schlafen konnten und früh wieder aufstanden, lag nicht an der Furcht vor Überraschung. Der Kampf in Panows Haus hatte auch die beiden Profis stärker mitgenommen, als sie mich glauben lassen wollten.
Kurz nach dem Fenstersturz war Lächner aus dem Bürogebäude gekommen, ohne daß jemand versuchte, ihn aufzuhalten oder zu verfolgen. Dennoch gab er uns ein unauffälliges Zeichen, wir sollten ohne ihn in unser Quartier zurückkehren. Sofort schalteten wir das Radio ein. Das erste Mal wurde Stettners Tod in den Zwölf-Uhr-Nachrichten erwähnt. Der bekannte Industrielle Laurenz Stettner starb durch einen Sturz aus dem Fenster seines Büros, hieß es. Wir ließen ein Mittagsmagazin laufen, aber bis zu den Ein-Uhr-Nachrichten wurde der Sturz nicht wieder erwähnt, und der Wortlaut der Meldung war unverändert. Von einem Massaker in der Eldenaer Straße war übrigens nichts bekannt; das wäre auf allen Sendern die Spitzennachricht gewesen.
Als Lächner während des Wetterberichts endlich eintraf, nahmen wir seine veränderte Erscheinung kaum zur Kenntnis. Der graue Bart war verschwunden, desgleichen Hornbrille und Stock, nur die Haare waren noch weiß. Erregt machten wir ihm Vorwürfe. Auch Zofia hielt sein Vorgehen für übertrieben.
»Ihr werdet es mir nicht glauben, aber ich habe ihn nicht mal angefaßt!« verteidigte sich Lächner.
»Stimmt. Glauben wir nicht!« sagte ich.
»Erzähl endlich, was passiert ist!« forderte ihn Zofia auf.
»Da ist nicht viel zu erzählen. Am Anfang sah es so aus, als ob wir wirklich endlich mal Glück haben. Es lief so ähnlich, wie wir es uns ausgemalt hatten. Fünf Minuten konnte er für einen würdigen alten Herren erübrigen, und dies sofort — später sei keine Zeit, weil er zu einer Sitzung müsse. Er war allein im Zimmer, die Tür zum Vorzimmer gepolstert, also konnte ich gleich zur Sache kommen. Als er die Pistole sah, pinkelte er zwar nicht ein, aber viel hat nicht gefehlt. Sofort fing er an zu jammern und zu betteln und hörte gar nicht auf meine Fragen. Irgendwie mußte ich ihn beruhigen. Ich steckte die Pistole weg und sagte ihm, das ist keine Entführung und kein Erpressungsversuch, sondern eine offizielle Untersuchung, die ich im Auftrag der Regierung mache. Das beruhigte ihn ganz und gar nicht, obwohl er mich verstanden hatte. Ich warf ihm noch ein paar Brocken hin. Zwischenlager Nord. Fusionsreaktor Lubmin. Das Geschäft mit den Russen. Auf einmal ist es passiert. Ich war nicht darauf gefaßt, und ich verstehe es nicht. Er drehte durch, ich konnte ihn nicht festhalten, als er zum Fenster rannte und einfach hinaussprang. Durch die Scheibe. Ich verstehe es nicht.«
»Ich auch nicht«, bekannte ich.
»Ich war so überrascht, daß ich fast den Abgang vermasselt hätte, aber dann konnte ich mich doch zusammennehmen und...«
»Still«, sagte Zofia und drehte das Radio etwas lauter. Endlich war ein Übertragungswagen vor dem Bürogebäude eingetroffen, und der Reporter hatte es geschafft, dem Leiter der polizeilichen Untersuchung sein Mikrofon vor den Mund zu halten. Hauptkommissar Herzen drückte sich vor klaren Antworten. Die Untersuchung habe ja soeben erst begonnen, mit Ergebnissen sei demzufolge nicht zu rechnen. Unfall, Selbstmord oder Mord?, beharrte der Reporter auf seiner Frage. Unfall könne ausgeschlossen werden, scherzte der Hauptkommissar, denn es sei unwahrscheinlich, daß Herr Stettner seine Fenster habe putzen wollen. Auf den ersten Blick sehe es wie Selbstmord aus, doch könne derzeit auch Mord nicht ausgeschlossen werden. Laurenz Stettner habe kurz vor seinem Sturz einen Besucher gehabt, »einen großen, dünnen Mann Ende Sechzig, leicht gehbehindert, läuft am Stock, völlig ergraut, trägt einen gepflegten Vollbart und eine dicke, sehr starke Hornbrille. Der Mann, dessen Name uns bekannt ist, wird gebeten, sich unverzüglich mit der nächsten Polizeidienststelle oder direkt mit mir in Verbindung zu setzen.« Der Hauptkommissar sagte seine Telefonnummer und gab dann, etwas unwillig, noch ein paar Auskünfte. Der gesuchte Zeuge habe sich nach Aussage der Sekretärin mit ihrem Chef gestritten und sehr erregt dessen Zimmer verlassen. Nein, er wolle nicht darüber spekulieren, ob das Gespräch im Zusammenhang mit Stettners Tod stehe. Nein, auch nicht darüber, ob sich Stettner vor der Vorstandssitzung fürchtete. Schon gar nicht darüber, ob die Gerüchte über eine bevorstehende Pleite der TransNukem fundiert seien. Das alles werde die Untersuchung ergeben.
Zofia drehte das Radio leiser.
»Der Bulle bildet sich nur ein, daß ihm mein Name bekannt ist«, sagte Lächner. »Ich mußte den Ausweis nicht zeigen, also entschied ich mich für eine Phantasievariante.«
»Namen sind ohne Bedeutung.«
Zofia konnte eine so günstige Gelegenheit, ihre Lieblingsredensart einzusetzen, nicht ungenutzt verstreichen lassen.
»Auch Personenbeschreibungen sind ohne Bedeutung. Ich werde die ursprüngliche Haarfarbe wieder herstellen. Dann hält mich keiner mehr für einen Endsechziger. Höchstens die Sekretärin würde mich bei einer Gegenüberstellung erkennen, aber dazu wird es nicht kommen. Wie sollten die mich finden? Vor allem: warum? Es war Selbstmord.«
»Hör auf!« schrie ich ihn an. »Hör auf!«
»Nicht so laut! Die Nachbarn!« sagte Zofia.
»Das ist mir scheißegal! Ich hab’s satt! Dieses idiotische Lügen! Schluß. Aus. Ich war dicht dran, euch wirklich zu mögen, euch fast für Freunde zu halten, auch wenn ihr mich die ganze Zeit verschaukelt habt. Meint ihr, das merke ich nicht, nur weil ich die Klappe halte? Eure Stories haben mehr Löcher als Fäden. Na und? Geschenkt! So sind Agenten eben. Und nach und nach steige ich trotz eurer Spinnereien dahinter. Aber Informationen sind etwas anderes als Mord! Was ihr gestern abgezogen habt, war ein bißchen hart, aber irgendwie noch zu verstehen, wenn man eure Regeln akzeptiert. Das heute ging zu weit. Man wirft Leute nicht einfach aus dem Fenster. Ihr könnt doch nicht alle umbringen, die ihr für Feinde haltet!«
»Kommt drauf an, wie viele es sind«, Zofia grinste.
Lächner blieb ernst. »Ich habe ihn nicht rausgeworfen!« schwor er.
»Obwohl dein Beruf Lügner ist, kannst du das nicht besonders gut. Was hat Stettner falsch gemacht? Hat er dir eine pampige Antwort gegeben? Oder den Namen einer Person genannt, die du unbedingt schützen willst? Wolltest du deine Spuren verwischen? Oder hattest du einfach mal Lust, jemanden durch eine Scheibe auf die Straße zu werfen? Ihr braucht doch keinen Grund, wenn ihr jemanden umlegen wollt.«
»Einen Grund schon: Wir tun das fürs Vaterland.«
Mein Ausbruch schien Zofia zu belustigen; sie reizte mich mit ihren ironischen Bemerkungen, und ihr konnte ich auch nicht böse sein. Wahrscheinlich wollte sie mir klarmachen, daß ich maßlos übertrieb. Mag sein, aber meine Wut wurde nicht kleiner. Ich konzentrierte sie auf Lächner.
»Killer! Du bist nicht besser als Basler, der Berufssadist. Der hat auch geglaubt, auf der richtigen Seite zu stehen und für eine gute Sache zu morden. Nur daß Leute wie ihr keine Ahnung haben, was gut und böse ist!«
»Doch«, sagte Lächner leise. »Das weiß ich.«
Er klang so resigniert, daß Zofia zu grinsen aufhörte.
»Ich bin anders, als du denkst«, fuhr Lächner fort. »Ich bin kein Killer. Oder wenn doch, dann nur in der Art, wie es jedem Soldaten passieren kann, daß er jemand tötet. Bisher waren es drei. Die ersten beiden in Selbstverteidigung. Das war bei einem Bürgerkrieg in Afrika. Ich mußte schießen, sonst hätten sie mich erschossen oder mit ihren Buschmessern zerhackt. Ich bin nicht mal sicher, ob die tödlichen Schüsse aus meiner Waffe kamen. Genaugenommen war das gestern der erste, der zählt. Ich hab’s mir nicht anmerken lassen, aber das war nicht leicht. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Nicht eine Minute! Das war zwar irgendwie auch Selbstverteidigung, und ich hab dir mit dem Stich wahrscheinlich das Leben gerettet, und eigentlich sollte mein Gewissen mich belobigen, aber das tut’s nicht. Stettner hab ich nicht angerührt! Das ist die Wahrheit. Ich bin kein Killer. Jedenfalls keiner, der mit eigener Hand Menschen umbringt. Aber ich habe Schlimmeres getan. Das sage ich, weil ich sehr wohl noch zwischen Gut und Böse unterscheiden kann.«
»Was ist schlimmer, als jemanden aus dem Fenster zu werfen?« fragte ich.
»Anzuordnen, daß jemand aus dem Fenster geworfen wird. Verantwortung zu tragen. Ich bin mitverantwortlich für den Tod von einer Million Menschen.«
Zofia erbleichte und schüttelte den Kopf. Ich war zu überhaupt keiner Reaktion fähig. Mit zitternden Händen entzündete Lächner eine Zigarette.
»Du stellst dir Geheimdienstarbeit wie in einem James-Bond-Film vor«, sagte er. »Und was wir zur Zeit erleben, wird deine Vorstellungen bestätigen. Aber das ist nicht typisch! Noch nie ist in Deutschland auf mich geschossen worden. Auch nicht anderswo auf der Welt, außer in Mozambique, und selbst dort war nicht ich gemeint, sondern nur zufällig unter denen, die angegriffen wurden. Die CIA macht manchmal nasse Sachen, bringt linksliberale Präsidenten und andere mißliebige Personen um. Der KGB hat das mit Dissidenten und Abweichlern auch getan. Wir nicht! Vielleicht die kleine Sondertruppe deines speziellen Freundes Pelzer, darüber weiß ich zuwenig, aber das Gros von uns sammelt Informationen. Nichts sonst. Und trotzdem sind wir nicht wirklich besser. Wir mischen uns ein. Überall auf der Welt. Wenn sich irgendwo zwei Parteien bekriegen, dann hofieren wir diejenige, die am wenigstens links ist. So war das in Mozambique. Die Regierung galt als prokommunistisch, also haben wir die RENAMO unterstützt, Widerstandskämpfer in der offiziellen Lesart. Wir haben ihnen Geld geschickt, Waffen, sogar Söldner. Wenn sie ungestört tagen wollten, haben wir ihnen Quartiere besorgt, hier in Deutschland. Und wir haben ihnen Berater zur Seite gestellt. Ich war einer davon. Ich habe gesehen, worum es wirklich ging. Klar, wenn sie Regierungstruppen trafen, haben sie auch auf die geschossen. Aber das kam selten vor. Meist überfielen sie Dörfer und haben Zivilisten umgelegt. Bauern, ihre Frauen und Kinder. Das war eine so blutrünstige Bande, daß ich es nicht aushielt. Ich konnte sie nicht beraten, ich wollte es nicht. Ich bin abgehauen. Die beiden, die ich getötet habe, waren von der RENAMO, wenigstens das. Ich war schon auf Territorium, das sie nicht kontrollierten, und zum Glück war auch eine FRELIMO-Einheit im Dorf. An dem Tag haben es unsere diensteigenen Mörder nicht geschafft. Das waren sie, Mörder. Ob sie wirklich eine Million Menschen umgebracht haben, weiß ich nicht. Vielleicht waren es mehr, vielleicht auch bloß die Hälfte. Das ist nicht wichtig. Wichtig ist, daß wir sie unterstützt haben. Nicht allein, natürlich hat die CIA die Aktion geleitet, und die gröbste Drecksarbeit haben die südafrikanischen Geheimdienste gemacht, die Leute von BOSS und dem MIS. Wir waren dabei. Ich war dabei. Ich habe es nicht angeordnet, ich wollte es sogar stoppen, habe Berichte geschrieben und mich unbeliebt gemacht. Aber bin ich ausgestiegen, als nichts passierte? Habe ich die Öffentlichkeit angerufen? Nein. Sie teilten mich der Ostaufklärung zu, wo es nicht so viele Leichen gab, jedenfalls nicht durch uns, und ich hab mich ducken lassen und mitgespielt.«
Lächner entzündete die nächste Zigarette. Seine Hände waren wieder ruhig. Da wir nichts sagten, sprach er weiter.
»Ich lege Leute nur um, wenn ich mit dem Arsch an der Wand stehe, und auch wenn mir das ein paar schlaflose Nächte einbringt, ist es richtig. Falsch ist es, eine Bande von Metzgern im Interesse der Freien Welt mit Schlachtwerkzeugen zu beliefern. Die Demokratie ist aus dem Ruder gelaufen, wenn so etwas gefördert wird. Ich verstehe nicht, wie man das Kroppzeug wählen kann, das dafür verantwortlich ist. Dummheit ist die wichtigste staatstragende Eigenschaft, aber sie entschuldigt nicht alles. Ich bin etwas schuldiger als das Stimmvieh, weil ich mehr gewußt habe, aber inzwischen sind Informationen über die Massaker zugänglich. Liest das jemand? Mußte auch nur einer deswegen seinen Hut nehmen? Und ich mach immer noch mit. Ich spioniere fürs Vaterland und für das beste aller freiheitlichen Systeme, ich laß mich bezahlen und warte auf meine Pension. Es ist ein beschissener Job, aber ich kann nichts anderes. Seit neunundsechzig bin ich dabei. Ich bin zu alt, noch was Neues anzufangen, und zu jung, schon in Rente zu gehen. Was wir jetzt durchziehen, das ist eine gute Sache, falls ich tatsächlich noch zwischen Gut und Böse unterscheiden kann. Doppelagenten und Verräter hat es immer gegeben. Das gehört zum Gewerbe. Sie richten Schaden an, aber der ist meist nicht sonderlich hoch, weil auf der anderen Seite auch genügend Doppelagenten sitzen und den Verrat zurückverraten. Bedenklich wird es dann, wenn sie in einflußreicher Position sitzen. Je höher, desto schlimmer. Unser Herr X scheint ziemlich weit oben zu sitzen. Der ist auf jeden Fall gefährlich. Nicht nur für uns, sondern für ein paar hundert oder tausend Menschen, unter Umständen sogar für die ganze Welt. Ihr denkt, ich übertreibe?«
Sind wir, dachte ich, tatsächlich drauf und dran, die Welt vor den Anschlägen eines Finsterlings zu retten? Kann das James Bond nicht wesentlich besser als wir?
»Das wäre nicht das erste Mal! Ihr scheint beide keine Ahnung von Geschichte zu haben, wenn ihr das nicht wißt. Schon mal von Apis gehört? Das war der Codename von Oberst Dragutin Dimitrijevic, Chef des serbischen militärischen Geheimdienstes, 1914 unter anderm verantwortlich für die Sicherheit des Erzherzogs Franz Ferdinand beim Besuch in Sarajevo. Dimitrijevic stand auch auf einer deutschen Gehaltsliste. Wir wollten uns nach Osten erweitern und brauchten einen Anlaß für einen Krieg. Er hat ihn geliefert und den Mord am österreichischen Thronfolger organisiert. Dem Mörder hat er eingeredet, es geht um Serbiens Unabhängigkeit. Die wurde damals nicht erreicht, erst heute, und wenn man sich anguckt, was da abläuft, wäre es vielleicht besser, daß sie es nie geschafft hätten. Der Doppelagent hat den bis dahin größten Krieg der Weltgeschichte mitinszeniert. Ich denke, daß wir ...«
Den Rest seines Vortrages bekamen wir nie zu hören. Zofia brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen und tastete nach ihrer Pistole. In der Wohnungstür drehte sich ein Schlüssel.

13.30 Uhr
 
Das Mädchen blieb erstaunt in der Tür stehen. »Guten Tag«, sagte sie unsicher; offenbar konnte sie sich unsere Anwesenheit so wenig erklären wie wir uns die ihre, doch sahen wir so anständig aus und saßen so ruhig am Couchtisch, daß es wohl seine Ordnung haben mußte, nur wußte sie nicht, welche. Sie mochte sechzehn oder siebzehn Jahre sein, war klein und etwas pummlig.
»Die älteste Tochter des Hauses Kunze, nehme ich an?« fragte Zofia.
»Ja. Ich bin Birgit. Und Sie?«
»Haben dir deine Eltern nichts gesagt?«
»Nein.«
»Setz dich zu uns«, schlug Zofia vor und deutete auf den freien Sessel. Verwirrt folgte Birgit der Einladung. Lächner schnaufte und verdrehte die Augen. Schon wieder ein Problem!
»Wann hast du denn das letzte Mal mit ihnen gesprochen?«
»Gestern morgen.«
»Kurz bevor sie abgefahren sind?«
»Nee, ganz früh. Sie sind bestimmt nicht vor Mittag weggekommen. Ick hab ‘ne Freundin besucht.«
»Ach so. Dann kannst du es ja nicht wissen. Mein Mann ist ein Schulfreund deines Vaters. Wir kamen gestern in Berlin an, unangemeldet, und hatten Glück im Unglück. Für ein Gespräch war kaum Zeit, aber wir suchten für ein paar Tage ein Quartier, und da bot uns dein Vater seine Wohnung an.«
»Schulfreund?« fragte sie und betrachtete mich mit sonderbarem Blick.
»Wir haben uns lange nicht gesehen«, sagte ich.
»Sie sind viel jünger als mein Vater.«
»Danke, das hört man gern. Ich habe mich ein bißchen besser gehalten. Aber nicht viel. Ich finde, daß er ganz gut aussieht für unser Alter. Als Tochter hat man natürlich einen anderen Blick dafür.« Es klang gestelzt; irgendwie lag es mir nicht, Schulmädchen zu belügen.
»Warum haben sie mich nicht angerufen?«
»Sie waren sehr in Eile, weil sie einfach nicht fertig wurden mit dem Packen«, erfand Zofia.
»Trotzdem«, beharrte Birgit. »Det machen sie nicht.«
»Was machen sie nicht?« fragte Zofia.
»Fremde in die Wohnung lassen und mir nicht Bescheid sagen.«
Sie war mißtrauisch, aber es reichte nicht zum Aufspringen und Wegrennen. Wir sahen vertrauenswürdiger aus, als wir waren.
»Wir sind keine Fremden. Und was heißt, sie machen es nicht? Sie haben es doch gemacht! Oder wie, glaubst du, sind wir sonst hier hereingekommen?«
»Sie hätten mir wenigstens ‘nen Zettel hingelegt!«
»Das hätten sie wirklich tun sollen«, stimmte Zofia ihr zu. »Verstehe ich ehrlich nicht, daß sie es vergessen haben. Auf die fünf Minuten wäre es auch nicht mehr angekommen.«
Birgit nickte, Zofia hatte ihre Meinung getroffen. Trotzdem war sie nicht ganz überzeugt, und schuld daran war offenbar meine jugendliche Maske. Dabei war ich vermutlich sogar älter als ihr mir unbekannter Vater.
»Wo sind Sie denn zur Schule gegangen?« wandte sie sich unschuldig an mich.
»Na hier!« sagte ich und deutete mit dem Daumen über die Schulter. Es schien die richtige Antwort gewesen zu sein, das Mädchen entspannte sich.
»Wenn es dich stört, daß wir hier sind, suchen wir uns natürlich ein anderes Quartier«, sagte Zofia. »Es wäre schön bequem gewesen, aber wir finden sicher was anderes. Morgen, spätestens übermorgen sind wir verschwunden.«
»Sind Sie Russin?« fragte Birgit.
»Geboren in Polen. Aber ich lebe schon lange hier und bin durch die Heirat Deutsche geworden. Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt. Magdalena Herrmann.«
»Frank Herrmann«, fiel mir ein.
»Und ich«, ließ Lächner zum ersten Mal seine Stimme hören, »bin der Hans-Peter Moser, Franks Cousin aus Freiburg in Breisgau. Wie wär’s denn, Magda, wenn du uns einen Kaffee kochst?«
»Wir haben noch nicht mal Mittag gegessen«, maulte Zofia-Magdalena, doch als brave Ehefrau und Cousine erhob sie sich sofort und ging in die Küche.
»In welche Klasse gehst du?« fragte Lächner.
»Jetzt sind Ferien. Ick komm in die elfte.«
»Warum bist du nicht mitgefahren?«
»Mit meinen Eltern?« Gesicht und Tonfall signalisierten, daß sie die Vorstellung für eine Zumutung hielt.
»Sturmfreie Bude in der Hauptstadt«, gab sich Lächner verständnisvoll. »Mal was anderes als immer nur Mallorca.«
Zofia kam zurück und teilte uns mit, der Kaffee laufe durch, doch Birgit beachtete sie nicht.
»Meine Eltern sind nicht in Mallorca. Noch nie gewesen.«
»Das war doch nur ein Witz.«
»Und wo sind sie? Det werden sie doch wenigstens gesagt haben, oder?«
»Willst du uns verhören?« Lächner tat, als sei er belustigt.
Birgit ließ sich nicht erschüttern. »Wo sind sie?«
»Frankreich«, sagte Lächner.
Vermutlich hatte er falsch geraten. Birgit verzog zwar keine Miene, doch schob sie sofort die nächste Fangfrage hinterher. »Wie heißt mein Vater mit Vornamen?«
Schweigen.
»Wie heißt er?« wiederholte sie.
Da hatte sie uns kalt erwischt.
»Dieter«, sagte Lächner.
»Daneben.«
»Joachim«, steuerte Zofia bei.
»Daneben. Und jetzt gibt der Schulfreund die Auflösung bekannt.« Sie sah mich an.
»Norbert.«
»Wer sind Sie?« fragte Birgit.
Zofia zog ihre Pistole. »Hätte sowieso nicht lange funktioniert«, murmelte sie.
Das Mädchen erbleichte.
»Wir sind die Guten«, erinnerte ich Zofia.
»Keine Angst«, beruhigte sie mich und Birgit. »Wir wollen dir nichts tun. Auf gar keinen Fall. Du hast recht. Wir kennen deine Eltern nicht, und sie kennen uns nicht. Wir sind ohne ihre Erlaubnis hier. Sie wissen nichts davon. Aber wir sind keine Gangster. Ganz im Gegenteil. Gangster sind hinter uns her. Als wir gestern sahen, daß deine Eltern in Urlaub fuhren, haben wir uns in der Wohnung versteckt. Wir stehlen nichts, wir machen nichts kaputt, und falls doch, bezahlen wir es. Was wir essen, haben wir uns selber gekauft. Und in zwei Tagen wollten wir sowieso verschwinden.«
Obwohl Zofia recht überzeugend klang, blickte das Mädchen uns starr an. Sie hatte Angst, und das konnte ich ihr nicht verdenken. Auf einmal war eine Welt in ihr Zuhause eingebrochen, die sie bislang für ein Fernsehmärchen gehalten hatte, falls sie überhaupt solche Filme sah. Drei fremde Menschen hatten die Wohnung besetzt und bedrohten sie mit einer Pistole. Das war zuviel für einen Teenager.
»Wir bitten dich, nicht zu schreien und nicht wegzurennen. Dann passiert dir nichts«, sagte Lächner.
»Halt die Klappe!« fuhr ich ihn an. Das Mädchen zuckte zusammen. Ich mäßigte meine Lautstärke. »Das kannst du mit einem Kind nicht machen!«
»Ich mach doch gar nichts!« verteidigte sich Lächner.
»Wäre ja auch noch schöner! Hör zu, Birgit, ich weiß, daß es wie ein Alptraum für dich ist, und wir können reden, soviel wir wollen, es wird nicht besser. Ich versuch’s trotzdem.«
Sie starrte auf den Tisch, doch hatte ich den Eindruck, daß sie zuhörte.
»Dir wird auf keinen Fall etwas passieren. Auch nicht, wenn du schreist oder wegrennst. Margareta steckt jetzt die Pistole weg. Sie wollte nicht auf dich schießen, sie wollte nur, daß du nicht schreist und wegrennst. Wenn du schreist, halten wir dir den Mund zu, und wenn du wegrennst, halten wir dich fest, aber etwas Schlimmeres wird dir auf keinen Fall geschehen. Du merkst doch, daß wir alle versuchen, dich zu beruhigen und mit dir zu reden. Das wäre nicht nötig, wenn wir dir was tun wollten. Das alles hat nichts mit dir zu tun. Wir haben selber ein Problem, wir haben selber Angst. Für mich ist die Situation genauso absurd wie für dich. Ich bin Journalist und nur durch Zufall dazugekommen. Die beiden anderen arbeiten für den Geheimdienst und haben etwas herausgefunden, was gefährlich ist, und ein paar Leute wollen sie daran hindern, ihr Wissen weiterzugeben. Sie haben auf uns geschossen, wir sind entkommen und haben uns versteckt. Solange wir nicht ganz genau herausgefunden haben, wer uns erschießen wollte, können wir nicht mal zur Polizei gehen. Noch einen oder zwei Tage, dann haben wir die Lösung, dann verschwinden wir aus deiner Wohnung und deinem Leben.«
Zofia hatte die Waffe tatsächlich weggesteckt. Birgit hatte noch immer Angst, aber sie blickte uns wieder an.
»Gehen Sie weg«, sagte sie leise.
»Hier können sie uns nicht finden. Versteh doch, wir haben auch Angst.«
»Wie soll das weitergehen?« fragte Birgit resigniert.
»Wir werden es schon zusammen aushalten.« Zofia gelang es, munter und fröhlich zu klingen, obwohl ihr ebenso trübe zumute war wie mir. Das hätte einfach nicht passieren dürfen! Es war nicht heroisch, sondern lächerlich. Wir mußten nicht nur die Welt retten, sondern hatten dabei auch noch einen verängstigten Teenager auf dem Hals. Das verdoppelte unsere Schwierigkeiten.
»Wenn Sie sich hier verstecken, werden Sie Ihren Fall nicht lösen«, sagte das Mädchen.
»Wir würden uns ja eine neue Wohnung suchen, aber da kann es ähnliche Schwierigkeiten geben.« Lächner ließ seine Stimme sanft klingen, um sie nicht zu erschrecken und mich nicht zu reizen. »Glaub mir, es gibt keine andere Lösung, als hierzubleiben und der Situation das Beste abzugewinnen.«
»Sie wollen mir wirklich nichts tun?«
»Auf keinen Fall«, versicherte Zofia. »Du bist nicht unsere Geisel und nicht unsere Gefangene. Du bist unser Gast. Wenn du willst, unsere Gastgeberin.«
»Ick will nicht«, trotzte Birgit, »aber es bleibt mir nichts anderes übrig.«
»Doch«, sagte Zofia. »Du kannst uns verraten, jetzt, wo du weißt, daß wir dir auf keinen Fall etwas tun werden. Du kannst es immer wieder versuchen, ohne daß dir was passieren wird. Aber dann wird wahrscheinlich uns etwas passieren. Kann sein, daß wir getötet werden. Und das willst du sicher auch nicht.«
»Ich kenne Sie ja gar nicht«, sagte Birgit. Unvermutet lächelte sie mich an und setzte fort: »Und Sie kennen sich auch nicht so gut. Sie haben Ihre Frau Margareta genannt. Ich denke, sie heißt Magdalena!«
»Namen sind ohne Bedeutung.«

16. Juli, 01.30 Uhr
 
Zwei Polizisten schlenderten im müßiggängerischen Diensttempo an einem Bürogebäude in Berlin-Charlottenburg vorbei. Sie trugen die Sommeruniform — braune Hose, khakifarbenes kurzärmliges Hemd, darüber der Temperatur wegen die farblich zur Mütze passende Jacke. Es war ein Pärchen. Die Frau mochte Mitte Dreißig sein. Sie hatte langes rotes Haar und war unwesentlich größer als ihr Partner. Der Mann hatte einen dunkelblonden Schnurrbart und dunkelblondes Haar. Er mochte Ende Dreißig sein und sah recht flott aus in der Uniform. Zumindest fand er das selber. Das Pärchen waren Zofia und ich. Die Verkleidung stammte aus dem Fundus des seligen Panow. Zofias Uniform paßte, als wäre sie eigens für sie geschneidert worden, während meine Hose entschieden zu lang und zu eng war. Ich mußte den obersten Knopf offen lassen und die Hosenbeine umkrempeln, doch in der Nacht fiel das sicher niemandem auf.
Kein Licht im Bürogebäude. Das hatte Lächner vorausgesehen; auch ein ungeklärter Todesfall würde an den Gepflogenheiten im Hause nichts ändern. Es gab keinen Grund, das Büro zu bewachen. Schlimmstenfalls war es versiegelt. Kein ernstzunehmendes Hindernis. Siegel sollten brave Bürger abschrecken. Nicht Einbrecher oder Agenten.
Den Nachmittag und Abend hatten wir mit Beratungen verbracht. Birgit nahm daran teil. Wir hofften, daß sie unsere Gegenwart bereitwilliger tolerierte, wenn sie wußte, worum es ging. Es gab, abgesehen von der Zahl der Leichen am Wegesrand, wenig, was vor ihr geheimgehalten werden mußte. X wollte vertuschen, wir aufdecken. Mulmig war mir trotzdem. Wenn die Sache überstanden war — was dann? Das Mädchen würde nicht dichthalten. Wenn entschieden wurde, die Affäre intern zu regeln, war sie in Gefahr. Eine Mitwisserin, die zum Schweigen gebracht werden mußte. Galt das nicht auch für mich? Im Augenblick war daran nichts zu ändern. Zofia und Lächner würden mir nichts tun, das wußte ich. Nicht mal, wenn sie den Befehl dazu bekamen. Dem Mädchen würden sie ebenfalls nichts tun. Und an das Später konnte ich später denken.
Daß es um ein Öko-Verbrechen ging, nahm Birgit für uns ein. Leute, die Atommüllschiebungen verhindern wollen, können einfach keine Verbrecher sein. Nur, daß wir nicht zur Polizei gingen, verstand sie nicht. Fast alles hatte sie sich schweigend angehört, doch zu diesem Punkt ersparte sie uns ihren Rat nicht. Öffentlichkeit ist eine Waffe, verkündete sie. Es muß verhindert werden, daß Atommüll einfach verbuddelt wird. Der Abfall kann Tausende verstrahlen, über das Grundwasser sogar Zehntausende. Daß irgendwo in der Zentrale des Dienstes ein Mann sitzt, der sich bestechen ließ, ist nicht so wichtig. Herr X wird nicht der erste, nicht der einzige und nicht der letzte korrupte Agent sein. Daß er vor uns Angst hat und wir vor ihm, verstehe sie durchaus, aber die Polizei wird uns vor ihm schützen, und wenn erst einmal alles veröffentlicht ist, was wir wissen, ist es für diesen X zu spät, uns am Reden zu hindern. Unsere Argumentation, daß nur Leute wie X es den Wirtschaftsverbrechern möglich machen, über Ländergrenzen hinweg zu operieren und daß die Polizei nicht mal friedliche Bürger schützen könne, schon gar nicht in Ungnade gefallene Geheimagenten, leuchtete ihr nicht ein.
Trotzdem blieb sie selbst dann friedlich, als wir sie in ihr Zimmer schickten, um die nächsten Schritte zu planen. Allerdings vertrauten wir ihr nur, soweit wir ihre Schritte kontrollieren konnten, also war Lächner in der Wohnung geblieben, um sie unauffällig zu bewachen. Ohnehin mochte er sich in der Nähe des Hauses, aus dessen oberstem Geschoß sich Stettner zu Tode gestürzt hatte, nicht blicken lassen.
Die Straße war kaum belebt. Sofern die Absturzstelle ein Wallfahrtsort geworden sein sollte, war der Andrang der Sensationspilger jedenfalls schon vor Stunden abgeflaut. Wir vollendeten unsere Runde um den Häuserblock und schlenderten zum Eingang. Ich fummelte mit dem Universalschlüsselbund an der Tür herum, Zofia behielt die Straße im Auge.
»Mach hin«, raunte sie mir zu. »Da kommen Leute.«
Ich knurrte und probierte den nächsten Schlüssel. Und den nächsten.
Drei angetrunkene junge Männer blieben stehen und sahen uns zu. Zofia wandte sich zu ihnen um und lächelte sie an. Sie lächelten zurück und gingen weiter. Wenn Polizisten guter Laune sind, geschieht nichts Spannendes, also gab es keinen Grund, uns bei der Arbeit zuzusehen.
Endlich schnappte das Schloß auf. Wir öffneten die Tür, gingen ins Haus und sperrten hinter uns ab. Ich merkte mir den Schlüssel, der gepaßt hatte, und verstaute das Bund. Drei Sekunden später mußte ich es wieder vorholen, denn die Tür oberhalb der breiten Eingangstreppe war ebenfalls verschlossen. Diesmal brauchte ich nicht zu suchen, es war derselbe Schlüssel.
Die Lobby war nicht sonderlich groß, kaum mehr als ein verbreiterter Durchgang zu den Fahrstühlen und der Haupttreppe. Viel war nicht zu erkennen in der Finsternis. Daß dort Tische und Sessel standen, bemerkte ich erst, als ich dagegenrammelte. Die Taschenlampen schalteten wir nicht ein, da das Licht von der Straße aus gesehen werden könnte.
»Nicht zum Fahrstuhl«, bremste Zofia mich flüsternd.
»Laufen?« murrte ich.
»Es gibt zwei Seitentreppen für Notfälle«, sagte Zofia. »Auf jeder Etage Stahltüren mit Panikschlössern. Von innen stets offen, von außen stets zu.«
»Sechs Schlösser öffnen? Wenn wir den Fahrstuhl nehmen, ist es nur eins.«
»Wir haben nur den Universalschlüssel, keine Universalmagnetkarte.«
Dem konnte ich nicht widersprechen. Die TransNukem hatte den rechten Trakt gemietet, also gingen wir nach rechts. Die Feuertüren ließen sich mit Panows Ausrüstung mühelos öffnen. Eigentlich erstaunlich, daß es nachts nicht in sämtlichen Büros von Spionen wimmelt, wenn es solche Schlüsselsysteme gibt. Zwei Minuten später jedenfalls standen wir vor der Tür des Vorzimmers von Stettners Büro. Eine halbe Minute später dahinter. Zofia schaltete die Taschenlampe an. Kein Siegel vor der Tür zum Zimmer des Chefs. Eine Klinke, die zu drücken nichts nutzte, und neben der Tür ein elektronisches Schloß. Mit penetrantem giftgrünem Blinken wies es darauf hin, daß es in Betrieb war. Zehn Ziffern, zwei Symbole.
»Ein Pincode«, sagte ich. »Nun sind wir am Arsch.«
»Nicht unbedingt.« Zofia kramte in ihrer Tasche, holte ein Kästchen und einen Pinsel hervor. »Graphitstaub«, erklärte sie. »Damit sichert man Fingerabdrücke. So ein Code wird nicht jeden Tag gewechselt.« Sie verteilte den Staub auf der Tastatur und pinselte darauf herum. »Das heißt, Abdrücke sind nur auf den Tasten, die die Tür öffnen. Das sind...hm, nur drei. Bei dieser Sorte Schloß sind es eigentlich vier.«
»Eine Taste zweimal, ist doch klar. Nur welche? Und in welcher Reihenfolge?«
»Es sind die Ziffern eins, fünf und sechs.«
»Mindestens fünfzehn Kombinationsmöglichkeiten, glaube ich.«
»Sechsunddreißig, um genau zu sein.«
Gott, war die Frau schlau!
»Vielleicht haben wir einen Fehlversuch, ehe ein Alarm losheult.«
»Dann müssen wir die fünfunddreißig falschen eben vermeiden.«
»Wie denn?«
»Du bist der Schlosser. Laß dir was einfallen.«
»Erstens bin ich kein Schlosser ...«
»Sondern Journalist und freier Geheimdienstmitarbeiter, ich weiß.«
»Ich habe nie für einen Geheimdienst gearbeitet.«
»Wenn nicht früher, dann eben jetzt. Und zweitens?«
»Als ich gelernt habe, übrigens nicht mal ein halbes Jahr und ohne großen Erfolg, waren die elektronischen Schlösser noch gar nicht erfunden. Jedenfalls nicht im Osten.«
»Dann muß ich es aufschrauben und sehen, ob wir es überbrücken können.«
»Verstehst du was davon?«
»Na ja...«
»Kann man den Code eigentlich frei wählen, wenn so was eingebaut wird?«
»Natürlich.«
»Die meisten suchen sich was Einfaches. Eine Zahl, die anderen unbekannt ist, die sie selbst aber nie vergessen.«
»Der erste Kuß ...«
»So romantisch war Stettner sicher nicht. Er wird den eigenen Geburtstag gewählt haben. Wann ist er geboren?«
»1965. Sechs und fünf. Tag und Monat weiß ich nicht. Immer noch fünf Möglichkeiten. Erster, fünfter oder sechster Januar, erster Mai, erster Juni.«
»Die Chancen stehen eins zu vier. Keine schlechte Quote. Wenn wir zwei Versuche haben, sogar noch besser. Übrigens glaube ich nicht, daß ein Alarm dranhängt. Nicht an einer Bürotür.«
»Und wenn doch?«
»Erster Mai paßt nicht zu Stettner. Kampftag der Werktätigen.«
Zofia sah mich merkwürdig von der Seite an. »Kampftag der Werktätigen?«
»So hieß das bei uns. Bei euch doch auch?«
»Erster Juni paßt auch nicht zu ihm. Internationaler Tag des Kindes. Stettner war nie Kind.«
Entschlossen drehte sie sich der Tafel zu, und ohne zu überlegen, tippte sie sechs, eins, sechs, fünf ein. Ein Klicken, und die Tür ließ sich aufklinken.
Stettners Büro war bescheidener eingerichtet, als ich mir vorgestellt hatte. Ein großer, schwarzer Schreibtisch mit zwei Telefonen, einer Wechselsprechanlage und einem Faxgerät, dahinter ein hochlehniger dunkler Lederdrehsessel, ein Aktenschrank, ein runder Tisch mit drei Stühlen und ein Computertisch, auf dem zwei Computer standen. Der eine, der mit einem dritten Telefon verbunden war, interessierte Zofia nicht. In den hätte sie sich auch von außerhalb einhacken können. Wir waren wegen des zweiten Geräts eingebrochen, dessen Existenz Lächners geschulter Beobachtungsgabe nicht entgangen war. Wozu brauchte der Jungunternehmer das, wenn nicht dafür, um Daten zu speichern, die keinerlei Zugriff von Unbefugten ausgesetzt werden durften?
Zofia drückte auf den Power-Schalter. Piepend erwachte der Computer, und über den Bildschirm jagten weiße Buchstaben auf schwarzem Grund.
»MS-DOS«, sagte sie.
»Ist das gut oder schlecht?«
»Für uns gut, da kenne ich mich besser aus als auf einem Mac. Habe ich mir gedacht!« rief sie plötzlich.
›Enter Password‹ stand auf dem Bildschirm.
»Das werden wir nicht so leicht rauskriegen wie den Türcode«, vermutete ich.
»Viel leichter und ohne Nachdenken!« Zofia — ihre Glock trug sie wie gewohnt im Achselhalfter — zog aus dem zur Uniform gehörenden Holster ein Gerät, suchte sich auf der Rückseite des Computers die geeignete Schnittstelle und aktivierte die Box. »Wie gesagt, ich habe es erwartet. Das Gerät sucht selbständig den richtigen Code. Wir brauchen nur abzuwarten.«
Warten kann unangenehm werden, wenn man vor einem Monitor sitzt, auf dem sich absolut nichts tut. Selbst in angenehmer Gesellschaft schleicht die Zeit quälend langsam voran, ganz im Unterschied zu meinem Herzen, das sich unnötigerweise für einen rasenden Galopp entschieden hatte und so laut ratterte, daß man es sicher im Vorzimmer hören konnte. Zum Schwatzen waren wir beide nicht aufgelegt. Zofia ließ sich nichts anmerken, aber auch sie war nervös. Außer uns war niemand im Gebäude, doch war es durchaus möglich, daß eine Wachgesellschaft in regelmäßigen oder unregelmäßigen Abständen nach dem Rechten sah oder daß eine Putzkolonne anrückte. Lag in den benachbarten Büros das SEK auf der Lauer nach dem Mörder, den es stets an den Ort der Tat zurückzieht? Bemerkte jemand, der unsere Uniform zu Recht trug, das Flackern hinter dem zerbrochenen Fenster?
Das Fensterbrett befand sich knapp unterhalb der Bauchhöhe. Kein unüberwindliches Hindernis für einen Sprung, während das Hinausschubsen nicht so leicht sein dürfte. Ich ging hinüber und sah es mir an. Die Polizei hatte das gleiche Mittel verwendet wie Zofia bei der Codetafel. Deutlich zu erkennen der Abdruck eines Schuhs. Das erleichterte mich: Der erste sichere Hinweis dafür, daß Lächner uns nicht belogen hatte.
Ich blickte aus dem Fenster auf die Straße. Kein Mensch zu sehen. Ein einsamer Streifenwagen kam angefahren. Ich zuckte zurück, dann sah ich wieder hinaus. Die Funkstreife fuhr vorüber.
Zofia begann zu tippen.
»Sind wir drin?« fragte ich und trat hinter ihren Stuhl.
»Wir ja, aber es nicht.«
»Wie meinst du das?«
»Gelöscht. Viel gelöscht. Fast alles.«
»Soweit ich weiß, kann man Gelöschtes wieder sichtbar machen, solange es nicht überschrieben ist.«
»Was glaubst du, was ich gerade tue? Meine Memoiren tippen?«
Sie hämmerte auf den Tasten herum, bis ein Text erschien. Er war derb verstümmelt und mit Fragmenten aus mindestens zwei anderen Texten durchsetzt, doch war es ein Anfang.
Ich muß zugeben, daß ein anderes Gefühl stärker war als die Angst: Freude. Vielleicht war sie hektisch und überhitzt, aber sie war echt. Endlich erlebte ich, wovon ich in meinem ereignisarmen Leben oft geträumt hatte. Dieser Traum war so stark gewesen, daß ich ihn, als mir Zweifel an der eigenen Identität kamen, für realer hielt als die Erinnerungen an die Tristesse meines Alltags. Wahrscheinlich träumen viele Männer etwas Ähnliches, doch bekommen die meisten nie die Chance, in ihre fiktiven Welten hineinzusteigen. Und sollte es ihnen doch zustoßen, werden sie damit gewiß nicht so gut fertig wie ich.
Es war wie ein Wunder. Vor vier Tagen hatte ich einsam in meiner Wohnung herumgehangen und meine Depressionen gehätschelt. Alles hatte ich verloren, die Geliebte, die Freunde, sogar die Identität. Nichts war mir geblieben als das Leben und die Gewißheit, daß ich es vergeudet hatte. Wenn ich einen Energieschub hatte, raffte ich mich auf und holte mir aus der Videothek einen Actionfilm. Sämtliche Mitarbeiter der Videothek kannten und grüßten mich, obwohl ich selten mit ihnen sprach. Ich war ihr bester Kunde, weil ich oft Energieschübe kompensieren mußte. Was nutzt Energie, wenn niemand sie haben will?
Auf einmal steckte ich selber mitten in einem Actionfilm. Ich hatte einen väterlichen Freund gewonnen und eine junge Frau zur Seite, die mir von Stunde zu Stunde besser gefiel, obwohl sie mit der Waffe leichtfertig umging und eine mehr als obskure Existenz war. Wahrscheinlich reizte mich gerade das. Nach Majas Tod hatte ich keine Frau mehr angesehen. Zofia war die erste, die unter der Tarnkappe hervorgeschlüpft war, die ich der Welt übergestülpt hatte.
Genau betrachtet, war es zu schön, um wahr zu sein. Ein Zauberer klopft mit seinem Stab an meine Pforte, fegt die Spinnweben hinweg, und es wird hell um mich herum. Die Welt ist nicht nur ein Jammertal. Sie kann ein Ort sein, an dem sich Träume erfüllen. Nein, dachte ich, das stimmt mit meiner Erfahrung nicht überein. Träume erfüllen sich nicht so leicht. Meist erfüllen sich ja nicht mal die Alpträume. Das kann nicht real sein. Das ist ein Abenteuerfilm, der eigens für mich inszeniert wurde. Aber der Fall war echt, die Toten bewiesen es. Und auch dieser Einbruch in ein Büro mitten in Berlin war echt. Vor dem Fernseher hätte mein Herz nicht so mörderisch gepoltert.
»Scheiße«, fluchte Zofia und holte mich wieder in die Wirklichkeit zurück. Hektisch hämmerte sie auf der Tastatur herum.
Der Lohn der Angst, der Mühen, der Ausdauer, der erwiesenen Fähigkeiten war unangemessen. Leistung zahlt sich nicht aus. Eine Stunde später waren wir nicht wesentlich schlauer. Nur noch nervöser. Die teilweise rekonstruierten Texte waren alles andere als brisant. Entwürfe von Briefen und Berichten, Bilanzen, ein paar persönliche Notizen. Die zuweilen brillanten Formulierungen, die Stettner bei Interviews spontan einfielen, hatte er auf seiner alten No-Name-Maschine vorbereitet. Seine Geheimnisse hatte er dem Computer nicht anvertraut, und gelöscht hatte er die Daten, weil sie nicht mal ihm etwas bedeuteten oder weil das 40-Mega-Laufwerk voll war. Zofia kopierte einige Dateien, die sie in Ruhe studieren wollte, und schaltete das Gerät aus.
Uns war längst klar, daß unsere Glückssträhne noch immer nicht begonnen hatte.
»Eine verlorene Nacht«, sagte Zofia.
Das hatte ich bis eben auch gedacht, und daher weiß ich nicht, woher mir plötzlich der Einfall kam, aus der Pleite einen Vorteil zu ziehen.
»Nicht unbedingt. Klar, wir haben nichts gefunden. Das wissen wir. Aber weiß es X?«
»X weiß nicht mal, daß wir hier sind.«
»Dann müssen wir dafür sorgen, daß er es erfährt.«
Zofia war schnell im Denken, sie verstand mich und erklärte mich zum Genie. Ich sah keine Veranlassung, ihr zu widersprechen. Wir mußten unaufdringliche Spuren unserer Anwesenheit hinterlassen, die auffielen. Die Sekretärin würde die Polizei rufen, die Polizei die Presse unterrichten. Es mußte klar sein, daß unser Besuch den Computern galt. Falls Stettner mit X in Verbindung gestanden hatte, würde es X beunruhigen, daß wir nun noch dichter an ihn herangekommen waren. Nervöse Menschen machen Fehler. Genau das, worauf wir angewiesen waren.

08.30 Uhr
 
Das frühe Aufstehen machte mich fertig. Inzwischen sah ich trotz der schmeichelhaften Maske fast wieder so alt aus, wie ich war. Lächner hatte mich um sieben geweckt und mir ein Gebräu vorgesetzt, das er seit unserem gemeinsamen Greifswalder Morgen für starken Kaffee hielt. Aber nach zweieinhalb Stunden Schlaf erschien es mir wie Abwaschwasser. Ich mußte mir selbst einen Kaffee brühen, um einsatzfähig zu werden. Genau darum ging es nämlich: um den nächsten Einsatz. Schon wieder wurde ich gebraucht. Inzwischen lief nichts mehr ohne mich bei den Schlapphüten.
In der Nacht hatte es keine Probleme gegeben, das Büro in jenen Zustand zu versetzen, den wir für angemessen hielten. Mag sein, daß wir etwas dick auftrugen, doch fürchteten wir, weniger könnte zu wenig sein. Zofia schaltete den alten Computer wieder ein und gab das von ihrem Gerät ermittelte Paßwort ein. Wir wischten alles ab, was wir angefaßt hatten. Wenn der Einbruch, wie gewünscht, bemerkt wurde, mußte das Inkognito der Einbrecher desto sorgfältiger gewahrt bleiben. Die Tür mit dem elektronischen Schloß lehnten wir nur an und hofften, daß der Zug beim Öffnen der Vorzimmertür sie nicht zuwerfen würde.
Keiner der Nachtschwärmer beachtete uns mehr, als zu erwarten gewesen war. Ungehindert erreichten wir das Auto, warfen unsere Dienstmützen auf den Rücksitz und fuhren heimwärts. Trotz der mageren Ergebnisse waren wir aufgekratzt und überdreht. Wir malten uns das Gesicht von X aus, wenn er im Radio hörte, daß in das Büro der TransNukem eingebrochen, aber nichts gestohlen worden war. Den Tätern scheine es nur darum gegangen zu sein, Zugriff auf den privaten, mit keinem Netz verbundenen Computer des am Vortag verunglückten Firmenchefs zu bekommen. Über die blödesten Witze schütteten wir uns vor Lachen aus und erfanden auf der Stelle neue, nur um nicht aufhören zu müssen mit dem Lachen. Ich fühlte mich so wohl wie selten, und Zofia ging es vermutlich nicht anders.
Im Friedrichshain, in einer dunklen Straße, zogen wir uns um. Falls uns ein spät heimkehrender, ein schlafgestörter oder ein früh aufbrechender Mieter des Hauses, in dem unser Notquartier lag, sehen sollte, würden ihm Polizisten ungewöhnlicher und bemerkenswerter erscheinen als Zivilisten. Zofia hatte keine Hemmungen, sich in meiner Gegenwart zu entkleiden. Das hatte sie bereits im Hotel getan und sich offenkundig nichts dabei gedacht. Vielleicht bemerkte sie nicht, was sie damit bei mir auslöste, vielleicht war es ihr egal, oder sie genoß es sogar. Im Auto allerdings waren wir uns innerlich so nah, daß sie nicht mehr so tun konnte, als entgehe ihr mein Interesse. Sie lachte mich an, sandte aber kein Signal aus, eine Annäherung meinerseits sei erwünscht.
In der Wohnung versuchte ich es dann doch. Sie wehrte mich freundlich ab, noch habe sie zu arbeiten, gab mir einen schwesterlichen Kuß und schlich in Birgits Zimmer, in dem ein Computer stand. Das Mädchen schlief so tief, daß Zofias Arbeit zwei Meter neben ihrem Kopfkissen sie nicht weckte. Und ich hatte mich hingelegt und gehofft, Zofia werde bald fertig werden und nachkommen. Dann war ich eingeschlafen. Am Morgen hatte sie neben mir gelegen, und als ich aufstand, hatte sie sich auf die andere Seite gewälzt, ohne die Augen zu öffnen.
Völlig ohne Ergebnis war unser Einbruch doch nicht gewesen. In den Files von Stettners Computer war Zofia immer wieder auf einen Namen gestoßen: Manuel Reymann. Stettners Junge für alles, so etwas wie ein sehr persönlicher Sekretär, Mitarbeiter und Kompagnon, auf jeden Fall ein Mann, der über die TransNukem nicht weniger wußte als sein Chef. Wir schnappen ihn uns, ehe er seine Wohnung verläßt, hatte Lächner gesagt. Das Einbrechen wird mir langsam zur lieben Gewohnheit, war mir nach der ersten Tasse des Selbstgebrühten eingefallen. Als ich nach der zweiten Tasse die Augen aufbekam, sah ich endlich, daß mein Partner die Rentnermaske angelegt hatte.
Nun saßen wir also wieder im Auto, und ich tat, wofür Lächner mich ursprünglich engagiert hatte. Ich chauffierte ihn. Unterwegs hielt ich vor einem Zeitungskiosk und kaufte mehrere regionale und überregionale Zeitungen. Der Berufsverkehr hatte begonnen. Obwohl ich die meisten Schleichpfade kannte, würden wir einige Zeit bis zum Wannsee brauchen. Die konnte Christoph mir durch Vorlesen verkürzen.
In den Boulevardzeitungen war Stettners Tod der Aufmacher, in den seriöseren wurde er immerhin noch auf der Titelseite gemeldet.
»Tragisch: Todessturz eines Jungmillionärs«, schrieb Bild.
Die BZ übertrumpfte sie mit »Pleite? Millionär sprang vom Hochhaus«. Nun ist ein sechsstöckiges Gebäude zwar nicht direkt ein Hochhaus, doch sprach der Titel Lächner offenbar stärker an als der andere, denn er begann seine Presseschau mit der BZ.
 
Ein Schock am Montagmorgen: Neben den Passanten schlug ein Mann auf, verspritzte sein Blut über den Asphalt. Es war Laurenz Stettner (31), Atom-Millionär. Chef der TransNukem, spezialisiert auf die Entsorgung radioaktiver Abfälle. Sein Büro war im sechsten Stock. Das Fenster ist zerbrochen. Seine Sekretärin Iris G. (37): »Er war wie immer. Fröhlich und guter Dinge. Ich glaube nicht an Selbstmord!« Kann es Mord gewesen sein? Wer war der geheimnisvolle Besucher in Stettners Büro? Lesen Sie bitte weiter auf Seite 3.
 
Lächner blätterte um.
 
Mysteriöser Besuch, dann Todessturz
 
Laurenz Stettner (31) galt als Wunderkind der deutschen Wirtschaft. Seine Eltern sind einfache Leute, Gaststättenbesitzer. Stettner brachte es im Wortsinn vom Tellerwäscher zum mehrfachen Millionär. Ein tüchtiger Manager, sagen alle, die ihn kannten. Verwöhnt vom Glück. War der Erfolgsmann ausgebrannt? Drohte TransNukem die Pleite? »Das glaube ich nicht«, sagt Wilhelm G. (51), Aktionär der Firma. Er war zu einer außerordentlichen Beratung gerufen worden. Die fiel nun aus. Was war der Grund für die Beratung? Wilhelm G. weiß es nicht. Geriet Stettner in Panik? Hat er spekuliert und verloren? Kurz vor dem Fenstersturz verließ ein Mann das Büro. Ende 60, weißes Haar, weißer Bart, leicht gehbehindert. »Er wurde ohne Termin vorgelassen«, sagt Chefsekretärin Iris G. (37). »Als er nach drei Minuten wieder herauskam, war er erregt, schimpfte. Herr Stettner hatte sein Angebot abgelehnt.« Was war das für ein Angebot? Worum ging es bei dem Gespräch? Hauptkommissar Hans Herzen (47) von der Berliner Kripo: »Das wissen wir noch nicht, aber wir haben eine vielversprechende Spur.« Laurenz Stettner war einer von Deutschlands begehrtesten Junggesellen. Das war ihm zu wenig. »Er lebte nur für die Firma«, sagt Iris G. Und gestern ist er dort auch gestorben.

 
Lächner überflog die anderen Artikel und trug sie mir in dosierter Auswahl vor. Die seriösen Zeitungen berichteten ausführlicher über Stettners Werdegang, hatten aber trotz der drei- bis viermal so langen Texte auch nicht mehr mitzuteilen. Ein rätselhafter Selbstmord.
»Und du hast gedacht, ich habe ihn runtergeschmissen!« triumphierte Lächner.
»Tut mir leid«, entschuldigte ich mich. »Was hättest du denn geglaubt, wenn es mir passiert wäre?«
»Wahrscheinlich dasselbe«, sagte Lächner gutmütig, um dann doch noch nachzuhaken: »Oder auch nicht. Du bist kein Killer, und ich bin auch keiner. Mag ja vieles unklar sein, aber das steht fest!«
»Du kommst von Berufs wegen öfter als ich in Situationen, wo du auf Leute schießt«, verteidigte ich meinen längst abgelegten Verdacht.
»Stimmt gar nicht. Abgesehen von Afrika, und das hatte nichts mit dem Beruf zu tun, warst du jedesmal dabei.«
»In Greifswald nicht!« erinnerte ich ihn.
»Dabei ist doch nichts passiert!« protestierte Lächner. »Nur mir! Dreißig Schuß und kein Treffer. Das ist nicht gerade die Erfolgsbilanz eines Berufskillers.«
»Mensch, Christoph, ich glaub doch gar nicht, daß du ein Killer bist. Sonst würde ich jetzt nicht mit dir mitkommen.«
»Mit Zofia bist du heute nacht auch mitgegangen, und die greift schneller zur Waffe als ich.«
»Dafür sieht sie auch besser aus als du.«
Lächner lachte.
»In deiner gestrigen Bilanz«, fiel mir ein, »fehlten auch die beiden Leute in Schwerin.«
»Der eine, dem du die Hand zertreten hast, lebt noch, und falls der andere nicht mehr leben sollte, geht er mit Sicherheit nicht auf mein Konto!«
»Dreißig Schuß und kein Treffer.«
Wir lachten. Auch mit Lächner konnte man Spaß haben. Selbst dann, wenn man auf dem Weg zu einem Kidnapping war. Über seinen Plan wußte ich gar nichts, und es bedurfte etlicher Fragen und Antworten, bis ich endlich mitbekam, daß Lächner nicht aus Gründen der Mystifizierung schwieg. Er hatte gar keinen Plan. Mit dem Universalschlüssel die Tür öffnen. Reingehen und improvisieren. Reymann die Pistole an die Schläfe drücken. Fragen stellen. Auf Antworten bestehen. — Das ist schon mal schiefgegangen! — Um so größer die Aussicht, daß es diesmal klappt! Das Leben wird vom Zufall beherrscht, und der folgt bekanntlich den Statistiken der Wahrscheinlichkeit. Es ist unwahrscheinlich, daß sich dieselbe Panne wiederholt.
Meine Rolle war klein. Wenn viele Leute in der Wohnung sein sollten, würde er ihn kidnappen; dann müßte ich die beiden in den Wald fahren, wo Reymann ungestört befragt werden konnte. War Reymann allein, wollte Lächner das Verhör gleich in der Wohnung hinter sich bringen. In dem Fall hätte ich gar nichts zu tun, als den Ausflug zu genießen.
»Gefordert wirst du nur, wenn irgendwas schiefgeht und ich abhauen muß«, sagte Lächner. »Für den Fall mußt du mit laufendem Motor bereitstehen und mich aufpicken.«
»Bei eins und drei kann ich hinterher mein neues Auto wegschmeißen«, murrte ich.
»Wieso? Das Kennzeichen ist doch falsch. Aber stimmt schon«, räumte er ein, »aus Sicherheitsgründen wär’s besser, es loszuwerden. Ganz schön blöd. Du mußt natürlich nicht.«
»Ich laß dich jetzt nicht im Stich.«
Er strahlte. »Wenn’s schiefgeht, kaufe ich dir ein neues Auto. Okay?«
»Und wenn es so schiefgeht, daß du überhaupt nichts mehr kaufen kannst?«
»Bloß keine düsteren Prophezeiungen. Das kann ich jetzt gar nicht brauchen! Was soll denn schiefgehen? Meinst du, ich bin einem Sekretär nicht gewachsen? Aber ich lasse dir meine Brieftasche da. Gestern hatte sie Zofia. Wenn mir was zustößt, ist es besser, ich habe sie nicht bei mir. Alles Quatsch und überflüssig. Diesmal wird es klappen, das habe ich im Urin. Ich lasse sie dir trotzdem da. Paß gut darauf auf. Es sind fast dreißigtausend drin. Ich vertraue sie dir an, weil ich dir traue.«
»Ich traue dir auch«, log ich.
»Das ist gut.«
Obwohl uns der Stadtbezirk Zehlendorf nicht unbekannt war, hatten wir uns Reymann in einer Mietwohnung vorgestellt. Er lebte jedoch in einem Haus auf einem Grundstück. Etwas bescheidener als die benachbarten Anwesen, aber sicher nicht billig. Ein Kompromiß zwischen gehobenen Ansprüchen und dem nur mittelgroßen Geldbeutel. Sollte die TransNukem tatsächlich von einer Pleite bedroht sein, lag es sicher daran, daß ihre Mitarbeiter es sich leisteten, über ihre Verhältnisse zu leben.
»Wenn Reymann auch aus dem Fenster springt, ist es nicht so schlimm«, lästerte Lächner. »Er wird sich höchstens den Fuß verstauchen.«
Wir fuhren hundert Meter weiter. Ich wendete in einer Einfahrt und fuhr ein zweites Mal an Reymanns Minivilla vorbei. Dies war keine Gegend, in der am Morgen reges Treiben herrschte. Viel mehr war sicher auch mittags oder abends nicht los. Kaum ein Mensch zu sehen, kaum ein Auto fuhr vorbei. Selbst die Zahl der parkenden Autos war nicht sonderlich groß. Auch bei Reymann tat sich nichts. Ein langweiliger, überstylter Vorgarten, ein aus dunklen Ziegeln gemauertes einstöckiges Haus mit großen Fenstern und einem überdimensionierten Walmdach. Keine Gardine bewegte sich. Es wirkte verlassen.
Drei Grundstücke weiter hielt ich an.
»Wende am Ende der Straße«, sagte Lächner. Fahr wieder vorbei und halte fünfzig Meter dahinter. Warte ab, was passiert.«
»Gar nichts, wenn ich deinem Urin glauben darf.«
»Der ist klar und hell wie ein Alster.«
Lächner stieg aus und betrachtete die Pforte, vor der ich ihn abgesetzt hatte. Erst als ich abgefahren war, überquerte er die Straße. Ich wendete, wie er mir gesagt hatte. Wenn ich es richtig erkannte, flankte er über die Pforte zu Reymanns Grundstück. Das war für sein tatsächliches Alter eine Leistung und für sein scheinbares Alter völlig unangemessen. Doch in dieser Straße würde das niemand bemerken. Zum dritten Mal fuhr ich am Grundstück vorbei. Es sah so tot aus wie immer, Lächner war verschwunden. Vor dem Nachbargrundstück parkte ich, ließ den Motor laufen, kurbelte die Scheibe herunter.
Gestern hatte Zofia seine Brieftasche, überlegte ich. Wann hatte er sie ihr gegeben? Wann zurückbekommen? Was hätte er getan, wenn ihn die Sekretärin nach seinem Ausweis gefragt hätte? Womit hatte er die U-Bahn bezahlt, wenn er kein Geld bei sich hatte? Nun gut, er konnte schwarzgefahren sein, die Brieftaschenübergaben hatte ich nicht beachtet, und seinen Ausweis hatte er vor dem Besuch bei Stettner herausgenommen oder nicht daran gedacht, daß er ihn brauchen könnte. Alles möglich. Trotzdem hatte ich den Eindruck, er habe es erfunden. Warum? Um mich zu beruhigen?
Ausgerechnet aus dem Anwesen, vor dem ich parkte, kamen Leute, ein achtjähriger Junge und seine Mutter. Ich stellte den Motor ab, um nicht aufzufallen. Der Toyota würde schnell genug anspringen für eine Flucht. Die Frau beachtete mich nicht, und das Kind sah mich nicht einmal.
Es war so ähnlich wie am Vortag. Lächner handelte, und ich konnte ihm nur mit Hilfe meiner Phantasie folgen. Diesmal hatte ich nicht mal Zofia an meiner Seite. Das Hochgefühl der Nacht stellte sich nicht ein. Hatte ich tatsächlich von so einem Leben geträumt, in dem nicht Schauspieler mit Theaterrequisiten, sondern ganz normale Menschen mit echten Waffen bedroht wurden? Nein, ich mochte nicht mit mir hadern, zum Aussteigen war es zu spät, seit die Leute von X auch nach mir fahndeten. Augen zu und durch. Keine müßigen Grübeleien, lieber stellte ich mir vor, was Lächner machte:
Ungesehen umkreist er das Haus, checkt ab, wer sich darin aufhält. Bei seiner zweiten Runde geht er zur Hintertür und probiert das Universalbund durch. Wie immer ist es der letzte Schlüssel. Er öffnet die Tür, geht leise hinein. Jetzt muß er Reymann suchen. Das dauert nicht lange, groß ist das Haus nicht. Wesentlich kleiner als Dehnerts Ruhesitz in Schwerin. Er findet ihn im Bad vor dem Spiegel beim Rasieren. Hält ihm sofort die Beretta an die Schläfe. Reymann sieht ihn nur im Spiegel. Er pinkelt sich in die Schlüpfer, ohne es zu bemerken. Erkennen Sie mich nach der Beschreibung? fragt Lächner und grinst böse. Ich bin Stettners letzter Besucher. Der Todesengel der TransNukem. Wenn Sie nicht reden, werden auch Sie für immer schweigen. Wer im Geheimdienst deckt Ihre Atommüllschiebereien? Wer ist X? Reymann ist so eingeschüchtert, daß er ohne Zögern den Namen herausplauzt ...
Glücklicherweise lief der Motor nicht mehr, sonst wäre mir verborgen geblieben, was sich in Reymanns Haus abspielte. Schließlich war es von meinem Parkplatz fast hundert Meter entfernt. Es knallte, einmal, dann zweimal, dann noch einmal. Pistolenschüsse, da kannte ich mich inzwischen aus. Leise zwar, aber Schalldämpfer wurden nicht benutzt, sonst hätte ich gar nichts gehört. Lächner hatte einen Schalldämpfer aufgeschraubt, seine Waffe war es also nicht — was nicht bedeutete, daß er nicht auch geschossen haben konnte. Das einzige grundlegende und allgemeingültige Gesetz über die menschliche Gesellschaft wurde von Murphy formuliert: Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen.
Ich krallte mich ins Lenkrad. Was sollte, was konnte ich tun? Hineinstürmen und ihn heraushauen, war mein erster Gedanke. Doch bei allem Hang zum Abenteuer: Dazu war ich nicht fähig, wie ich spätestens seit der geglückten Befreiung von Zofia wußte. Wenn im Haus jemand mit einer Pistole auf mich wartete, der mit Lächner fertig geworden war, würde er mich auch niederschießen. Ist das Feigheit oder Vorsicht? Ich kann Lächner doch nicht einfach im Stich lassen! Vielleicht braucht er gar keine Hilfe. Gleich wird er über die Pforte flanken und angerannt kommen. Also warte ich, wie wir vereinbart haben. Und wenn er nicht kommt? Wenn statt seiner die Leute von X über den Zaun springen, mich aus dem Auto zerren oder mir sofort eine Kugel durch den Kopf jagen? Warum verriet mir mein prachtvoller Instinkt nicht, was jetzt angemessen war? Vor zwei Nächten hatte er mich geführt.
Erst mal weg, wenigstens hundert Meter, und wenden. Falls Lächner wider Erwarten herausstürmte, konnte ich ihm entgegenfahren. Ich rechnete nicht mehr damit. Schon wieder hing alles an mir. Wenigstens mußte ich herausbekommen, was im Haus vorgefallen war. Anschleichen am hellichten Tag? Das war nicht mal dem Profi geglückt. Anders als in Schwerin war der Umweg über Nachbargrundstücke nicht möglich. Die Zäune und Hecken waren zu hoch, ohne Hilfsmittel unüberwindlich. Ich konnte ja nicht klingeln und eine Leiter anfordern. Wozu brauchen Sie die? Ich muß dringend über Ihre Hecke klettern. Unsinn. Andererseits ist das Absurde manchmal die beste Lösung. Wir hatten bei Panow auch Dienstausweise mitgehen lassen. Zwar zeigte das Foto einen anderen Mann, doch so genau wird niemand hinsehen, redete ich mir ein.
Noch einmal ein Blick über die Straße. Weder Lächner noch jemand von der X-Bande zu sehen. Ich stieg aus, ließ die Tür unverriegelt. An einem alten Toyota würde sich nicht mal in übleren Gegenden jemand vergreifen. Auf der anderen Straßenseite lief ich an Reymanns Grundstück vorbei. Die Mauern wahrten ihr Geheimnis.
Schräg überquerte ich die Straße, klingelte beim Nachbarn.
»Ja, bitte?« dröhnte eine weibliche Stimme aus dem Lautsprecher.
»Frau Bergius?« las ich den Namen am Briefkasten. »Kriminalpolizei. Ich müßte dringend mit Ihnen sprechen. Direkt, nicht über die Anlage.«
»Warum?« dröhnte der Lautsprecher.
»Es hat nichts mit Ihnen zu tun. Es geht um Ihren Nachbarn. Bitte machen Sie auf.«
Knacken im Lautsprecher, dann summte es, und die Pforte ließ sich aufdrücken. Der Vorgarten mit seinen überzüchteten ausländischen Ziergehölzen, mit den exakt geschnittenen Hecken, mit den durchgestalteten Sommerblumenrabatten, mit dem kurzgeschnittenen Rasen und den Marmortrittplatten wirkte auf mich ähnlich unnatürlich wie Reymanns Schmuckstück. Eine Frau mit blondiertem Pagenkopf erwartete mich in der Tür. Sie trug ein cremefarbenes Kostüm, mochte um die Fünfzig sein und hatte trotz der frühen Stunde schon Gelegenheit gefunden, mehrere Schichten Schminke aufzutragen.
»Hauptm... äh, Hauptkommissar Finke«, stellte ich mich vor und wedelte den Ausweis an ihren Augen vorbei. Wie erwartet, beachtete sie ihn nicht.
»Waren das eben Schüsse?« fragte Frau Bergius.
»Sie haben es also gehört.« Das erleichterte mein Spiel. »Mein Kollege hat soeben Herrn Reymann wegen einer Routinebefragung aufgesucht...«
»Weil sein Chef gestern aus dem Fenster gestürzt ist.« Die Dame war bestens informiert.
»Ja. Merkwürdigerweise wurde im Haus geschossen.«
»Das habe ich gehört.«
»Bitte, Frau Bergius, die Zeit läuft mir davon. Es geht mir um folgendes. Da ich nicht weiß, was geschehen ist, muß ich nachsehen. Von vorn wäre das zu gefährlich. Ich muß ungesehen von hinten auf das Grundstück gelangen. Besitzen Sie eine Leiter, die hoch genug ist, daß ich über Ihre Hecke springen kann?«
»Soll ich Verstärkung rufen?«
»Hab ich bereits getan. Über Funk. Aber bis die Kollegen da sind, kann sonstwas passieren. Besitzen Sie nun eine hohe Leiter?«
»Selbstverständlich. Sie liegt hinter dem Haus. Wenn Sie mir bitte folgen würden.«
»Das halte ich für keine gute Idee. Es könnte gefährlich werden. Bitte bleiben Sie im Haus, bis alles vorbei ist. Zu Ihrer eigenen Sicherheit.«
Ich ließ sie stehen und hoffte, daß sie nicht wirklich die Polizei anrief. Tatsächlich, die Leiter lag an der hinteren Hauswand. Groß, stabil und, obwohl aus Aluminium, recht schwer. Ich trug sie in den hintersten Winkel des Grundstücks, richtete und klappte sie neben der Hecke auf. Die Beretta steckte im Halfter. Was konnte schiefgehen? Alles. Das durfte mich nicht hindern. Ich stieg hinauf und spähte über die Hecke.
Auch von hinten sah das Nachbargrundstück unbelebt aus. Doch war der Natur jenseits der Einsichtmöglichkeiten durch Nachbarn mehr Freiheit gewährt worden. Vier Meter zur Seite und ich konnte im Schutz des um einen Baum wuchernden Gesträuchs hinunterspringen, ungesehen von Reymanns Haus aus. Die Hecke war einen halben Meter breit und mehr als zwei Meter hoch. Kein ungefährlicher Sprung, doch hatte ich keine Wahl. Ich kletterte schnell hinab, versetzte die Leiter und stieg wieder hinauf. Gerade als ich springen wollte, hörte ich die Sirene. Die Verstärkung traf ein. Nur daß ich sie nicht gerufen hatte.
Die Straße konnte ich nicht sehen. Die Sirene wurde abgeschaltet, zwei Autotüren zugeworfen. Der zum Eindringen strategisch günstige Platz war ungeeignet für Beobachtungen. Ich stieg von der Leiter, klappte sie zusammen und transportierte sie wieder zur Hauswand. Nicht, weil ich so überaus ordnungsliebend war, sondern weil ich Zeit gewinnen wollte. Tun konnte ich sowieso nichts mehr. Nur noch zusehen, was geschah. Und das ging am sichersten vom Bergius-Grundstück aus.
Langsam lief ich um das Haus herum. Frau Bergius stand in der Tür und teilte mir mit, meine Kollegen seien eingetroffen.
»Gott sei Dank«, rang ich mir ab. Weil mir partout nichts einfiel, ein unverfängliches Gespräch zu eröffnen, ging ich über die Marmorplatten zur Pforte. Tatsächlich, es war ein Streifenwagen, der vor Reymanns Grundstück stand. Ich wandte mich um. Frau Bergius war mir gefolgt.
»Alles in Ordnung«, sagte ich. »Wir haben die Lage unter Kontrolle.«
»Jetzt können Sie von vorn hineingehen«, teilte sie mir mit.
»Mache ich gleich. Sagen Sie, Frau Bergius, wie viele Schüsse haben Sie gehört?«
»Viele. Bestimmt sechs oder sieben.«
»Wer kann da Ihrer Meinung nach geschossen haben?«
»Herr Reymann.«
»Besitzt er eine Waffe?«
»Mindestens eine. Er ist Mitglied in einem Schützenverein.«
»Kennen Sie ihn gut?«
»Nicht besonders. Er ist ja, wie soll ich sagen, anders.«
»Anders?«
»Anders. Wir sind sehr liberal eingestellt. Heutzutage gilt das ja auch nicht mehr als Schande, doch wenn es nicht unbedingt erforderlich ist, wählt man einen anderen Umgang.«
»Haben Sie überhaupt nicht mit ihm geredet?«
»Manchmal schon. Schließlich ist Herr Reymann unser Nachbar und trotz seiner, hm, Vorlieben ein sehr kultivierter Mann.«
Ein Notarztwagen raste mit eingeschalteter Rundumleuchte, aber ohne Sirene durch die stille Straße. Er bremste hinter dem Streifenwagen. Zwei Männer in weißen Kitteln sprangen heraus. Ein dritter öffnete von innen die Hecktür und sprang ebenfalls heraus. Er rannte, eine große schwarze Tasche in der Hand, zum Haus. Die beiden anderen zerrten eine Trage aus dem Auto und folgten ihm damit, ebenfalls rennend. Wenn sie das Tempo beibehielten, würden sie in ein paar Sekunden wieder erscheinen. Zeit, das Verhör zu beenden.
»Meinen Dank für Ihre Hilfsbereitschaft, Frau Bergius«, sagte ich und deutete eine Verbeugung an. »Später wird jemand, ich oder einer meiner Kollegen, Ihre Aussage aufnehmen.«
»Ich weiß doch gar nichts!« protestierte sie.
»Das machen wir routinemäßig bei allen Nachbarn«, beruhigte ich die Dame. »Daraus erwachsen Ihnen keinerlei Nachteile. Wir nehmen den Datenschutz sehr ernst.«
Die Sanitäter waren noch immer nicht zu sehen, also mußte ich das Gespräch in die Länge ziehen.
»Da fällt mir noch ein«, zitierte ich einen Filmdetektiv, »ist Herr Reymann eigentlich allein in seinem Haus?«
»Ob er allein war, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber außer ihm wohnt niemand ...«
Die Sanitäter kamen mit der Trage heraus, begleitet vom Notarzt und einem Polizisten.
»Ich komme darauf zurück«, sagte ich, öffnete die Pforte und ging auf die Straße. Der Polizist sah mich, achtete aber erst auf mich, als ich neben ihm stehenblieb.
»Gehen Sie weiter«, blaffte er mich an. »Hier gibt’s nichts zu sehen.«
Auf der Trage lag Lächner, bedeckt mit einem weißen Tuch, das an mehreren Stellen von Blut verfärbt war. Der Kopf war nicht zugedeckt, also lebte er noch. Die Augen waren geschlossen.
»Gehen Sie weiter«, blaffte der Polizist, während die Trage in den Krankenwagen geschoben wurde.
Ich verwandelte mich in die Person, die ich mir als Besitzer einer Villa in Zehlendorf vorstellte. »Sprechen Sie nicht so laut, mein Gehör ist in Ordnung«, sagte ich leise, scharf und so arrogant wie möglich. »Bergius mein Name. Ich bin der Nachbar und denke, daß ich ein Recht darauf habe zu erfahren, was hier geschehen ist.«
»Haben Sie nicht«, sagte er unfreundlich, aber eine Spur leiser.
»Ich kenne meine Rechte!« behauptete ich und sah ihn blasiert an. Es wirkte.
»Das ist ein Notfall«, erklärte der Polizist. »Der Mann ist lebensgefährlich verletzt. Er muß sofort ins Krankenhaus.«
»Kommen Sie endlich«, rief der Arzt dem Polizisten zu. Der ließ mich stehen und stieg zum Arzt in den Wagen.
»Und mein Nachbar, der Herr Reymann?« fragte ich.
Keine Antwort. Die Tür wurde mir vor der Nase zugeschlagen. Mit eingeschalteter Rundumleuchte raste der Wagen davon. Den Gedanken, ihnen hinterherzufahren, um zu sehen, in welches Krankenhaus sie Lächner brachten, verwarf ich sofort. Wenn ich ohne Sondersignal so schnell wie ein Notarztwagen fuhr, hatte ich sofort drei Funkstreifen im Schlepp. Mindestens. Und selbst wenn nicht, konnte ich im Unterschied zum verfolgten Auto nicht bei Rot über belebte Kreuzungen brettern. Das einzige, was noch zu tun übrig blieb, war, Frau Bergius von ihrem Zaun wegzulocken, damit sie nicht sah, mit welchem Auto ich abfuhr. Denn falls sie tatsächlich von echten Polizisten befragt werden sollte, flog mein Schwindel natürlich auf. Und die Quelle für frisch gefälschte Kennzeichen war versiegt.
Frau Bergius wirkte recht zufrieden, als ich wieder zu ihr zurückkehrte, meinte sie doch, aus erster Hand erfahren zu können, welche Tragödie sich im Hause ihres Nachbarn ereignet hatte. Trotz ihrer guten Erziehung fragte sie mich sofort: »Und? War es Ihr Mitarbeiter?«
Ich nickte mit tragischer Miene. Die mußte ich nicht vortäuschen, mir war tatsächlich elend zumute. Lächner war niedergeschossen worden, und diesmal hatte es nicht nur den linken Arm getroffen. »Eine rätselhafte Tragödie«, sagte ich. »Noch völlig unklar, wie es dazu kommen konnte.«
Auch an anderen Gartenpforten standen Nachbarn. Ungesehen kam ich sowieso nicht mehr weg.
»Möglicherweise brauchen wir Ihre Aussage doch nicht. Das entscheidet mein Vorgesetzter. Weil Sie so hilfsbereit sind, möchte ich Sie warnen. Wahrscheinlich wird es hier gleich von Presse wimmeln. Wenn Sie nicht wollen, daß Ihr Name in einer Schlagzeile mit dem von Herrn Reymann steht, ist es besser, Sie gehen ins Haus und öffnen auch nicht, wenn es klingelt.«
Das leuchtete ihr sofort ein. Sie nickte dankbar und fragte mich, ob denn etwas gegen Reymann vorliege.
Ich wiegte unbestimmt den Kopf. »Darüber darf ich nichts sagen.«
»Verstehe«, sagte Frau Bergius.
Ähnliches konnte ich von mir nicht behaupten. Ich verstand gar nichts.

11.00 Uhr
 
Der eine überschätzte sich, da waren’s nur noch zwei. Ich mußte klingeln, weil ja Lächner den Universalschlüssel bei sich gehabt hatte. Es war eine Tür ohne Spion. Birgit fragte, ehe sie öffnete, wer da sei.
»Ich bin’s, Fred. Äh, Franz. Frank? Scheiße, ich hab meinen Namen vergessen.«
»Namen sind ohne Bedeutung«, sagte Birgit, als sie die Tür öffnete.
Sie zog mich in die Wohnung und umarmte mich. Das überraschte mich, und mehr noch, daß Zofia, die neben ihr stand, mich ebenfalls umarmte. Ich ließ es mir gern gefallen.
Natürlich wußten sie längst Bescheid. Nachdem die erste Nachricht im Radio gekommen war, hatten sie auf der Suche nach Informationen sämtliche Stationen durchgeschaltet und bereits drei Berichte gehört. Während ich erzählte, schaltete Zofia immer wieder von einem Sender zum anderen. Das machte mich nervös, doch verstand ich sie. Genaugenommen wußte ich ja selber nicht, was passiert war.
»Halt mal«, unterbrach mich Zofia und drehte das Radio lauter.
»...vor Ort. Was ist los bei der TransNukem, Andy?« fragte der Moderator im Studio.
»So genau kann das zur Stunde wahrscheinlich noch niemand sagen«, begann Andy seinen Bericht. Er hatte eine frische junge Stimme, durch keinerlei Kenntnisse oder Selbstzweifel getrübt. »Fest steht nur, daß es nicht mit rechten Dingen zugeht, daß die Firma nicht so seriös ist, wie sie die Öffentlichkeit glauben machen wollte. Wie aus gutinformierten Kreisen verlautet, könnten die Gerüchte über eine bevorstehende Pleite durchaus auf Tatsachen fußen. Es ist keine der üblichen Pleiten, die Umstände werden immer mysteriöser. Zum zweiten Mal in nicht einmal vierundzwanzig Stunden hat der Tod die Firma heimgesucht. Gestern stürzte sich Laurenz Stettner, Geschäftsführer und Hauptaktionär der TransNukem, aus dem Fenster seines Bürotrakts. Sekunden vor seinem Selbstmord verließ ein alter Mann das Büro, dessen Identität nicht ermittelt werden konnte. Heute nacht wurde in das Büro der TransNukem eingebrochen. Das Interesse des Diebes galt den geheimen Daten. Gestohlen wurde nichts. Täter unbekannt. Heute morgen kurz nach neun Uhr suchte ein alter Mann — derselbe wie am Vortag — das Haus von Markus Reymann auf, des besten Freundes von Stettner. Insidern gilt er als graue Eminenz der TransNukem. Reymann, ein großer, kräftiger Mann Mitte Dreißig, Mitglied eines Sportschützenvereins, ließ den alten Herren nicht zu Wort kommen. Er streckte ihn mit vier Schüssen aus seiner Walther PPK nieder. Zwar unterrichtete er dann selber die Polizei und den Rettungsdienst, doch damit konnte er den Verdacht nicht zerstreuen, daß es sich um Überschreitung der Notwehr gehandelt habe. Falls die Bedrohung durch einen Greis, der am Stock ging, überhaupt die Anwendung von Notwehr rechtfertigt.«
»Der Junge ist besser, als ich dachte«, murmelte ich.
Angeblich nutzt der Mensch nur zehn Prozent seines Gehirns zum Denken. Wofür der Rest gebraucht wird, ist unklar. Eine der möglichen Lösungen fiel mir jetzt ein: als Reserve für Notfälle. Dies war ein Notfall. Ich hörte und verstand genau, was der Reporter schwatzte. Zugleich dachte ich an etwas anderes. Da waren’s nur noch zwei. Eine Frau und ein Amateur. Nur noch zwei...
Das Mädchen zählte nicht. Zwar hatte bei Birgit ziemlich schnell das Geisel-Syndrom eingesetzt, sie fühlte sich nicht als Gefangene im eigenen Hause, sondern sympathisierte mit uns, weil wir die Welt vor einer Umweltgeißel schützen wollten. Dennoch war sie eine Last. Wir konnten sie nicht wegschicken, nicht nur deshalb nicht, weil das ihre Wohnung war, sicher hätte sie wieder eine Freundin besuchen können, sondern vor allem deshalb, weil wir einem Teenager einfach nicht zutrauten, ein paar Tage lang den Mund zu halten. Unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit würde sie der Freundin von ihren Abenteuern erzählen, die dann vielleicht ihren Eltern oder ihrem Freund, und irgendwann würde die Informationslawine unser Versteck unter sich begraben. Und mit uns vielleicht das Mädchen.
»...lebensgefährlich verletzt, an seinem Aufkommen wird gezweifelt. Er trug keine Papiere bei sich. Die Polizei steht vor einem Rätsel. Hauptkommissar Herzen wollte vor dem Mikrofon nicht Stellung nehmen, die Untersuchung habe gerade erst begonnen. Herr Reymann sei vorläufig festgenommen, mehr könne und wolle er nicht sagen. Neben mir steht eine Augenzeugin, die Nachbarin von Markus Reymann. Frau Bergius, was ist heute morgen hier geschehen?«
»Ach du Scheiße!« murmelte ich. Nach meiner Warnung war sie brav in ihre Villa zurückgekehrt. Ich hatte noch einige Zeit mit Beobachtungen von Reymanns Haus verbracht, aus sicherer Entfernung vom Ende der Straße aus, versteht sich, und niemanden herauskommen sehen als den Fahrer des Streifenwagens. Wenn das Ganze eine Falle mit Reymann als Köder gewesen war, zeigten sich die Fallensteller nicht. Sie kamen auch nicht zum Vorschein, als die Kriminalpolizei eintraf. Ich nahm an, daß es die Polizei war, sie stellten sich mir nicht vor. Als dann auch noch die ersten Reporter eintrafen, zog ich mich endgültig zurück.
»Na ja«, schwatzte die Bergius, »gesehen habe ich erst mal nichts. Aber gehört. Schüsse. Ich wußte sofort, daß es Schüsse sind. Viele Schüsse. Acht mindestens, oder mehr. Ich dachte zuerst, jetzt übt Reymann schon in seinem eigenen Haus, obwohl das verboten ist. Und dann dachte ich, daß vielleicht etwas Ernstes passiert sein muß, daß vielleicht jemand anders geschossen hat. Ich muß zugeben« — sie hatte ihre Mikrofonscheu überwunden und sprach immer sicherer, begann ihre Sätze zu drechseln wie beim Gespräch mit mir — , »daß ich einige Zeit ratlos war, nicht wußte, was ich tun konnte oder sollte. Doch dann klingelte schon der Polizist an meiner Tür.«
»Ein Polizist?« fragte der junge Reporter und klang zum ersten Mal überrascht; das hatte sie beim Vorgespräch wohl nicht erwähnt.
»Ja. Er sagte mir, daß sein Mitarbeiter in Reymanns Haus gegangen und dort mit Schüssen empfangen worden war. Er wollte eine Leiter haben, um von hinten über die Hecke in das Nachbargrundstück springen zu können.«
»Moment mal«, unterbrach Andy, Eifer in der Stimme. »Der alte Herr, der von Reymann erschossen wurde, war ein Polizist?«
»Das hat Hauptkommissar Finke mir gesagt.«
»Und ist er über den Zaun gestiegen?«
»Das war nicht mehr nötig, weil dann schon die Verstärkung kam.«
»Welche Verstärkung?«
»Die Funkstreife, die er gerufen hatte.«
»Er hatte die Funkstreife gerufen? Nicht Reymann? Wissen Sie das genau?«
»Das weiß ich ganz genau. Er ging nämlich sofort hin, gab dem Wachtmeister eine Anweisung, und der stieg daraufhin sofort in den Krankenwagen und fuhr mit dem verletzten Kollegen mit. Dann kam er noch einmal zu mir und...«
»Ich darf mal unterbrechen«, sagte eine Baßstimme.
»Hauptkommissar Herzen, der Leiter der Untersuchung«, meldete Andy in sein Mikrofon. »Gibt es neue Erkenntnisse?«
»Kann man wohl sagen. Wie hieß der Polizist?« fragte der Baß.
»Hauptkommissar Finke.« Die Altstimme.
»Gibt’s bei uns nicht.« Der Baß. »Wie sah er denn aus, der angebliche Hauptkommissar?«
»Wieso angeblich?« Der Alt. »War er keiner?«
»Das weiß ich noch nicht.« Der Baß. »Wie sah er aus?«
»Ziemlich groß und athletisch gebaut. Fast so groß wie Sie.« Der Alt.
»Ich bin einsvierundachtzig«, verriet der helle Tenor des Reporters. »Also einsachtzig?«
»Ich glaube schon.« Der Alt.
»Da hat sie sich um fast zehn Zentimeter verhauen«, sagte ich.
Zofia blickte mich erstaunt an, wandte sich aber wieder dem Radio zu, ohne mich etwas zu fragen. Mein Gehirn ratterte auf beiden Gleisen weiter. Daß Lächner, nicht gerade Rambo, doch ohne Zweifel ein erfahrener Agent, von einem wehrsportertüchtigten Bürokuli erschossen worden war, konnte ich mir kaum vorstellen. Es war sinnlos, in jeder Hinsicht. X mußte nicht mal in Erscheinung treten. Wir waren ihm keinen Schritt näher gekommen. Statt dessen rückte er uns näher; die Bergius ließ sich die Gelegenheit zur Porträtmalerei nicht entgehen.
»...gut aus, Mitte Dreißig, schätze ich, dunkelblond, mit Schnurrbart. Auf der rechten Wange eine Mensurnarbe...«
»Eine was?« Andys Stimme.
»Ein Schmiß, wie ihn sich Studenten in schlagenden Verbindungen beibringen.«
»So was gibt es doch heute gar nicht mehr!«
»Nicht in Ihren Kreisen!« Die Bergius, sehr bestimmt. »Das war ein hochgebildeter, gutgekleideter Mann mit feinen Umgangsformen. Aus bestem Hause, so etwas sehe ich!«
Birgit und Zofia starrten mich an. Endlich hatten sie mitbekommen, von wem die Rede war. Obwohl ich mich selbst nicht wiedererkannte in der schmeichelhaften Schilderung. Sie beschrieb allerdings nicht mich, sondern meine Maske. Dahinter konnte ich mich nun nicht mehr verstecken.
»Seine Stimme? Wie sprach er?« Der Baß.
»Sehr angenehm. Tief, dunkel, warm. Er sprach hochdeutsch ohne jeden Akzent oder Dialekt. Eine kultivierte Stimme.«
Wenn ich mich ohnehin nicht mehr verstecken konnte, war es an der Zeit, X gegenüberzutreten. Nicht zu seinen, sondern zu unseren Bedingungen, auf unserem Territorium. Fünf leitende Beamte kamen dafür in Frage, X zu sein, aber nur einer war es. Wenn es uns gelang, alle in einem Raum zu versammeln, hatten wir vier potentielle Verbündete, auch wenn sie es anfangs nicht ahnen würden. Um sich vom Verdacht reinzuwaschen, würden sie ihre Kraft und ihre Möglichkeiten daransetzen, den Verräter in ihrer Mitte zu entlarven. Selbst wenn es ihnen wider Erwarten nicht gelingen sollte, wären wir besser dran als jetzt. Wir würden alles erzählen, was wir wußten oder vermuteten. Dann gab es keinen Grund mehr, uns aus dem Verkehr zu ziehen. Zumindest wurde es ihm erschwert, denn außer uns existierten vier weitere Personen, die ihm ihres Einflusses wegen gefährlicher werden konnten als wir. Wenn er sie beseitigte, hatte er keine Tarnung mehr, und wenn er es nicht tat, würden sie ihn irgendwann kriegen. Wir brauchten sie nur gegeneinander auszuspielen. Diese Art der Auftragserfüllung ließ sich zwar nicht mit Lächners Ehrenkodex vereinbaren, doch der Agent lag auf dem Operationstisch, in einer Intensivstation oder schon in der Pathologie; er konnte uns nicht bremsen. Zofia würde etwas einfallen, sie nach Berlin zu locken. Zu einem Treffen nach unseren Bedingungen. Eigentlich brauchte es nur eine Bedingung zu geben: Alle fünf mußten gleichzeitig erscheinen. Es war so simpel, daß ich mich wunderte, weshalb wir nicht früher darauf gekommen waren.
»Sie haben die Beschreibung gehört«, sprach Herzen direkt in das Mikrofon. »Falls der Herr Finke unter den Hörern dieses Senders ist, möchte er sich bitte umgehend mit mir in Verbindung setzen. Und falls Sie jemanden kennen, auf den die Beschreibung des großen Blonden paßt, rufen Sie bitte auch an.« Er gab zwei Telefonnummern durch.
»Wenn der Mann kein Polizist war, was dann?« fragte der Reporter.
»Sie haben genug bekommen für Ihr Geld«, ranzte ihn Herzen an. »Frau Berg ...«
»Bergius. Mein Name ist Bergius!«
»Kommen Sie bitte mit. Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen, ohne daß ganz Berlin zuhört.«
»Jetzt hat mir der Kommissar meine Gesprächspartnerin entführt«, klagte Andy komisch. »Aber dafür«, er verlieh seiner Stimme ernsthafte Festigkeit, »haben wir eine neue überraschende Wendung in diesem mysteriösen Fall miterlebt. Wer ist der geheimnisvolle junge Mann, der so vertraut mit den Polizisten sprach? Ein verdeckter Ermittler? Ein Beobachter der Mafia? Ein Kollege vom Verfassungsschutz? Im Augenblick gibt es mehr Fragen als Antworten. Ich bleibe für sie am Ball!«
Bei seinen Spekulationen hatte der Jungreporter zum ersten Mal einen Geheimdienst, wenn auch den falschen, erwähnt. Wenn ein Gedanke erst einmal in der Welt ist, läßt er sich nicht mehr so einfach unterdrücken. Indirekt waren wir X also doch ein Stück näher gerückt. Er konnte uns nicht mehr ausweichen.
»Danke, Andy«, sagte der Moderator im Studio. »Wir freuen uns, daß Hauptkommissar Herzen eine so hohe Meinung von unserem Sender hat. Noch hört uns nicht ganz Berlin zu, leider, aber es werden immer mehr, die feststellen, daß wir auf 101,7 die besten Informationen haben und live dabei sind, wenn die Polizei neue Spuren entdeckt. Die beste Musik haben wir sowieso. 101,7 — die größten Hits aus vier Jahrzehnten. Und das sind die BeeGees!!!«
Zofia schaltete das Radio aus, ich riß mir den Schnurrbart ab, und Birgit starrte mich ungläubig an. Ich hatte viel zu erklären.

 

 

 

 

 

 

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