Martin Parr, ein erfolgloser Mann mit vielen Talenten,
wird als Opfer einer Verwechslung von Geheimdiensten gejagt. Nachdem
er alles verloren hat - seine Freundin,sein Zuhause, sogar seinem Namen
-, taucht er unter und sinnt auf Rache. Und plötzlich ist es soweit:
Ein von den eigenen Leuten niedergeschossener Agent des BND bittet ihn
um Hilfe. Christoph Lächner und die russische Spionin Zofia sind
korrupten Kollegen auf der Spur und ihres Lebens nicht mehr sicher.
Parr fühlt sich wie der Held in einem Abenteuerfilm. Eben noch
hielt er sich für eine gescheiterte Existenz, und auf einmal hat
er Freunde und wird gebraucht. Aber ist die Wirklichkeit nicht ein bißchen
zu schön, um wahr zu sein? Dieser doppelbödige Action-Thriller
um den Spion wider Willen Martin Parr ist die in sich geschlossene Fortsetzung
von Der unsichtbare Zweite.
Argument Verlag 15,80 DM (veraltete Angabe; derzeit
ist das Buch - falls überhaupt - nur gebraucht zu erwerben. Auszug
folgt.)
11.00
Uhr
Einen Topmanager zu kidnappen erforderte offenbar keine so gründliche
Vorbereitung wie der nächtliche Anruf beim eigenen Abteilungsleiter.
Wir mußten schnell handeln, um wenigstens einmal etwas Vorsprung
vor X zu bekommen. Laurenz Stettner hatte keine Leibwächter. Warum
also nicht einfach in sein Büro marschieren und ihm dort die Pistole
auf die Brust setzen? Ich gebe zu, daß der Einfall von mir stammte
und ich ihn nicht sonderlich ernst gemeint hatte, doch die beiden sprangen
darauf an. Wie sie zu denken und zu planen pflegten, könne von
X möglicherweise vorausgesehen werden, doch ich sei eine unbekannte
Größe, also eine Variable im Spiel. Am hellichten Tag mit
einer Pistole in ein Büro zu marschieren war so verrückt,
daß es vielleicht sogar klappen konnte. Vorausgesetzt, Stettner
war im Büro, und vorausgesetzt, seine Vorzimmerdame ließ
uns vor, und vorausgesetzt, es wimmelte im Büro nicht von Mitarbeitern.
Die zahlreichen unbekannten Faktoren zu beachten hätte uns gelähmt.
Wir ignorierten sie einfach. Da wir bisher stets Pech gehabt hatte,
waren wir, statistisch gesehen, endlich an der Reihe mit dem Glück.
Ein wenig nachhelfen mußten wir allerdings. Nicht alle sollten
den Manager aufsuchen, eine so große Delegation würde auffallen.
Lächner allein hatte bessere Aussichten. Er sah als einziger von
uns so seriös aus, daß er auch ohne Termin vielleicht zum
Chef vorgelassen wurde.
Lächner trug einen neuen Anzug, da der alte blutig und zerrissen
war. Nun war der Herr wieder vorzeigbar. Ein solider Geschäftsmann.
In die Jahre gekommen, aber drahtig, etwas altmodisch, aber keinesfalls
von der neuen Zeit überrollt.
Die Firma TransNukem saß in einem sechsstöckigen Bürogebäude
nahe dem Bahnhof Zoo. Viel Blau, viel Stahl, viel Glas. Zofia war hineingegangen,
ohne an der Pforte aufgehalten zu werden. Nach einer Viertelstunde war
sie wieder herausgekommen und hatte uns ein Zeichen gegeben, die Luft
sei rein. Lächner setzte sich sofort in Bewegung. Als er an ihr
vorbeiging, raunte sie ihm ein paar Informationen zu. Er ließ
sich nicht anmerken, daß er sie verstanden hatte, öffnete
die Tür und verschwand im Gebäude.
Zofia sah sich auf der Straße um. Verglichen mit dem nächtlich
unbelebten Friedrichshain ein Menschengewimmel. Autos stauten sich an
Ampeln, und Hunderte geschäftige Leute eilten über die Fußwege,
überholten die Touristen, drängten und schoben. Ich stand
vor dem Schaufenster eines Schuhladens und betrachtete das Treiben in
der spiegelnden Scheibe.
Da ihr nichts Verdächtiges auffiel, kam sie zu mir und informierte
auch mich. Das Gebäude sei relativ frei begehbar, abgesehen von
der TransNukem. Die hat ein Viertel der sechsten Etage gemietet. Eine
Glastür hindert Besucher des Hauses daran, sich aus Neugier oder
Unkenntnis des Weges in die Büros zu verirren. Sie wird von außen
durch eine Magnetkarte und von innen durch einen Summer geöffnet,
wenn man herein will. Neben der Tür ist eine Wechselsprechanlage.
Zofia hatte geklingelt, und ohne daß jemand ihr Fragen stellte,
wurde die Tür für sie geöffnet. Sie war über den
Flur gegangen und hatte keinen Wachmann gesehen. Eine Sekretärin
kam aus einer Tür und fragte sie, zu wem sie wolle. Sie erfand
einen Namen und erfuhr zu ihrem Bedauern, daß ein Mitarbeiter
dieses Namens dort nicht bekannt sei. Die Sekretärin schien das
ebenso zu bedauern; sie war sehr höflich. Ihre Verpflichtungen
ließen es leider nicht zu, sie zur Glastür zu begleiten.
Zofia hätte also im Bürotrakt bleiben können, doch das
war nicht vorgesehen.
Inzwischen war Lächner sicher auch bei der Sekretärin angelangt
und versuchte, sie mit seinem Altmännercharme zu bezirzen. Sofern
ihm das gelang, würde er in den nächsten Minuten dem Manager
gegenüberstehen.
Laurenz Stettner galt als unkonventioneller Selfmademan. Zwar war er
niemals Tellerwäscher gewesen, eigentlich überhaupt nicht
arm, nicht nur aus meiner Perspektive nicht, seine Eltern besaßen
eine Gasthauskette, und als er fünfundzwanzig Jahre war, überschrieben
sie ihm eine halbe Million. Er ließ sich auf Spekulationen ein,
hatte Glück, kaufte sich Aktien und Firmenanteile, und mit achtundzwanzig
war er reich und clever genug, die TransNukem zu übernehmen und
vor der Pleite zu bewahren. Auch wenn die Kernkraft seit Harrisburg
und Tschernobyl in Verruf geraten ist, bleibt sie doch die Energie der
Zukunft. Daran glaubte er, und darum wurde er nicht müde, das jedem
Reporter zu erzählen. Und es kamen viele Reporter; erfolgreiche
Jungunternehmer sind die wahren Helden der westlichen Welt. Um so mehr,
wenn sie wortgewandt sind, kritische Fragen freundlich abschmettern
und alles hinreichend einfach erklären können. Harrisburg
war eine Anfangsschwierigkeit, und die Russen haben gepfuscht. Im übrigen
häufe sein Unternehmen keinen neuen Müll auf, sondern entsorge
ihn auf umweltfreundliche und kostengünstige Weise. Selbst wenn
heute nacht überall auf der Welt sämtliche Reaktoren abgeschaltet
und nie wieder in Betrieb genommen werden, sei bereits genug Müll
produziert worden, die TransNukem bis zu seinem, Stettners, Rentenalter
zu beschäftigen. Mit diesen Weisheiten hatte uns Zofia vor unserer
Visite versorgt; sie verdankte sie der Presse.
Gesehen hatte sie ihn, außer auf Fotos und im Fernsehen, noch
nicht. Er war ihr bei ihrem Abstecher in den sechsten Stock auch nicht
zufällig über den Weg gelaufen. Sie wußte nicht mal,
ob er überhaupt im Büro war. Ebensogut konnte er in Lubmin
nach dem Rechten sehen oder in Moskau neues Unrecht organisieren, wenn
er nicht gar, einem spontanen Einfall folgend, in die Karibik geflogen
war, weil ihm das europäische Wetter nicht behagte. Das glaubten
wir nicht, weil wir es nicht glauben wollten.
Ich stellte mir vor, wie Lächner die Vorzimmerdame beschwatzte.
Was? Kein Termin notiert? Das sei unmöglich, er habe sich telefonisch
avisieren lassen. Ein Fax habe er eigenhändig durch die Leitung
geschickt, und sein Geschäftsführer habe ihm fernmündlich
versichert, der Termin sei bestätigt. Muß unbedingt geklärt
werden, was da falsch gelaufen ist. Da ich schon mal hier bin, ist vielleicht
noch nicht alles verloren. Ich bin Teweleit, Teweleit & Söhne,
Import-Export, Firmensitz in München und Hamburg. Eher Nordsüd-
als Ostwest-Handel, aber wir sind nicht eng, sondern weit, weltweit,
haha. Ich habe Herrn Stettner einen Vorschlag zu unterbreiten, dauert
nicht länger als fünf Minuten. Wenn er nicht interessiert
ist, war es das. Wir sparen beide Zeit, in der ich mich nach anderen
Partnern umsehen und er Golf spielen kann. Wenn er interessiert ist,
was ich, nebenbei gesagt, erwarte, vereinbaren wir ein ausführliches
Gespräch, und ich werde selber darauf achten, daß es im Kalender
vermerkt wird, aber das wird nicht nötig sein, denn Herr Stettner
wird es rot anstreichen lassen.
Was er tatsächlich sagte, weiß ich nicht. Ich stand neben
Zofia, inzwischen vor einem Buchladen. Dort fühlte ich mich besser
aufgehoben als vor dem Schuhgeschäft. Wir redeten wenig, und wenn,
waren es Spekulationen. Er ist drin, glaubten wir, sonst wäre er
schon wieder draußen. Und was wird er machen, wenn er in Stettners
Büro ist? Muß er Zeit mit Scheinvorschlägen vergeuden,
weil ein paar Mitarbeiter um den Chef herumwieseln, oder kann er ihm
sofort die Pistole auf die Brust setzen? Was ist, wenn die Sekretärin
mithört? Wird sie schon nicht. Sie interessiert sich nicht für
Geschäfte, sonst wäre sie nicht Sekretärin, sondern Firmenchefin.
Alles wird gut. Er wird jetzt ganz cool dastehen und Stettner die Pistole
gegen die Schläfe oder noch besser gegen die Eier drücken
und wird ihn nach zweifelhaften Geschäften und nach seiner Verbindung
zum Geheimdienst fragen, und der Manager wird es erst nicht ernst nehmen
und dann ganz schnell umkippen und alles sagen, was wir hören wollen.
Ich bin ein gewissenloser Verbrecher, Geld ist wichtiger als Menschenleben,
und Herr X heißt Hintermoser und ist Referatsleiter, und wenn
Sie wollen, geben ich Ihnen alles schriftlich, nur bitte nicht schießen.
Dann sind sie fertig, Lächner schlägt ihm den Kolben über
den Kopf oder die Handkante ins Genick und verläßt das Büro.
Er spielt den enttäuschten Kleinunternehmer und teilt der Sekretärin
wütend mit, ihr Chef sei ein bornierter Idiot, aber das brauche
sie ihm nicht auszurichten, das habe er schon selbst hinreichend deutlich
erklärt. Weil eine Polstertür zwischen Vorzimmer und Büro
ist und weil sie niemals den Chef belauscht, glaubt sie das auch und
gibt ihr tiefes Verständnis für seine Frustration zu erkennen
und begleitet ihn zur Tür, ohne Verdacht zu schöpfen, und
dann ist Lächner draußen, ehe jemand etwas mitbekommt.
Alles wird gut. Es muß einfach gut werden.
Ein Fenster im sechsten Stock splitterte. Des Straßenlärms
wegen hörten wir das Bersten des Glases nicht. Doch weil wir aufmerksam
waren, sahen wir es, sahen, wie ein Mann durch die Luft segelte und
zwischen ein paar Fußgängern aufschlug. Die hatten Glück,
daß sie nur von seinem Blut bespritzt und nicht erschlagen wurden,
aber sie kreischten laut los und blickten nach unten und dann unsicher
nach oben, als ob von nun an alle paar Sekunden jemand herunterstürzen
würde, ein Platzregen von lebensmüden Managern.
»Scheint doch nicht alles gutgegangen zu sein«, sagte ich.
13.05
Uhr
»Ich hab ihn doch nicht aus dem Fenster geworfen!« verwahrte
sich Lächner.
»Wer sonst?« fragte ich.
Wir saßen in der Couchecke der Wohnung, die wir nach unseren nächtlichen
Telefonaten besetzt hatten. Bei seinem dreistündigen Ausflug am
Sonntagmorgen hatte er die Abreise einer Familie — Mann, Frau,
zwei Kinder — beobachtet und aus der Menge des Gepäcks auf
längere Abwesenheit geschlossen. Er war ins Haus gegangen, um zu
sehen, aus welcher Wohnung der Mann die Koffer holte. Es war anzunehmen,
daß Freunde oder Nachbarn einen Schlüssel hatten, um die
Blumen zu gießen, aber für zwei Tage könnte es ein einigermaßen
sicheres Quartier für Notfälle sein. Mit einem Universalschlüsselbund
aus Panows Beständen hatte ich keine Mühe gehabt, die Tür
zu öffnen. Daß wir schlecht schlafen konnten und früh
wieder aufstanden, lag nicht an der Furcht vor Überraschung. Der
Kampf in Panows Haus hatte auch die beiden Profis stärker mitgenommen,
als sie mich glauben lassen wollten.
Kurz nach dem Fenstersturz war Lächner aus dem Bürogebäude
gekommen, ohne daß jemand versuchte, ihn aufzuhalten oder zu verfolgen.
Dennoch gab er uns ein unauffälliges Zeichen, wir sollten ohne
ihn in unser Quartier zurückkehren. Sofort schalteten wir das Radio
ein. Das erste Mal wurde Stettners Tod in den Zwölf-Uhr-Nachrichten
erwähnt. Der bekannte Industrielle Laurenz Stettner starb durch
einen Sturz aus dem Fenster seines Büros, hieß es. Wir ließen
ein Mittagsmagazin laufen, aber bis zu den Ein-Uhr-Nachrichten wurde
der Sturz nicht wieder erwähnt, und der Wortlaut der Meldung war
unverändert. Von einem Massaker in der Eldenaer Straße war
übrigens nichts bekannt; das wäre auf allen Sendern die Spitzennachricht
gewesen.
Als Lächner während des Wetterberichts endlich eintraf, nahmen
wir seine veränderte Erscheinung kaum zur Kenntnis. Der graue Bart
war verschwunden, desgleichen Hornbrille und Stock, nur die Haare waren
noch weiß. Erregt machten wir ihm Vorwürfe. Auch Zofia hielt
sein Vorgehen für übertrieben.
»Ihr werdet es mir nicht glauben, aber ich habe ihn nicht mal
angefaßt!« verteidigte sich Lächner.
»Stimmt. Glauben wir nicht!« sagte ich.
»Erzähl endlich, was passiert ist!« forderte ihn Zofia
auf.
»Da ist nicht viel zu erzählen. Am Anfang sah es so aus,
als ob wir wirklich endlich mal Glück haben. Es lief so ähnlich,
wie wir es uns ausgemalt hatten. Fünf Minuten konnte er für
einen würdigen alten Herren erübrigen, und dies sofort —
später sei keine Zeit, weil er zu einer Sitzung müsse. Er
war allein im Zimmer, die Tür zum Vorzimmer gepolstert, also konnte
ich gleich zur Sache kommen. Als er die Pistole sah, pinkelte er zwar
nicht ein, aber viel hat nicht gefehlt. Sofort fing er an zu jammern
und zu betteln und hörte gar nicht auf meine Fragen. Irgendwie
mußte ich ihn beruhigen. Ich steckte die Pistole weg und sagte
ihm, das ist keine Entführung und kein Erpressungsversuch, sondern
eine offizielle Untersuchung, die ich im Auftrag der Regierung mache.
Das beruhigte ihn ganz und gar nicht, obwohl er mich verstanden hatte.
Ich warf ihm noch ein paar Brocken hin. Zwischenlager Nord. Fusionsreaktor
Lubmin. Das Geschäft mit den Russen. Auf einmal ist es passiert.
Ich war nicht darauf gefaßt, und ich verstehe es nicht. Er drehte
durch, ich konnte ihn nicht festhalten, als er zum Fenster rannte und
einfach hinaussprang. Durch die Scheibe. Ich verstehe es nicht.«
»Ich auch nicht«, bekannte ich.
»Ich war so überrascht, daß ich fast den Abgang vermasselt
hätte, aber dann konnte ich mich doch zusammennehmen und...«
»Still«, sagte Zofia und drehte das Radio etwas lauter.
Endlich war ein Übertragungswagen vor dem Bürogebäude
eingetroffen, und der Reporter hatte es geschafft, dem Leiter der polizeilichen
Untersuchung sein Mikrofon vor den Mund zu halten. Hauptkommissar Herzen
drückte sich vor klaren Antworten. Die Untersuchung habe ja soeben
erst begonnen, mit Ergebnissen sei demzufolge nicht zu rechnen. Unfall,
Selbstmord oder Mord?, beharrte der Reporter auf seiner Frage. Unfall
könne ausgeschlossen werden, scherzte der Hauptkommissar, denn
es sei unwahrscheinlich, daß Herr Stettner seine Fenster habe
putzen wollen. Auf den ersten Blick sehe es wie Selbstmord aus, doch
könne derzeit auch Mord nicht ausgeschlossen werden. Laurenz Stettner
habe kurz vor seinem Sturz einen Besucher gehabt, »einen großen,
dünnen Mann Ende Sechzig, leicht gehbehindert, läuft am Stock,
völlig ergraut, trägt einen gepflegten Vollbart und eine dicke,
sehr starke Hornbrille. Der Mann, dessen Name uns bekannt ist, wird
gebeten, sich unverzüglich mit der nächsten Polizeidienststelle
oder direkt mit mir in Verbindung zu setzen.« Der Hauptkommissar
sagte seine Telefonnummer und gab dann, etwas unwillig, noch ein paar
Auskünfte. Der gesuchte Zeuge habe sich nach Aussage der Sekretärin
mit ihrem Chef gestritten und sehr erregt dessen Zimmer verlassen. Nein,
er wolle nicht darüber spekulieren, ob das Gespräch im Zusammenhang
mit Stettners Tod stehe. Nein, auch nicht darüber, ob sich Stettner
vor der Vorstandssitzung fürchtete. Schon gar nicht darüber,
ob die Gerüchte über eine bevorstehende Pleite der TransNukem
fundiert seien. Das alles werde die Untersuchung ergeben.
Zofia drehte das Radio leiser.
»Der Bulle bildet sich nur ein, daß ihm mein Name bekannt
ist«, sagte Lächner. »Ich mußte den Ausweis nicht
zeigen, also entschied ich mich für eine Phantasievariante.«
»Namen sind ohne Bedeutung.«
Zofia konnte eine so günstige Gelegenheit, ihre Lieblingsredensart
einzusetzen, nicht ungenutzt verstreichen lassen.
»Auch Personenbeschreibungen sind ohne Bedeutung. Ich werde die
ursprüngliche Haarfarbe wieder herstellen. Dann hält mich
keiner mehr für einen Endsechziger. Höchstens die Sekretärin
würde mich bei einer Gegenüberstellung erkennen, aber dazu
wird es nicht kommen. Wie sollten die mich finden? Vor allem: warum?
Es war Selbstmord.«
»Hör auf!« schrie ich ihn an. »Hör auf!«
»Nicht so laut! Die Nachbarn!« sagte Zofia.
»Das ist mir scheißegal! Ich hab’s satt! Dieses idiotische
Lügen! Schluß. Aus. Ich war dicht dran, euch wirklich zu
mögen, euch fast für Freunde zu halten, auch wenn ihr mich
die ganze Zeit verschaukelt habt. Meint ihr, das merke ich nicht, nur
weil ich die Klappe halte? Eure Stories haben mehr Löcher als Fäden.
Na und? Geschenkt! So sind Agenten eben. Und nach und nach steige ich
trotz eurer Spinnereien dahinter. Aber Informationen sind etwas anderes
als Mord! Was ihr gestern abgezogen habt, war ein bißchen hart,
aber irgendwie noch zu verstehen, wenn man eure Regeln akzeptiert. Das
heute ging zu weit. Man wirft Leute nicht einfach aus dem Fenster. Ihr
könnt doch nicht alle umbringen, die ihr für Feinde haltet!«
»Kommt drauf an, wie viele es sind«, Zofia grinste.
Lächner blieb ernst. »Ich habe ihn nicht rausgeworfen!«
schwor er.
»Obwohl dein Beruf Lügner ist, kannst du das nicht besonders
gut. Was hat Stettner falsch gemacht? Hat er dir eine pampige Antwort
gegeben? Oder den Namen einer Person genannt, die du unbedingt schützen
willst? Wolltest du deine Spuren verwischen? Oder hattest du einfach
mal Lust, jemanden durch eine Scheibe auf die Straße zu werfen?
Ihr braucht doch keinen Grund, wenn ihr jemanden umlegen wollt.«
»Einen Grund schon: Wir tun das fürs Vaterland.«
Mein Ausbruch schien Zofia zu belustigen; sie reizte mich mit ihren
ironischen Bemerkungen, und ihr konnte ich auch nicht böse sein.
Wahrscheinlich wollte sie mir klarmachen, daß ich maßlos
übertrieb. Mag sein, aber meine Wut wurde nicht kleiner. Ich konzentrierte
sie auf Lächner.
»Killer! Du bist nicht besser als Basler, der Berufssadist. Der
hat auch geglaubt, auf der richtigen Seite zu stehen und für eine
gute Sache zu morden. Nur daß Leute wie ihr keine Ahnung haben,
was gut und böse ist!«
»Doch«, sagte Lächner leise. »Das weiß
ich.«
Er klang so resigniert, daß Zofia zu grinsen aufhörte.
»Ich bin anders, als du denkst«, fuhr Lächner fort.
»Ich bin kein Killer. Oder wenn doch, dann nur in der Art, wie
es jedem Soldaten passieren kann, daß er jemand tötet. Bisher
waren es drei. Die ersten beiden in Selbstverteidigung. Das war bei
einem Bürgerkrieg in Afrika. Ich mußte schießen, sonst
hätten sie mich erschossen oder mit ihren Buschmessern zerhackt.
Ich bin nicht mal sicher, ob die tödlichen Schüsse aus meiner
Waffe kamen. Genaugenommen war das gestern der erste, der zählt.
Ich hab’s mir nicht anmerken lassen, aber das war nicht leicht.
Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Nicht eine Minute! Das war
zwar irgendwie auch Selbstverteidigung, und ich hab dir mit dem Stich
wahrscheinlich das Leben gerettet, und eigentlich sollte mein Gewissen
mich belobigen, aber das tut’s nicht. Stettner hab ich nicht angerührt!
Das ist die Wahrheit. Ich bin kein Killer. Jedenfalls keiner, der mit
eigener Hand Menschen umbringt. Aber ich habe Schlimmeres getan. Das
sage ich, weil ich sehr wohl noch zwischen Gut und Böse unterscheiden
kann.«
»Was ist schlimmer, als jemanden aus dem Fenster zu werfen?«
fragte ich.
»Anzuordnen, daß jemand aus dem Fenster geworfen wird. Verantwortung
zu tragen. Ich bin mitverantwortlich für den Tod von einer Million
Menschen.«
Zofia erbleichte und schüttelte den Kopf. Ich war zu überhaupt
keiner Reaktion fähig. Mit zitternden Händen entzündete
Lächner eine Zigarette.
»Du stellst dir Geheimdienstarbeit wie in einem James-Bond-Film
vor«, sagte er. »Und was wir zur Zeit erleben, wird deine
Vorstellungen bestätigen. Aber das ist nicht typisch! Noch nie
ist in Deutschland auf mich geschossen worden. Auch nicht anderswo auf
der Welt, außer in Mozambique, und selbst dort war nicht ich gemeint,
sondern nur zufällig unter denen, die angegriffen wurden. Die CIA
macht manchmal nasse Sachen, bringt linksliberale Präsidenten und
andere mißliebige Personen um. Der KGB hat das mit Dissidenten
und Abweichlern auch getan. Wir nicht! Vielleicht die kleine Sondertruppe
deines speziellen Freundes Pelzer, darüber weiß ich zuwenig,
aber das Gros von uns sammelt Informationen. Nichts sonst. Und trotzdem
sind wir nicht wirklich besser. Wir mischen uns ein. Überall auf
der Welt. Wenn sich irgendwo zwei Parteien bekriegen, dann hofieren
wir diejenige, die am wenigstens links ist. So war das in Mozambique.
Die Regierung galt als prokommunistisch, also haben wir die RENAMO unterstützt,
Widerstandskämpfer in der offiziellen Lesart. Wir haben ihnen Geld
geschickt, Waffen, sogar Söldner. Wenn sie ungestört tagen
wollten, haben wir ihnen Quartiere besorgt, hier in Deutschland. Und
wir haben ihnen Berater zur Seite gestellt. Ich war einer davon. Ich
habe gesehen, worum es wirklich ging. Klar, wenn sie Regierungstruppen
trafen, haben sie auch auf die geschossen. Aber das kam selten vor.
Meist überfielen sie Dörfer und haben Zivilisten umgelegt.
Bauern, ihre Frauen und Kinder. Das war eine so blutrünstige Bande,
daß ich es nicht aushielt. Ich konnte sie nicht beraten, ich wollte
es nicht. Ich bin abgehauen. Die beiden, die ich getötet habe,
waren von der RENAMO, wenigstens das. Ich war schon auf Territorium,
das sie nicht kontrollierten, und zum Glück war auch eine FRELIMO-Einheit
im Dorf. An dem Tag haben es unsere diensteigenen Mörder nicht
geschafft. Das waren sie, Mörder. Ob sie wirklich eine Million
Menschen umgebracht haben, weiß ich nicht. Vielleicht waren es
mehr, vielleicht auch bloß die Hälfte. Das ist nicht wichtig.
Wichtig ist, daß wir sie unterstützt haben. Nicht allein,
natürlich hat die CIA die Aktion geleitet, und die gröbste
Drecksarbeit haben die südafrikanischen Geheimdienste gemacht,
die Leute von BOSS und dem MIS. Wir waren dabei. Ich war dabei. Ich
habe es nicht angeordnet, ich wollte es sogar stoppen, habe Berichte
geschrieben und mich unbeliebt gemacht. Aber bin ich ausgestiegen, als
nichts passierte? Habe ich die Öffentlichkeit angerufen? Nein.
Sie teilten mich der Ostaufklärung zu, wo es nicht so viele Leichen
gab, jedenfalls nicht durch uns, und ich hab mich ducken lassen und
mitgespielt.«
Lächner entzündete die nächste Zigarette. Seine Hände
waren wieder ruhig. Da wir nichts sagten, sprach er weiter.
»Ich lege Leute nur um, wenn ich mit dem Arsch an der Wand stehe,
und auch wenn mir das ein paar schlaflose Nächte einbringt, ist
es richtig. Falsch ist es, eine Bande von Metzgern im Interesse der
Freien Welt mit Schlachtwerkzeugen zu beliefern. Die Demokratie ist
aus dem Ruder gelaufen, wenn so etwas gefördert wird. Ich verstehe
nicht, wie man das Kroppzeug wählen kann, das dafür verantwortlich
ist. Dummheit ist die wichtigste staatstragende Eigenschaft, aber sie
entschuldigt nicht alles. Ich bin etwas schuldiger als das Stimmvieh,
weil ich mehr gewußt habe, aber inzwischen sind Informationen
über die Massaker zugänglich. Liest das jemand? Mußte
auch nur einer deswegen seinen Hut nehmen? Und ich mach immer noch mit.
Ich spioniere fürs Vaterland und für das beste aller freiheitlichen
Systeme, ich laß mich bezahlen und warte auf meine Pension. Es
ist ein beschissener Job, aber ich kann nichts anderes. Seit neunundsechzig
bin ich dabei. Ich bin zu alt, noch was Neues anzufangen, und zu jung,
schon in Rente zu gehen. Was wir jetzt durchziehen, das ist eine gute
Sache, falls ich tatsächlich noch zwischen Gut und Böse unterscheiden
kann. Doppelagenten und Verräter hat es immer gegeben. Das gehört
zum Gewerbe. Sie richten Schaden an, aber der ist meist nicht sonderlich
hoch, weil auf der anderen Seite auch genügend Doppelagenten sitzen
und den Verrat zurückverraten. Bedenklich wird es dann, wenn sie
in einflußreicher Position sitzen. Je höher, desto schlimmer.
Unser Herr X scheint ziemlich weit oben zu sitzen. Der ist auf jeden
Fall gefährlich. Nicht nur für uns, sondern für ein paar
hundert oder tausend Menschen, unter Umständen sogar für die
ganze Welt. Ihr denkt, ich übertreibe?«
Sind wir, dachte ich, tatsächlich drauf und dran, die Welt vor
den Anschlägen eines Finsterlings zu retten? Kann das James Bond
nicht wesentlich besser als wir?
»Das wäre nicht das erste Mal! Ihr scheint beide keine Ahnung
von Geschichte zu haben, wenn ihr das nicht wißt. Schon mal von
Apis gehört? Das war der Codename von Oberst Dragutin Dimitrijevic,
Chef des serbischen militärischen Geheimdienstes, 1914 unter anderm
verantwortlich für die Sicherheit des Erzherzogs Franz Ferdinand
beim Besuch in Sarajevo. Dimitrijevic stand auch auf einer deutschen
Gehaltsliste. Wir wollten uns nach Osten erweitern und brauchten einen
Anlaß für einen Krieg. Er hat ihn geliefert und den Mord
am österreichischen Thronfolger organisiert. Dem Mörder hat
er eingeredet, es geht um Serbiens Unabhängigkeit. Die wurde damals
nicht erreicht, erst heute, und wenn man sich anguckt, was da abläuft,
wäre es vielleicht besser, daß sie es nie geschafft hätten.
Der Doppelagent hat den bis dahin größten Krieg der Weltgeschichte
mitinszeniert. Ich denke, daß wir ...«
Den Rest seines Vortrages bekamen wir nie zu hören. Zofia brachte
ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen und tastete nach ihrer Pistole.
In der Wohnungstür drehte sich ein Schlüssel.
13.30
Uhr
Das Mädchen blieb erstaunt in der Tür stehen. »Guten
Tag«, sagte sie unsicher; offenbar konnte sie sich unsere Anwesenheit
so wenig erklären wie wir uns die ihre, doch sahen wir so anständig
aus und saßen so ruhig am Couchtisch, daß es wohl seine
Ordnung haben mußte, nur wußte sie nicht, welche. Sie mochte
sechzehn oder siebzehn Jahre sein, war klein und etwas pummlig.
»Die älteste Tochter des Hauses Kunze, nehme ich an?«
fragte Zofia.
»Ja. Ich bin Birgit. Und Sie?«
»Haben dir deine Eltern nichts gesagt?«
»Nein.«
»Setz dich zu uns«, schlug Zofia vor und deutete auf den
freien Sessel. Verwirrt folgte Birgit der Einladung. Lächner schnaufte
und verdrehte die Augen. Schon wieder ein Problem!
»Wann hast du denn das letzte Mal mit ihnen gesprochen?«
»Gestern morgen.«
»Kurz bevor sie abgefahren sind?«
»Nee, ganz früh. Sie sind bestimmt nicht vor Mittag weggekommen.
Ick hab ‘ne Freundin besucht.«
»Ach so. Dann kannst du es ja nicht wissen. Mein Mann ist ein
Schulfreund deines Vaters. Wir kamen gestern in Berlin an, unangemeldet,
und hatten Glück im Unglück. Für ein Gespräch war
kaum Zeit, aber wir suchten für ein paar Tage ein Quartier, und
da bot uns dein Vater seine Wohnung an.«
»Schulfreund?« fragte sie und betrachtete mich mit sonderbarem
Blick.
»Wir haben uns lange nicht gesehen«, sagte ich.
»Sie sind viel jünger als mein Vater.«
»Danke, das hört man gern. Ich habe mich ein bißchen
besser gehalten. Aber nicht viel. Ich finde, daß er ganz gut aussieht
für unser Alter. Als Tochter hat man natürlich einen anderen
Blick dafür.« Es klang gestelzt; irgendwie lag es mir nicht,
Schulmädchen zu belügen.
»Warum haben sie mich nicht angerufen?«
»Sie waren sehr in Eile, weil sie einfach nicht fertig wurden
mit dem Packen«, erfand Zofia.
»Trotzdem«, beharrte Birgit. »Det machen sie nicht.«
»Was machen sie nicht?« fragte Zofia.
»Fremde in die Wohnung lassen und mir nicht Bescheid sagen.«
Sie war mißtrauisch, aber es reichte nicht zum Aufspringen und
Wegrennen. Wir sahen vertrauenswürdiger aus, als wir waren.
»Wir sind keine Fremden. Und was heißt, sie machen es nicht?
Sie haben es doch gemacht! Oder wie, glaubst du, sind wir sonst hier
hereingekommen?«
»Sie hätten mir wenigstens ‘nen Zettel hingelegt!«
»Das hätten sie wirklich tun sollen«, stimmte Zofia
ihr zu. »Verstehe ich ehrlich nicht, daß sie es vergessen
haben. Auf die fünf Minuten wäre es auch nicht mehr angekommen.«
Birgit nickte, Zofia hatte ihre Meinung getroffen. Trotzdem war sie
nicht ganz überzeugt, und schuld daran war offenbar meine jugendliche
Maske. Dabei war ich vermutlich sogar älter als ihr mir unbekannter
Vater.
»Wo sind Sie denn zur Schule gegangen?« wandte sie sich
unschuldig an mich.
»Na hier!« sagte ich und deutete mit dem Daumen über
die Schulter. Es schien die richtige Antwort gewesen zu sein, das Mädchen
entspannte sich.
»Wenn es dich stört, daß wir hier sind, suchen wir
uns natürlich ein anderes Quartier«, sagte Zofia. »Es
wäre schön bequem gewesen, aber wir finden sicher was anderes.
Morgen, spätestens übermorgen sind wir verschwunden.«
»Sind Sie Russin?« fragte Birgit.
»Geboren in Polen. Aber ich lebe schon lange hier und bin durch
die Heirat Deutsche geworden. Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt.
Magdalena Herrmann.«
»Frank Herrmann«, fiel mir ein.
»Und ich«, ließ Lächner zum ersten Mal seine
Stimme hören, »bin der Hans-Peter Moser, Franks Cousin aus
Freiburg in Breisgau. Wie wär’s denn, Magda, wenn du uns
einen Kaffee kochst?«
»Wir haben noch nicht mal Mittag gegessen«, maulte Zofia-Magdalena,
doch als brave Ehefrau und Cousine erhob sie sich sofort und ging in
die Küche.
»In welche Klasse gehst du?« fragte Lächner.
»Jetzt sind Ferien. Ick komm in die elfte.«
»Warum bist du nicht mitgefahren?«
»Mit meinen Eltern?« Gesicht und Tonfall signalisierten,
daß sie die Vorstellung für eine Zumutung hielt.
»Sturmfreie Bude in der Hauptstadt«, gab sich Lächner
verständnisvoll. »Mal was anderes als immer nur Mallorca.«
Zofia kam zurück und teilte uns mit, der Kaffee laufe durch, doch
Birgit beachtete sie nicht.
»Meine Eltern sind nicht in Mallorca. Noch nie gewesen.«
»Das war doch nur ein Witz.«
»Und wo sind sie? Det werden sie doch wenigstens gesagt haben,
oder?«
»Willst du uns verhören?« Lächner tat, als sei
er belustigt.
Birgit ließ sich nicht erschüttern. »Wo sind sie?«
»Frankreich«, sagte Lächner.
Vermutlich hatte er falsch geraten. Birgit verzog zwar keine Miene,
doch schob sie sofort die nächste Fangfrage hinterher. »Wie
heißt mein Vater mit Vornamen?«
Schweigen.
»Wie heißt er?« wiederholte sie.
Da hatte sie uns kalt erwischt.
»Dieter«, sagte Lächner.
»Daneben.«
»Joachim«, steuerte Zofia bei.
»Daneben. Und jetzt gibt der Schulfreund die Auflösung bekannt.«
Sie sah mich an.
»Norbert.«
»Wer sind Sie?« fragte Birgit.
Zofia zog ihre Pistole. »Hätte sowieso nicht lange funktioniert«,
murmelte sie.
Das Mädchen erbleichte.
»Wir sind die Guten«, erinnerte ich Zofia.
»Keine Angst«, beruhigte sie mich und Birgit. »Wir
wollen dir nichts tun. Auf gar keinen Fall. Du hast recht. Wir kennen
deine Eltern nicht, und sie kennen uns nicht. Wir sind ohne ihre Erlaubnis
hier. Sie wissen nichts davon. Aber wir sind keine Gangster. Ganz im
Gegenteil. Gangster sind hinter uns her. Als wir gestern sahen, daß
deine Eltern in Urlaub fuhren, haben wir uns in der Wohnung versteckt.
Wir stehlen nichts, wir machen nichts kaputt, und falls doch, bezahlen
wir es. Was wir essen, haben wir uns selber gekauft. Und in zwei Tagen
wollten wir sowieso verschwinden.«
Obwohl Zofia recht überzeugend klang, blickte das Mädchen
uns starr an. Sie hatte Angst, und das konnte ich ihr nicht verdenken.
Auf einmal war eine Welt in ihr Zuhause eingebrochen, die sie bislang
für ein Fernsehmärchen gehalten hatte, falls sie überhaupt
solche Filme sah. Drei fremde Menschen hatten die Wohnung besetzt und
bedrohten sie mit einer Pistole. Das war zuviel für einen Teenager.
»Wir bitten dich, nicht zu schreien und nicht wegzurennen. Dann
passiert dir nichts«, sagte Lächner.
»Halt die Klappe!« fuhr ich ihn an. Das Mädchen zuckte
zusammen. Ich mäßigte meine Lautstärke. »Das kannst
du mit einem Kind nicht machen!«
»Ich mach doch gar nichts!« verteidigte sich Lächner.
»Wäre ja auch noch schöner! Hör zu, Birgit, ich
weiß, daß es wie ein Alptraum für dich ist, und wir
können reden, soviel wir wollen, es wird nicht besser. Ich versuch’s
trotzdem.«
Sie starrte auf den Tisch, doch hatte ich den Eindruck, daß sie
zuhörte.
»Dir wird auf keinen Fall etwas passieren. Auch nicht, wenn du
schreist oder wegrennst. Margareta steckt jetzt die Pistole weg. Sie
wollte nicht auf dich schießen, sie wollte nur, daß du nicht
schreist und wegrennst. Wenn du schreist, halten wir dir den Mund zu,
und wenn du wegrennst, halten wir dich fest, aber etwas Schlimmeres
wird dir auf keinen Fall geschehen. Du merkst doch, daß wir alle
versuchen, dich zu beruhigen und mit dir zu reden. Das wäre nicht
nötig, wenn wir dir was tun wollten. Das alles hat nichts mit dir
zu tun. Wir haben selber ein Problem, wir haben selber Angst. Für
mich ist die Situation genauso absurd wie für dich. Ich bin Journalist
und nur durch Zufall dazugekommen. Die beiden anderen arbeiten für
den Geheimdienst und haben etwas herausgefunden, was gefährlich
ist, und ein paar Leute wollen sie daran hindern, ihr Wissen weiterzugeben.
Sie haben auf uns geschossen, wir sind entkommen und haben uns versteckt.
Solange wir nicht ganz genau herausgefunden haben, wer uns erschießen
wollte, können wir nicht mal zur Polizei gehen. Noch einen oder
zwei Tage, dann haben wir die Lösung, dann verschwinden wir aus
deiner Wohnung und deinem Leben.«
Zofia hatte die Waffe tatsächlich weggesteckt. Birgit hatte noch
immer Angst, aber sie blickte uns wieder an.
»Gehen Sie weg«, sagte sie leise.
»Hier können sie uns nicht finden. Versteh doch, wir haben
auch Angst.«
»Wie soll das weitergehen?« fragte Birgit resigniert.
»Wir werden es schon zusammen aushalten.« Zofia gelang es,
munter und fröhlich zu klingen, obwohl ihr ebenso trübe zumute
war wie mir. Das hätte einfach nicht passieren dürfen! Es
war nicht heroisch, sondern lächerlich. Wir mußten nicht
nur die Welt retten, sondern hatten dabei auch noch einen verängstigten
Teenager auf dem Hals. Das verdoppelte unsere Schwierigkeiten.
»Wenn Sie sich hier verstecken, werden Sie Ihren Fall nicht lösen«,
sagte das Mädchen.
»Wir würden uns ja eine neue Wohnung suchen, aber da kann
es ähnliche Schwierigkeiten geben.« Lächner ließ
seine Stimme sanft klingen, um sie nicht zu erschrecken und mich nicht
zu reizen. »Glaub mir, es gibt keine andere Lösung, als hierzubleiben
und der Situation das Beste abzugewinnen.«
»Sie wollen mir wirklich nichts tun?«
»Auf keinen Fall«, versicherte Zofia. »Du bist nicht
unsere Geisel und nicht unsere Gefangene. Du bist unser Gast. Wenn du
willst, unsere Gastgeberin.«
»Ick will nicht«, trotzte Birgit, »aber es bleibt
mir nichts anderes übrig.«
»Doch«, sagte Zofia. »Du kannst uns verraten, jetzt,
wo du weißt, daß wir dir auf keinen Fall etwas tun werden.
Du kannst es immer wieder versuchen, ohne daß dir was passieren
wird. Aber dann wird wahrscheinlich uns etwas passieren. Kann sein,
daß wir getötet werden. Und das willst du sicher auch nicht.«
»Ich kenne Sie ja gar nicht«, sagte Birgit. Unvermutet lächelte
sie mich an und setzte fort: »Und Sie kennen sich auch nicht so
gut. Sie haben Ihre Frau Margareta genannt. Ich denke, sie heißt
Magdalena!«
»Namen sind ohne Bedeutung.«
16. Juli,
01.30 Uhr
Zwei Polizisten schlenderten im müßiggängerischen Diensttempo
an einem Bürogebäude in Berlin-Charlottenburg vorbei. Sie
trugen die Sommeruniform — braune Hose, khakifarbenes kurzärmliges
Hemd, darüber der Temperatur wegen die farblich zur Mütze
passende Jacke. Es war ein Pärchen. Die Frau mochte Mitte Dreißig
sein. Sie hatte langes rotes Haar und war unwesentlich größer
als ihr Partner. Der Mann hatte einen dunkelblonden Schnurrbart und
dunkelblondes Haar. Er mochte Ende Dreißig sein und sah recht
flott aus in der Uniform. Zumindest fand er das selber. Das Pärchen
waren Zofia und ich. Die Verkleidung stammte aus dem Fundus des seligen
Panow. Zofias Uniform paßte, als wäre sie eigens für
sie geschneidert worden, während meine Hose entschieden zu lang
und zu eng war. Ich mußte den obersten Knopf offen lassen und
die Hosenbeine umkrempeln, doch in der Nacht fiel das sicher niemandem
auf.
Kein Licht im Bürogebäude. Das hatte Lächner vorausgesehen;
auch ein ungeklärter Todesfall würde an den Gepflogenheiten
im Hause nichts ändern. Es gab keinen Grund, das Büro zu bewachen.
Schlimmstenfalls war es versiegelt. Kein ernstzunehmendes Hindernis.
Siegel sollten brave Bürger abschrecken. Nicht Einbrecher oder
Agenten.
Den Nachmittag und Abend hatten wir mit Beratungen verbracht. Birgit
nahm daran teil. Wir hofften, daß sie unsere Gegenwart bereitwilliger
tolerierte, wenn sie wußte, worum es ging. Es gab, abgesehen von
der Zahl der Leichen am Wegesrand, wenig, was vor ihr geheimgehalten
werden mußte. X wollte vertuschen, wir aufdecken. Mulmig war mir
trotzdem. Wenn die Sache überstanden war — was dann? Das
Mädchen würde nicht dichthalten. Wenn entschieden wurde, die
Affäre intern zu regeln, war sie in Gefahr. Eine Mitwisserin, die
zum Schweigen gebracht werden mußte. Galt das nicht auch für
mich? Im Augenblick war daran nichts zu ändern. Zofia und Lächner
würden mir nichts tun, das wußte ich. Nicht mal, wenn sie
den Befehl dazu bekamen. Dem Mädchen würden sie ebenfalls
nichts tun. Und an das Später konnte ich später denken.
Daß es um ein Öko-Verbrechen ging, nahm Birgit für uns
ein. Leute, die Atommüllschiebungen verhindern wollen, können
einfach keine Verbrecher sein. Nur, daß wir nicht zur Polizei
gingen, verstand sie nicht. Fast alles hatte sie sich schweigend angehört,
doch zu diesem Punkt ersparte sie uns ihren Rat nicht. Öffentlichkeit
ist eine Waffe, verkündete sie. Es muß verhindert werden,
daß Atommüll einfach verbuddelt wird. Der Abfall kann Tausende
verstrahlen, über das Grundwasser sogar Zehntausende. Daß
irgendwo in der Zentrale des Dienstes ein Mann sitzt, der sich bestechen
ließ, ist nicht so wichtig. Herr X wird nicht der erste, nicht
der einzige und nicht der letzte korrupte Agent sein. Daß er vor
uns Angst hat und wir vor ihm, verstehe sie durchaus, aber die Polizei
wird uns vor ihm schützen, und wenn erst einmal alles veröffentlicht
ist, was wir wissen, ist es für diesen X zu spät, uns am Reden
zu hindern. Unsere Argumentation, daß nur Leute wie X es den Wirtschaftsverbrechern
möglich machen, über Ländergrenzen hinweg zu operieren
und daß die Polizei nicht mal friedliche Bürger schützen
könne, schon gar nicht in Ungnade gefallene Geheimagenten, leuchtete
ihr nicht ein.
Trotzdem blieb sie selbst dann friedlich, als wir sie in ihr Zimmer
schickten, um die nächsten Schritte zu planen. Allerdings vertrauten
wir ihr nur, soweit wir ihre Schritte kontrollieren konnten, also war
Lächner in der Wohnung geblieben, um sie unauffällig zu bewachen.
Ohnehin mochte er sich in der Nähe des Hauses, aus dessen oberstem
Geschoß sich Stettner zu Tode gestürzt hatte, nicht blicken
lassen.
Die Straße war kaum belebt. Sofern die Absturzstelle ein Wallfahrtsort
geworden sein sollte, war der Andrang der Sensationspilger jedenfalls
schon vor Stunden abgeflaut. Wir vollendeten unsere Runde um den Häuserblock
und schlenderten zum Eingang. Ich fummelte mit dem Universalschlüsselbund
an der Tür herum, Zofia behielt die Straße im Auge.
»Mach hin«, raunte sie mir zu. »Da kommen Leute.«
Ich knurrte und probierte den nächsten Schlüssel. Und den
nächsten.
Drei angetrunkene junge Männer blieben stehen und sahen uns zu.
Zofia wandte sich zu ihnen um und lächelte sie an. Sie lächelten
zurück und gingen weiter. Wenn Polizisten guter Laune sind, geschieht
nichts Spannendes, also gab es keinen Grund, uns bei der Arbeit zuzusehen.
Endlich schnappte das Schloß auf. Wir öffneten die Tür,
gingen ins Haus und sperrten hinter uns ab. Ich merkte mir den Schlüssel,
der gepaßt hatte, und verstaute das Bund. Drei Sekunden später
mußte ich es wieder vorholen, denn die Tür oberhalb der breiten
Eingangstreppe war ebenfalls verschlossen. Diesmal brauchte ich nicht
zu suchen, es war derselbe Schlüssel.
Die Lobby war nicht sonderlich groß, kaum mehr als ein verbreiterter
Durchgang zu den Fahrstühlen und der Haupttreppe. Viel war nicht
zu erkennen in der Finsternis. Daß dort Tische und Sessel standen,
bemerkte ich erst, als ich dagegenrammelte. Die Taschenlampen schalteten
wir nicht ein, da das Licht von der Straße aus gesehen werden
könnte.
»Nicht zum Fahrstuhl«, bremste Zofia mich flüsternd.
»Laufen?« murrte ich.
»Es gibt zwei Seitentreppen für Notfälle«, sagte
Zofia. »Auf jeder Etage Stahltüren mit Panikschlössern.
Von innen stets offen, von außen stets zu.«
»Sechs Schlösser öffnen? Wenn wir den Fahrstuhl nehmen,
ist es nur eins.«
»Wir haben nur den Universalschlüssel, keine Universalmagnetkarte.«
Dem konnte ich nicht widersprechen. Die TransNukem hatte den rechten
Trakt gemietet, also gingen wir nach rechts. Die Feuertüren ließen
sich mit Panows Ausrüstung mühelos öffnen. Eigentlich
erstaunlich, daß es nachts nicht in sämtlichen Büros
von Spionen wimmelt, wenn es solche Schlüsselsysteme gibt. Zwei
Minuten später jedenfalls standen wir vor der Tür des Vorzimmers
von Stettners Büro. Eine halbe Minute später dahinter. Zofia
schaltete die Taschenlampe an. Kein Siegel vor der Tür zum Zimmer
des Chefs. Eine Klinke, die zu drücken nichts nutzte, und neben
der Tür ein elektronisches Schloß. Mit penetrantem giftgrünem
Blinken wies es darauf hin, daß es in Betrieb war. Zehn Ziffern,
zwei Symbole.
»Ein Pincode«, sagte ich. »Nun sind wir am Arsch.«
»Nicht unbedingt.« Zofia kramte in ihrer Tasche, holte ein
Kästchen und einen Pinsel hervor. »Graphitstaub«, erklärte
sie. »Damit sichert man Fingerabdrücke. So ein Code wird
nicht jeden Tag gewechselt.« Sie verteilte den Staub auf der Tastatur
und pinselte darauf herum. »Das heißt, Abdrücke sind
nur auf den Tasten, die die Tür öffnen. Das sind...hm, nur
drei. Bei dieser Sorte Schloß sind es eigentlich vier.«
»Eine Taste zweimal, ist doch klar. Nur welche? Und in welcher
Reihenfolge?«
»Es sind die Ziffern eins, fünf und sechs.«
»Mindestens fünfzehn Kombinationsmöglichkeiten, glaube
ich.«
»Sechsunddreißig, um genau zu sein.«
Gott, war die Frau schlau!
»Vielleicht haben wir einen Fehlversuch, ehe ein Alarm losheult.«
»Dann müssen wir die fünfunddreißig falschen eben
vermeiden.«
»Wie denn?«
»Du bist der Schlosser. Laß dir was einfallen.«
»Erstens bin ich kein Schlosser ...«
»Sondern Journalist und freier Geheimdienstmitarbeiter, ich weiß.«
»Ich habe nie für einen Geheimdienst gearbeitet.«
»Wenn nicht früher, dann eben jetzt. Und zweitens?«
»Als ich gelernt habe, übrigens nicht mal ein halbes Jahr
und ohne großen Erfolg, waren die elektronischen Schlösser
noch gar nicht erfunden. Jedenfalls nicht im Osten.«
»Dann muß ich es aufschrauben und sehen, ob wir es überbrücken
können.«
»Verstehst du was davon?«
»Na ja...«
»Kann man den Code eigentlich frei wählen, wenn so was eingebaut
wird?«
»Natürlich.«
»Die meisten suchen sich was Einfaches. Eine Zahl, die anderen
unbekannt ist, die sie selbst aber nie vergessen.«
»Der erste Kuß ...«
»So romantisch war Stettner sicher nicht. Er wird den eigenen
Geburtstag gewählt haben. Wann ist er geboren?«
»1965. Sechs und fünf. Tag und Monat weiß ich nicht.
Immer noch fünf Möglichkeiten. Erster, fünfter oder sechster
Januar, erster Mai, erster Juni.«
»Die Chancen stehen eins zu vier. Keine schlechte Quote. Wenn
wir zwei Versuche haben, sogar noch besser. Übrigens glaube ich
nicht, daß ein Alarm dranhängt. Nicht an einer Bürotür.«
»Und wenn doch?«
»Erster Mai paßt nicht zu Stettner. Kampftag der Werktätigen.«
Zofia sah mich merkwürdig von der Seite an. »Kampftag der
Werktätigen?«
»So hieß das bei uns. Bei euch doch auch?«
»Erster Juni paßt auch nicht zu ihm. Internationaler Tag
des Kindes. Stettner war nie Kind.«
Entschlossen drehte sie sich der Tafel zu, und ohne zu überlegen,
tippte sie sechs, eins, sechs, fünf ein. Ein Klicken, und die Tür
ließ sich aufklinken.
Stettners Büro war bescheidener eingerichtet, als ich mir vorgestellt
hatte. Ein großer, schwarzer Schreibtisch mit zwei Telefonen,
einer Wechselsprechanlage und einem Faxgerät, dahinter ein hochlehniger
dunkler Lederdrehsessel, ein Aktenschrank, ein runder Tisch mit drei
Stühlen und ein Computertisch, auf dem zwei Computer standen. Der
eine, der mit einem dritten Telefon verbunden war, interessierte Zofia
nicht. In den hätte sie sich auch von außerhalb einhacken
können. Wir waren wegen des zweiten Geräts eingebrochen, dessen
Existenz Lächners geschulter Beobachtungsgabe nicht entgangen war.
Wozu brauchte der Jungunternehmer das, wenn nicht dafür, um Daten
zu speichern, die keinerlei Zugriff von Unbefugten ausgesetzt werden
durften?
Zofia drückte auf den Power-Schalter. Piepend erwachte der Computer,
und über den Bildschirm jagten weiße Buchstaben auf schwarzem
Grund.
»MS-DOS«, sagte sie.
»Ist das gut oder schlecht?«
»Für uns gut, da kenne ich mich besser aus als auf einem
Mac. Habe ich mir gedacht!« rief sie plötzlich.
›Enter Password‹ stand auf dem Bildschirm.
»Das werden wir nicht so leicht rauskriegen wie den Türcode«,
vermutete ich.
»Viel leichter und ohne Nachdenken!« Zofia — ihre
Glock trug sie wie gewohnt im Achselhalfter — zog aus dem zur
Uniform gehörenden Holster ein Gerät, suchte sich auf der
Rückseite des Computers die geeignete Schnittstelle und aktivierte
die Box. »Wie gesagt, ich habe es erwartet. Das Gerät sucht
selbständig den richtigen Code. Wir brauchen nur abzuwarten.«
Warten kann unangenehm werden, wenn man vor einem Monitor sitzt, auf
dem sich absolut nichts tut. Selbst in angenehmer Gesellschaft schleicht
die Zeit quälend langsam voran, ganz im Unterschied zu meinem Herzen,
das sich unnötigerweise für einen rasenden Galopp entschieden
hatte und so laut ratterte, daß man es sicher im Vorzimmer hören
konnte. Zum Schwatzen waren wir beide nicht aufgelegt. Zofia ließ
sich nichts anmerken, aber auch sie war nervös. Außer uns
war niemand im Gebäude, doch war es durchaus möglich, daß
eine Wachgesellschaft in regelmäßigen oder unregelmäßigen
Abständen nach dem Rechten sah oder daß eine Putzkolonne
anrückte. Lag in den benachbarten Büros das SEK auf der Lauer
nach dem Mörder, den es stets an den Ort der Tat zurückzieht?
Bemerkte jemand, der unsere Uniform zu Recht trug, das Flackern hinter
dem zerbrochenen Fenster?
Das Fensterbrett befand sich knapp unterhalb der Bauchhöhe. Kein
unüberwindliches Hindernis für einen Sprung, während
das Hinausschubsen nicht so leicht sein dürfte. Ich ging hinüber
und sah es mir an. Die Polizei hatte das gleiche Mittel verwendet wie
Zofia bei der Codetafel. Deutlich zu erkennen der Abdruck eines Schuhs.
Das erleichterte mich: Der erste sichere Hinweis dafür, daß
Lächner uns nicht belogen hatte.
Ich blickte aus dem Fenster auf die Straße. Kein Mensch zu sehen.
Ein einsamer Streifenwagen kam angefahren. Ich zuckte zurück, dann
sah ich wieder hinaus. Die Funkstreife fuhr vorüber.
Zofia begann zu tippen.
»Sind wir drin?« fragte ich und trat hinter ihren Stuhl.
»Wir ja, aber es nicht.«
»Wie meinst du das?«
»Gelöscht. Viel gelöscht. Fast alles.«
»Soweit ich weiß, kann man Gelöschtes wieder sichtbar
machen, solange es nicht überschrieben ist.«
»Was glaubst du, was ich gerade tue? Meine Memoiren tippen?«
Sie hämmerte auf den Tasten herum, bis ein Text erschien. Er war
derb verstümmelt und mit Fragmenten aus mindestens zwei anderen
Texten durchsetzt, doch war es ein Anfang.
Ich muß zugeben, daß ein anderes Gefühl stärker
war als die Angst: Freude. Vielleicht war sie hektisch und überhitzt,
aber sie war echt. Endlich erlebte ich, wovon ich in meinem ereignisarmen
Leben oft geträumt hatte. Dieser Traum war so stark gewesen, daß
ich ihn, als mir Zweifel an der eigenen Identität kamen, für
realer hielt als die Erinnerungen an die Tristesse meines Alltags. Wahrscheinlich
träumen viele Männer etwas Ähnliches, doch bekommen die
meisten nie die Chance, in ihre fiktiven Welten hineinzusteigen. Und
sollte es ihnen doch zustoßen, werden sie damit gewiß nicht
so gut fertig wie ich.
Es war wie ein Wunder. Vor vier Tagen hatte ich einsam in meiner Wohnung
herumgehangen und meine Depressionen gehätschelt. Alles hatte ich
verloren, die Geliebte, die Freunde, sogar die Identität. Nichts
war mir geblieben als das Leben und die Gewißheit, daß ich
es vergeudet hatte. Wenn ich einen Energieschub hatte, raffte ich mich
auf und holte mir aus der Videothek einen Actionfilm. Sämtliche
Mitarbeiter der Videothek kannten und grüßten mich, obwohl
ich selten mit ihnen sprach. Ich war ihr bester Kunde, weil ich oft
Energieschübe kompensieren mußte. Was nutzt Energie, wenn
niemand sie haben will?
Auf einmal steckte ich selber mitten in einem Actionfilm. Ich hatte
einen väterlichen Freund gewonnen und eine junge Frau zur Seite,
die mir von Stunde zu Stunde besser gefiel, obwohl sie mit der Waffe
leichtfertig umging und eine mehr als obskure Existenz war. Wahrscheinlich
reizte mich gerade das. Nach Majas Tod hatte ich keine Frau mehr angesehen.
Zofia war die erste, die unter der Tarnkappe hervorgeschlüpft war,
die ich der Welt übergestülpt hatte.
Genau betrachtet, war es zu schön, um wahr zu sein. Ein Zauberer
klopft mit seinem Stab an meine Pforte, fegt die Spinnweben hinweg,
und es wird hell um mich herum. Die Welt ist nicht nur ein Jammertal.
Sie kann ein Ort sein, an dem sich Träume erfüllen. Nein,
dachte ich, das stimmt mit meiner Erfahrung nicht überein. Träume
erfüllen sich nicht so leicht. Meist erfüllen sich ja nicht
mal die Alpträume. Das kann nicht real sein. Das ist ein Abenteuerfilm,
der eigens für mich inszeniert wurde. Aber der Fall war echt, die
Toten bewiesen es. Und auch dieser Einbruch in ein Büro mitten
in Berlin war echt. Vor dem Fernseher hätte mein Herz nicht so
mörderisch gepoltert.
»Scheiße«, fluchte Zofia und holte mich wieder in
die Wirklichkeit zurück. Hektisch hämmerte sie auf der Tastatur
herum.
Der Lohn der Angst, der Mühen, der Ausdauer, der erwiesenen Fähigkeiten
war unangemessen. Leistung zahlt sich nicht aus. Eine Stunde später
waren wir nicht wesentlich schlauer. Nur noch nervöser. Die teilweise
rekonstruierten Texte waren alles andere als brisant. Entwürfe
von Briefen und Berichten, Bilanzen, ein paar persönliche Notizen.
Die zuweilen brillanten Formulierungen, die Stettner bei Interviews
spontan einfielen, hatte er auf seiner alten No-Name-Maschine vorbereitet.
Seine Geheimnisse hatte er dem Computer nicht anvertraut, und gelöscht
hatte er die Daten, weil sie nicht mal ihm etwas bedeuteten oder weil
das 40-Mega-Laufwerk voll war. Zofia kopierte einige Dateien, die sie
in Ruhe studieren wollte, und schaltete das Gerät aus.
Uns war längst klar, daß unsere Glückssträhne noch
immer nicht begonnen hatte.
»Eine verlorene Nacht«, sagte Zofia.
Das hatte ich bis eben auch gedacht, und daher weiß ich nicht,
woher mir plötzlich der Einfall kam, aus der Pleite einen Vorteil
zu ziehen.
»Nicht unbedingt. Klar, wir haben nichts gefunden. Das wissen
wir. Aber weiß es X?«
»X weiß nicht mal, daß wir hier sind.«
»Dann müssen wir dafür sorgen, daß er es erfährt.«
Zofia war schnell im Denken, sie verstand mich und erklärte mich
zum Genie. Ich sah keine Veranlassung, ihr zu widersprechen. Wir mußten
unaufdringliche Spuren unserer Anwesenheit hinterlassen, die auffielen.
Die Sekretärin würde die Polizei rufen, die Polizei die Presse
unterrichten. Es mußte klar sein, daß unser Besuch den Computern
galt. Falls Stettner mit X in Verbindung gestanden hatte, würde
es X beunruhigen, daß wir nun noch dichter an ihn herangekommen
waren. Nervöse Menschen machen Fehler. Genau das, worauf wir angewiesen
waren.
08.30
Uhr
Das frühe Aufstehen machte mich fertig. Inzwischen sah ich trotz
der schmeichelhaften Maske fast wieder so alt aus, wie ich war. Lächner
hatte mich um sieben geweckt und mir ein Gebräu vorgesetzt, das
er seit unserem gemeinsamen Greifswalder Morgen für starken Kaffee
hielt. Aber nach zweieinhalb Stunden Schlaf erschien es mir wie Abwaschwasser.
Ich mußte mir selbst einen Kaffee brühen, um einsatzfähig
zu werden. Genau darum ging es nämlich: um den nächsten Einsatz.
Schon wieder wurde ich gebraucht. Inzwischen lief nichts mehr ohne mich
bei den Schlapphüten.
In der Nacht hatte es keine Probleme gegeben, das Büro in jenen
Zustand zu versetzen, den wir für angemessen hielten. Mag sein,
daß wir etwas dick auftrugen, doch fürchteten wir, weniger
könnte zu wenig sein. Zofia schaltete den alten Computer wieder
ein und gab das von ihrem Gerät ermittelte Paßwort ein. Wir
wischten alles ab, was wir angefaßt hatten. Wenn der Einbruch,
wie gewünscht, bemerkt wurde, mußte das Inkognito der Einbrecher
desto sorgfältiger gewahrt bleiben. Die Tür mit dem elektronischen
Schloß lehnten wir nur an und hofften, daß der Zug beim
Öffnen der Vorzimmertür sie nicht zuwerfen würde.
Keiner der Nachtschwärmer beachtete uns mehr, als zu erwarten gewesen
war. Ungehindert erreichten wir das Auto, warfen unsere Dienstmützen
auf den Rücksitz und fuhren heimwärts. Trotz der mageren Ergebnisse
waren wir aufgekratzt und überdreht. Wir malten uns das Gesicht
von X aus, wenn er im Radio hörte, daß in das Büro der
TransNukem eingebrochen, aber nichts gestohlen worden war. Den Tätern
scheine es nur darum gegangen zu sein, Zugriff auf den privaten, mit
keinem Netz verbundenen Computer des am Vortag verunglückten Firmenchefs
zu bekommen. Über die blödesten Witze schütteten wir
uns vor Lachen aus und erfanden auf der Stelle neue, nur um nicht aufhören
zu müssen mit dem Lachen. Ich fühlte mich so wohl wie selten,
und Zofia ging es vermutlich nicht anders.
Im Friedrichshain, in einer dunklen Straße, zogen wir uns um.
Falls uns ein spät heimkehrender, ein schlafgestörter oder
ein früh aufbrechender Mieter des Hauses, in dem unser Notquartier
lag, sehen sollte, würden ihm Polizisten ungewöhnlicher und
bemerkenswerter erscheinen als Zivilisten. Zofia hatte keine Hemmungen,
sich in meiner Gegenwart zu entkleiden. Das hatte sie bereits im Hotel
getan und sich offenkundig nichts dabei gedacht. Vielleicht bemerkte
sie nicht, was sie damit bei mir auslöste, vielleicht war es ihr
egal, oder sie genoß es sogar. Im Auto allerdings waren wir uns
innerlich so nah, daß sie nicht mehr so tun konnte, als entgehe
ihr mein Interesse. Sie lachte mich an, sandte aber kein Signal aus,
eine Annäherung meinerseits sei erwünscht.
In der Wohnung versuchte ich es dann doch. Sie wehrte mich freundlich
ab, noch habe sie zu arbeiten, gab mir einen schwesterlichen Kuß
und schlich in Birgits Zimmer, in dem ein Computer stand. Das Mädchen
schlief so tief, daß Zofias Arbeit zwei Meter neben ihrem Kopfkissen
sie nicht weckte. Und ich hatte mich hingelegt und gehofft, Zofia werde
bald fertig werden und nachkommen. Dann war ich eingeschlafen. Am Morgen
hatte sie neben mir gelegen, und als ich aufstand, hatte sie sich auf
die andere Seite gewälzt, ohne die Augen zu öffnen.
Völlig ohne Ergebnis war unser Einbruch doch nicht gewesen. In
den Files von Stettners Computer war Zofia immer wieder auf einen Namen
gestoßen: Manuel Reymann. Stettners Junge für alles, so etwas
wie ein sehr persönlicher Sekretär, Mitarbeiter und Kompagnon,
auf jeden Fall ein Mann, der über die TransNukem nicht weniger
wußte als sein Chef. Wir schnappen ihn uns, ehe er seine Wohnung
verläßt, hatte Lächner gesagt. Das Einbrechen wird mir
langsam zur lieben Gewohnheit, war mir nach der ersten Tasse des Selbstgebrühten
eingefallen. Als ich nach der zweiten Tasse die Augen aufbekam, sah
ich endlich, daß mein Partner die Rentnermaske angelegt hatte.
Nun saßen wir also wieder im Auto, und ich tat, wofür Lächner
mich ursprünglich engagiert hatte. Ich chauffierte ihn. Unterwegs
hielt ich vor einem Zeitungskiosk und kaufte mehrere regionale und überregionale
Zeitungen. Der Berufsverkehr hatte begonnen. Obwohl ich die meisten
Schleichpfade kannte, würden wir einige Zeit bis zum Wannsee brauchen.
Die konnte Christoph mir durch Vorlesen verkürzen.
In den Boulevardzeitungen war Stettners Tod der Aufmacher, in den seriöseren
wurde er immerhin noch auf der Titelseite gemeldet.
»Tragisch: Todessturz
eines Jungmillionärs«, schrieb Bild.
Die BZ übertrumpfte sie mit »Pleite?
Millionär sprang vom Hochhaus«. Nun ist ein
sechsstöckiges Gebäude zwar nicht direkt ein Hochhaus, doch
sprach der Titel Lächner offenbar stärker an als der andere,
denn er begann seine Presseschau mit der BZ.
Ein Schock am Montagmorgen:
Neben den Passanten schlug ein Mann auf, verspritzte sein Blut über
den Asphalt. Es war Laurenz Stettner (31), Atom-Millionär. Chef
der TransNukem, spezialisiert auf die Entsorgung radioaktiver Abfälle.
Sein Büro war im sechsten Stock. Das Fenster ist zerbrochen. Seine
Sekretärin Iris G. (37): »Er war wie immer. Fröhlich
und guter Dinge. Ich glaube nicht an Selbstmord!« Kann es Mord
gewesen sein? Wer war der geheimnisvolle Besucher in Stettners Büro?
Lesen Sie bitte weiter auf Seite 3.
Lächner blätterte um.
Mysteriöser Besuch,
dann Todessturz
Laurenz Stettner (31) galt als Wunderkind der deutschen Wirtschaft.
Seine Eltern sind einfache Leute, Gaststättenbesitzer. Stettner
brachte es im Wortsinn vom Tellerwäscher zum mehrfachen Millionär.
Ein tüchtiger Manager, sagen alle, die ihn kannten. Verwöhnt
vom Glück. War der Erfolgsmann ausgebrannt? Drohte TransNukem die
Pleite? »Das glaube ich nicht«, sagt Wilhelm G. (51), Aktionär
der Firma. Er war zu einer außerordentlichen Beratung gerufen
worden. Die fiel nun aus. Was war der Grund für die Beratung? Wilhelm
G. weiß es nicht. Geriet Stettner in Panik? Hat er spekuliert
und verloren? Kurz vor dem Fenstersturz verließ ein Mann das Büro.
Ende 60, weißes Haar, weißer Bart, leicht gehbehindert.
»Er wurde ohne Termin vorgelassen«, sagt Chefsekretärin
Iris G. (37). »Als er nach drei Minuten wieder herauskam, war
er erregt, schimpfte. Herr Stettner hatte sein Angebot abgelehnt.«
Was war das für ein Angebot? Worum ging es bei dem Gespräch?
Hauptkommissar Hans Herzen (47) von der Berliner Kripo: »Das wissen
wir noch nicht, aber wir haben eine vielversprechende Spur.« Laurenz
Stettner war einer von Deutschlands begehrtesten Junggesellen. Das war
ihm zu wenig. »Er lebte nur für die Firma«, sagt Iris
G. Und gestern ist er dort auch gestorben.
Lächner überflog die anderen Artikel und trug sie mir in dosierter
Auswahl vor. Die seriösen Zeitungen berichteten ausführlicher
über Stettners Werdegang, hatten aber trotz der drei- bis viermal
so langen Texte auch nicht mehr mitzuteilen. Ein rätselhafter Selbstmord.
»Und du hast gedacht, ich habe ihn runtergeschmissen!« triumphierte
Lächner.
»Tut mir leid«, entschuldigte ich mich. »Was hättest
du denn geglaubt, wenn es mir passiert wäre?«
»Wahrscheinlich dasselbe«, sagte Lächner gutmütig,
um dann doch noch nachzuhaken: »Oder auch nicht. Du bist kein
Killer, und ich bin auch keiner. Mag ja vieles unklar sein, aber das
steht fest!«
»Du kommst von Berufs wegen öfter als ich in Situationen,
wo du auf Leute schießt«, verteidigte ich meinen längst
abgelegten Verdacht.
»Stimmt gar nicht. Abgesehen von Afrika, und das hatte nichts
mit dem Beruf zu tun, warst du jedesmal dabei.«
»In Greifswald nicht!« erinnerte ich ihn.
»Dabei ist doch nichts passiert!« protestierte Lächner.
»Nur mir! Dreißig Schuß und kein Treffer. Das ist
nicht gerade die Erfolgsbilanz eines Berufskillers.«
»Mensch, Christoph, ich glaub doch gar nicht, daß du ein
Killer bist. Sonst würde ich jetzt nicht mit dir mitkommen.«
»Mit Zofia bist du heute nacht auch mitgegangen, und die greift
schneller zur Waffe als ich.«
»Dafür sieht sie auch besser aus als du.«
Lächner lachte.
»In deiner gestrigen Bilanz«, fiel mir ein, »fehlten
auch die beiden Leute in Schwerin.«
»Der eine, dem du die Hand zertreten hast, lebt noch, und falls
der andere nicht mehr leben sollte, geht er mit Sicherheit nicht auf
mein Konto!«
»Dreißig Schuß und kein Treffer.«
Wir lachten. Auch mit Lächner konnte man Spaß haben. Selbst
dann, wenn man auf dem Weg zu einem Kidnapping war. Über seinen
Plan wußte ich gar nichts, und es bedurfte etlicher Fragen und
Antworten, bis ich endlich mitbekam, daß Lächner nicht aus
Gründen der Mystifizierung schwieg. Er hatte gar keinen Plan. Mit
dem Universalschlüssel die Tür öffnen. Reingehen und
improvisieren. Reymann die Pistole an die Schläfe drücken.
Fragen stellen. Auf Antworten bestehen. — Das ist schon mal schiefgegangen!
— Um so größer die Aussicht, daß es diesmal klappt!
Das Leben wird vom Zufall beherrscht, und der folgt bekanntlich den
Statistiken der Wahrscheinlichkeit. Es ist unwahrscheinlich, daß
sich dieselbe Panne wiederholt.
Meine Rolle war klein. Wenn viele Leute in der Wohnung sein sollten,
würde er ihn kidnappen; dann müßte ich die beiden in
den Wald fahren, wo Reymann ungestört befragt werden konnte. War
Reymann allein, wollte Lächner das Verhör gleich in der Wohnung
hinter sich bringen. In dem Fall hätte ich gar nichts zu tun, als
den Ausflug zu genießen.
»Gefordert wirst du nur, wenn irgendwas schiefgeht und ich abhauen
muß«, sagte Lächner. »Für den Fall mußt
du mit laufendem Motor bereitstehen und mich aufpicken.«
»Bei eins und drei kann ich hinterher mein neues Auto wegschmeißen«,
murrte ich.
»Wieso? Das Kennzeichen ist doch falsch. Aber stimmt schon«,
räumte er ein, »aus Sicherheitsgründen wär’s
besser, es loszuwerden. Ganz schön blöd. Du mußt natürlich
nicht.«
»Ich laß dich jetzt nicht im Stich.«
Er strahlte. »Wenn’s schiefgeht, kaufe ich dir ein neues
Auto. Okay?«
»Und wenn es so schiefgeht, daß du überhaupt nichts
mehr kaufen kannst?«
»Bloß keine düsteren Prophezeiungen. Das kann ich jetzt
gar nicht brauchen! Was soll denn schiefgehen? Meinst du, ich bin einem
Sekretär nicht gewachsen? Aber ich lasse dir meine Brieftasche
da. Gestern hatte sie Zofia. Wenn mir was zustößt, ist es
besser, ich habe sie nicht bei mir. Alles Quatsch und überflüssig.
Diesmal wird es klappen, das habe ich im Urin. Ich lasse sie dir trotzdem
da. Paß gut darauf auf. Es sind fast dreißigtausend drin.
Ich vertraue sie dir an, weil ich dir traue.«
»Ich traue dir auch«, log ich.
»Das ist gut.«
Obwohl uns der Stadtbezirk Zehlendorf nicht unbekannt war, hatten wir
uns Reymann in einer Mietwohnung vorgestellt. Er lebte jedoch in einem
Haus auf einem Grundstück. Etwas bescheidener als die benachbarten
Anwesen, aber sicher nicht billig. Ein Kompromiß zwischen gehobenen
Ansprüchen und dem nur mittelgroßen Geldbeutel. Sollte die
TransNukem tatsächlich von einer Pleite bedroht sein, lag es sicher
daran, daß ihre Mitarbeiter es sich leisteten, über ihre
Verhältnisse zu leben.
»Wenn Reymann auch aus dem Fenster springt, ist es nicht so schlimm«,
lästerte Lächner. »Er wird sich höchstens den Fuß
verstauchen.«
Wir fuhren hundert Meter weiter. Ich wendete in einer Einfahrt und fuhr
ein zweites Mal an Reymanns Minivilla vorbei. Dies war keine Gegend,
in der am Morgen reges Treiben herrschte. Viel mehr war sicher auch
mittags oder abends nicht los. Kaum ein Mensch zu sehen, kaum ein Auto
fuhr vorbei. Selbst die Zahl der parkenden Autos war nicht sonderlich
groß. Auch bei Reymann tat sich nichts. Ein langweiliger, überstylter
Vorgarten, ein aus dunklen Ziegeln gemauertes einstöckiges Haus
mit großen Fenstern und einem überdimensionierten Walmdach.
Keine Gardine bewegte sich. Es wirkte verlassen.
Drei Grundstücke weiter hielt ich an.
»Wende am Ende der Straße«, sagte Lächner. Fahr
wieder vorbei und halte fünfzig Meter dahinter. Warte ab, was passiert.«
»Gar nichts, wenn ich deinem Urin glauben darf.«
»Der ist klar und hell wie ein Alster.«
Lächner stieg aus und betrachtete die Pforte, vor der ich ihn abgesetzt
hatte. Erst als ich abgefahren war, überquerte er die Straße.
Ich wendete, wie er mir gesagt hatte. Wenn ich es richtig erkannte,
flankte er über die Pforte zu Reymanns Grundstück. Das war
für sein tatsächliches Alter eine Leistung und für sein
scheinbares Alter völlig unangemessen. Doch in dieser Straße
würde das niemand bemerken. Zum dritten Mal fuhr ich am Grundstück
vorbei. Es sah so tot aus wie immer, Lächner war verschwunden.
Vor dem Nachbargrundstück parkte ich, ließ den Motor laufen,
kurbelte die Scheibe herunter.
Gestern hatte Zofia seine Brieftasche, überlegte ich. Wann hatte
er sie ihr gegeben? Wann zurückbekommen? Was hätte er getan,
wenn ihn die Sekretärin nach seinem Ausweis gefragt hätte?
Womit hatte er die U-Bahn bezahlt, wenn er kein Geld bei sich hatte?
Nun gut, er konnte schwarzgefahren sein, die Brieftaschenübergaben
hatte ich nicht beachtet, und seinen Ausweis hatte er vor dem Besuch
bei Stettner herausgenommen oder nicht daran gedacht, daß er ihn
brauchen könnte. Alles möglich. Trotzdem hatte ich den Eindruck,
er habe es erfunden. Warum? Um mich zu beruhigen?
Ausgerechnet aus dem Anwesen, vor dem ich parkte, kamen Leute, ein achtjähriger
Junge und seine Mutter. Ich stellte den Motor ab, um nicht aufzufallen.
Der Toyota würde schnell genug anspringen für eine Flucht.
Die Frau beachtete mich nicht, und das Kind sah mich nicht einmal.
Es war so ähnlich wie am Vortag. Lächner handelte, und ich
konnte ihm nur mit Hilfe meiner Phantasie folgen. Diesmal hatte ich
nicht mal Zofia an meiner Seite. Das Hochgefühl der Nacht stellte
sich nicht ein. Hatte ich tatsächlich von so einem Leben geträumt,
in dem nicht Schauspieler mit Theaterrequisiten, sondern ganz normale
Menschen mit echten Waffen bedroht wurden? Nein, ich mochte nicht mit
mir hadern, zum Aussteigen war es zu spät, seit die Leute von X
auch nach mir fahndeten. Augen zu und durch. Keine müßigen
Grübeleien, lieber stellte ich mir vor, was Lächner machte:
Ungesehen umkreist er das Haus, checkt ab, wer sich darin aufhält.
Bei seiner zweiten Runde geht er zur Hintertür und probiert das
Universalbund durch. Wie immer ist es der letzte Schlüssel. Er
öffnet die Tür, geht leise hinein. Jetzt muß er Reymann
suchen. Das dauert nicht lange, groß ist das Haus nicht. Wesentlich
kleiner als Dehnerts Ruhesitz in Schwerin. Er findet ihn im Bad vor
dem Spiegel beim Rasieren. Hält ihm sofort die Beretta an die Schläfe.
Reymann sieht ihn nur im Spiegel. Er pinkelt sich in die Schlüpfer,
ohne es zu bemerken. Erkennen Sie mich nach der Beschreibung? fragt
Lächner und grinst böse. Ich bin Stettners letzter Besucher.
Der Todesengel der TransNukem. Wenn Sie nicht reden, werden auch Sie
für immer schweigen. Wer im Geheimdienst deckt Ihre Atommüllschiebereien?
Wer ist X? Reymann ist so eingeschüchtert, daß er ohne Zögern
den Namen herausplauzt ...
Glücklicherweise lief der Motor nicht mehr, sonst wäre mir
verborgen geblieben, was sich in Reymanns Haus abspielte. Schließlich
war es von meinem Parkplatz fast hundert Meter entfernt. Es knallte,
einmal, dann zweimal, dann noch einmal. Pistolenschüsse, da kannte
ich mich inzwischen aus. Leise zwar, aber Schalldämpfer wurden
nicht benutzt, sonst hätte ich gar nichts gehört. Lächner
hatte einen Schalldämpfer aufgeschraubt, seine Waffe war es also
nicht — was nicht bedeutete, daß er nicht auch geschossen
haben konnte. Das einzige grundlegende und allgemeingültige Gesetz
über die menschliche Gesellschaft wurde von Murphy formuliert:
Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen.
Ich krallte mich ins Lenkrad. Was sollte, was konnte ich tun? Hineinstürmen
und ihn heraushauen, war mein erster Gedanke. Doch bei allem Hang zum
Abenteuer: Dazu war ich nicht fähig, wie ich spätestens seit
der geglückten Befreiung von Zofia wußte. Wenn im Haus jemand
mit einer Pistole auf mich wartete, der mit Lächner fertig geworden
war, würde er mich auch niederschießen. Ist das Feigheit
oder Vorsicht? Ich kann Lächner doch nicht einfach im Stich lassen!
Vielleicht braucht er gar keine Hilfe. Gleich wird er über die
Pforte flanken und angerannt kommen. Also warte ich, wie wir vereinbart
haben. Und wenn er nicht kommt? Wenn statt seiner die Leute von X über
den Zaun springen, mich aus dem Auto zerren oder mir sofort eine Kugel
durch den Kopf jagen? Warum verriet mir mein prachtvoller Instinkt nicht,
was jetzt angemessen war? Vor zwei Nächten hatte er mich geführt.
Erst mal weg, wenigstens hundert Meter, und wenden. Falls Lächner
wider Erwarten herausstürmte, konnte ich ihm entgegenfahren. Ich
rechnete nicht mehr damit. Schon wieder hing alles an mir. Wenigstens
mußte ich herausbekommen, was im Haus vorgefallen war. Anschleichen
am hellichten Tag? Das war nicht mal dem Profi geglückt. Anders
als in Schwerin war der Umweg über Nachbargrundstücke nicht
möglich. Die Zäune und Hecken waren zu hoch, ohne Hilfsmittel
unüberwindlich. Ich konnte ja nicht klingeln und eine Leiter anfordern.
Wozu brauchen Sie die? Ich muß dringend über Ihre Hecke klettern.
Unsinn. Andererseits ist das Absurde manchmal die beste Lösung.
Wir hatten bei Panow auch Dienstausweise mitgehen lassen. Zwar zeigte
das Foto einen anderen Mann, doch so genau wird niemand hinsehen, redete
ich mir ein.
Noch einmal ein Blick über die Straße. Weder Lächner
noch jemand von der X-Bande zu sehen. Ich stieg aus, ließ die
Tür unverriegelt. An einem alten Toyota würde sich nicht mal
in übleren Gegenden jemand vergreifen. Auf der anderen Straßenseite
lief ich an Reymanns Grundstück vorbei. Die Mauern wahrten ihr
Geheimnis.
Schräg überquerte ich die Straße, klingelte beim Nachbarn.
»Ja, bitte?« dröhnte eine weibliche Stimme aus dem
Lautsprecher.
»Frau Bergius?« las ich den Namen am Briefkasten. »Kriminalpolizei.
Ich müßte dringend mit Ihnen sprechen. Direkt, nicht über
die Anlage.«
»Warum?« dröhnte der Lautsprecher.
»Es hat nichts mit Ihnen zu tun. Es geht um Ihren Nachbarn. Bitte
machen Sie auf.«
Knacken im Lautsprecher, dann summte es, und die Pforte ließ sich
aufdrücken. Der Vorgarten mit seinen überzüchteten ausländischen
Ziergehölzen, mit den exakt geschnittenen Hecken, mit den durchgestalteten
Sommerblumenrabatten, mit dem kurzgeschnittenen Rasen und den Marmortrittplatten
wirkte auf mich ähnlich unnatürlich wie Reymanns Schmuckstück.
Eine Frau mit blondiertem Pagenkopf erwartete mich in der Tür.
Sie trug ein cremefarbenes Kostüm, mochte um die Fünfzig sein
und hatte trotz der frühen Stunde schon Gelegenheit gefunden, mehrere
Schichten Schminke aufzutragen.
»Hauptm... äh, Hauptkommissar Finke«, stellte ich mich
vor und wedelte den Ausweis an ihren Augen vorbei. Wie erwartet, beachtete
sie ihn nicht.
»Waren das eben Schüsse?« fragte Frau Bergius.
»Sie haben es also gehört.« Das erleichterte mein Spiel.
»Mein Kollege hat soeben Herrn Reymann wegen einer Routinebefragung
aufgesucht...«
»Weil sein Chef gestern aus dem Fenster gestürzt ist.«
Die Dame war bestens informiert.
»Ja. Merkwürdigerweise wurde im Haus geschossen.«
»Das habe ich gehört.«
»Bitte, Frau Bergius, die Zeit läuft mir davon. Es geht mir
um folgendes. Da ich nicht weiß, was geschehen ist, muß
ich nachsehen. Von vorn wäre das zu gefährlich. Ich muß
ungesehen von hinten auf das Grundstück gelangen. Besitzen Sie
eine Leiter, die hoch genug ist, daß ich über Ihre Hecke
springen kann?«
»Soll ich Verstärkung rufen?«
»Hab ich bereits getan. Über Funk. Aber bis die Kollegen
da sind, kann sonstwas passieren. Besitzen Sie nun eine hohe Leiter?«
»Selbstverständlich. Sie liegt hinter dem Haus. Wenn Sie
mir bitte folgen würden.«
»Das halte ich für keine gute Idee. Es könnte gefährlich
werden. Bitte bleiben Sie im Haus, bis alles vorbei ist. Zu Ihrer eigenen
Sicherheit.«
Ich ließ sie stehen und hoffte, daß sie nicht wirklich die
Polizei anrief. Tatsächlich, die Leiter lag an der hinteren Hauswand.
Groß, stabil und, obwohl aus Aluminium, recht schwer. Ich trug
sie in den hintersten Winkel des Grundstücks, richtete und klappte
sie neben der Hecke auf. Die Beretta steckte im Halfter. Was konnte
schiefgehen? Alles. Das durfte mich nicht hindern. Ich stieg hinauf
und spähte über die Hecke.
Auch von hinten sah das Nachbargrundstück unbelebt aus. Doch war
der Natur jenseits der Einsichtmöglichkeiten durch Nachbarn mehr
Freiheit gewährt worden. Vier Meter zur Seite und ich konnte im
Schutz des um einen Baum wuchernden Gesträuchs hinunterspringen,
ungesehen von Reymanns Haus aus. Die Hecke war einen halben Meter breit
und mehr als zwei Meter hoch. Kein ungefährlicher Sprung, doch
hatte ich keine Wahl. Ich kletterte schnell hinab, versetzte die Leiter
und stieg wieder hinauf. Gerade als ich springen wollte, hörte
ich die Sirene. Die Verstärkung traf ein. Nur daß ich sie
nicht gerufen hatte.
Die Straße konnte ich nicht sehen. Die Sirene wurde abgeschaltet,
zwei Autotüren zugeworfen. Der zum Eindringen strategisch günstige
Platz war ungeeignet für Beobachtungen. Ich stieg von der Leiter,
klappte sie zusammen und transportierte sie wieder zur Hauswand. Nicht,
weil ich so überaus ordnungsliebend war, sondern weil ich Zeit
gewinnen wollte. Tun konnte ich sowieso nichts mehr. Nur noch zusehen,
was geschah. Und das ging am sichersten vom Bergius-Grundstück
aus.
Langsam lief ich um das Haus herum. Frau Bergius stand in der Tür
und teilte mir mit, meine Kollegen seien eingetroffen.
»Gott sei Dank«, rang ich mir ab. Weil mir partout nichts
einfiel, ein unverfängliches Gespräch zu eröffnen, ging
ich über die Marmorplatten zur Pforte. Tatsächlich, es war
ein Streifenwagen, der vor Reymanns Grundstück stand. Ich wandte
mich um. Frau Bergius war mir gefolgt.
»Alles in Ordnung«, sagte ich. »Wir haben die Lage
unter Kontrolle.«
»Jetzt können Sie von vorn hineingehen«, teilte sie
mir mit.
»Mache ich gleich. Sagen Sie, Frau Bergius, wie viele Schüsse
haben Sie gehört?«
»Viele. Bestimmt sechs oder sieben.«
»Wer kann da Ihrer Meinung nach geschossen haben?«
»Herr Reymann.«
»Besitzt er eine Waffe?«
»Mindestens eine. Er ist Mitglied in einem Schützenverein.«
»Kennen Sie ihn gut?«
»Nicht besonders. Er ist ja, wie soll ich sagen, anders.«
»Anders?«
»Anders. Wir sind sehr liberal eingestellt. Heutzutage gilt das
ja auch nicht mehr als Schande, doch wenn es nicht unbedingt erforderlich
ist, wählt man einen anderen Umgang.«
»Haben Sie überhaupt nicht mit ihm geredet?«
»Manchmal schon. Schließlich ist Herr Reymann unser Nachbar
und trotz seiner, hm, Vorlieben ein sehr kultivierter Mann.«
Ein Notarztwagen raste mit eingeschalteter Rundumleuchte, aber ohne
Sirene durch die stille Straße. Er bremste hinter dem Streifenwagen.
Zwei Männer in weißen Kitteln sprangen heraus. Ein dritter
öffnete von innen die Hecktür und sprang ebenfalls heraus.
Er rannte, eine große schwarze Tasche in der Hand, zum Haus. Die
beiden anderen zerrten eine Trage aus dem Auto und folgten ihm damit,
ebenfalls rennend. Wenn sie das Tempo beibehielten, würden sie
in ein paar Sekunden wieder erscheinen. Zeit, das Verhör zu beenden.
»Meinen Dank für Ihre Hilfsbereitschaft, Frau Bergius«,
sagte ich und deutete eine Verbeugung an. »Später wird jemand,
ich oder einer meiner Kollegen, Ihre Aussage aufnehmen.«
»Ich weiß doch gar nichts!« protestierte sie.
»Das machen wir routinemäßig bei allen Nachbarn«,
beruhigte ich die Dame. »Daraus erwachsen Ihnen keinerlei Nachteile.
Wir nehmen den Datenschutz sehr ernst.«
Die Sanitäter waren noch immer nicht zu sehen, also mußte
ich das Gespräch in die Länge ziehen.
»Da fällt mir noch ein«, zitierte ich einen Filmdetektiv,
»ist Herr Reymann eigentlich allein in seinem Haus?«
»Ob er allein war, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber außer
ihm wohnt niemand ...«
Die Sanitäter kamen mit der Trage heraus, begleitet vom Notarzt
und einem Polizisten.
»Ich komme darauf zurück«, sagte ich, öffnete
die Pforte und ging auf die Straße. Der Polizist sah mich, achtete
aber erst auf mich, als ich neben ihm stehenblieb.
»Gehen Sie weiter«, blaffte er mich an. »Hier gibt’s
nichts zu sehen.«
Auf der Trage lag Lächner, bedeckt mit einem weißen Tuch,
das an mehreren Stellen von Blut verfärbt war. Der Kopf war nicht
zugedeckt, also lebte er noch. Die Augen waren geschlossen.
»Gehen Sie weiter«, blaffte der Polizist, während die
Trage in den Krankenwagen geschoben wurde.
Ich verwandelte mich in die Person, die ich mir als Besitzer einer Villa
in Zehlendorf vorstellte. »Sprechen Sie nicht so laut, mein Gehör
ist in Ordnung«, sagte ich leise, scharf und so arrogant wie möglich.
»Bergius mein Name. Ich bin der Nachbar und denke, daß ich
ein Recht darauf habe zu erfahren, was hier geschehen ist.«
»Haben Sie nicht«, sagte er unfreundlich, aber eine Spur
leiser.
»Ich kenne meine Rechte!« behauptete ich und sah ihn blasiert
an. Es wirkte.
»Das ist ein Notfall«, erklärte der Polizist. »Der
Mann ist lebensgefährlich verletzt. Er muß sofort ins Krankenhaus.«
»Kommen Sie endlich«, rief der Arzt dem Polizisten zu. Der
ließ mich stehen und stieg zum Arzt in den Wagen.
»Und mein Nachbar, der Herr Reymann?« fragte ich.
Keine Antwort. Die Tür wurde mir vor der Nase zugeschlagen. Mit
eingeschalteter Rundumleuchte raste der Wagen davon. Den Gedanken, ihnen
hinterherzufahren, um zu sehen, in welches Krankenhaus sie Lächner
brachten, verwarf ich sofort. Wenn ich ohne Sondersignal so schnell
wie ein Notarztwagen fuhr, hatte ich sofort drei Funkstreifen im Schlepp.
Mindestens. Und selbst wenn nicht, konnte ich im Unterschied zum verfolgten
Auto nicht bei Rot über belebte Kreuzungen brettern. Das einzige,
was noch zu tun übrig blieb, war, Frau Bergius von ihrem Zaun wegzulocken,
damit sie nicht sah, mit welchem Auto ich abfuhr. Denn falls sie tatsächlich
von echten Polizisten befragt werden sollte, flog mein Schwindel natürlich
auf. Und die Quelle für frisch gefälschte Kennzeichen war
versiegt.
Frau Bergius wirkte recht zufrieden, als ich wieder zu ihr zurückkehrte,
meinte sie doch, aus erster Hand erfahren zu können, welche Tragödie
sich im Hause ihres Nachbarn ereignet hatte. Trotz ihrer guten Erziehung
fragte sie mich sofort: »Und? War es Ihr Mitarbeiter?«
Ich nickte mit tragischer Miene. Die mußte ich nicht vortäuschen,
mir war tatsächlich elend zumute. Lächner war niedergeschossen
worden, und diesmal hatte es nicht nur den linken Arm getroffen. »Eine
rätselhafte Tragödie«, sagte ich. »Noch völlig
unklar, wie es dazu kommen konnte.«
Auch an anderen Gartenpforten standen Nachbarn. Ungesehen kam ich sowieso
nicht mehr weg.
»Möglicherweise brauchen wir Ihre Aussage doch nicht. Das
entscheidet mein Vorgesetzter. Weil Sie so hilfsbereit sind, möchte
ich Sie warnen. Wahrscheinlich wird es hier gleich von Presse wimmeln.
Wenn Sie nicht wollen, daß Ihr Name in einer Schlagzeile mit dem
von Herrn Reymann steht, ist es besser, Sie gehen ins Haus und öffnen
auch nicht, wenn es klingelt.«
Das leuchtete ihr sofort ein. Sie nickte dankbar und fragte mich, ob
denn etwas gegen Reymann vorliege.
Ich wiegte unbestimmt den Kopf. »Darüber darf ich nichts
sagen.«
»Verstehe«, sagte Frau Bergius.
Ähnliches konnte ich von mir nicht behaupten. Ich verstand gar
nichts.
11.00
Uhr
Der eine überschätzte sich, da waren’s nur noch zwei.
Ich mußte klingeln, weil ja Lächner den Universalschlüssel
bei sich gehabt hatte. Es war eine Tür ohne Spion. Birgit fragte,
ehe sie öffnete, wer da sei.
»Ich bin’s, Fred. Äh, Franz. Frank? Scheiße,
ich hab meinen Namen vergessen.«
»Namen sind ohne Bedeutung«, sagte Birgit, als sie die Tür
öffnete.
Sie zog mich in die Wohnung und umarmte mich. Das überraschte mich,
und mehr noch, daß Zofia, die neben ihr stand, mich ebenfalls
umarmte. Ich ließ es mir gern gefallen.
Natürlich wußten sie längst Bescheid. Nachdem die erste
Nachricht im Radio gekommen war, hatten sie auf der Suche nach Informationen
sämtliche Stationen durchgeschaltet und bereits drei Berichte gehört.
Während ich erzählte, schaltete Zofia immer wieder von einem
Sender zum anderen. Das machte mich nervös, doch verstand ich sie.
Genaugenommen wußte ich ja selber nicht, was passiert war.
»Halt mal«, unterbrach mich Zofia und drehte das Radio lauter.
»...vor Ort. Was ist los bei der TransNukem, Andy?« fragte
der Moderator im Studio.
»So genau kann das zur Stunde wahrscheinlich noch niemand sagen«,
begann Andy seinen Bericht. Er hatte eine frische junge Stimme, durch
keinerlei Kenntnisse oder Selbstzweifel getrübt. »Fest steht
nur, daß es nicht mit rechten Dingen zugeht, daß die Firma
nicht so seriös ist, wie sie die Öffentlichkeit glauben machen
wollte. Wie aus gutinformierten Kreisen verlautet, könnten die
Gerüchte über eine bevorstehende Pleite durchaus auf Tatsachen
fußen. Es ist keine der üblichen Pleiten, die Umstände
werden immer mysteriöser. Zum zweiten Mal in nicht einmal vierundzwanzig
Stunden hat der Tod die Firma heimgesucht. Gestern stürzte sich
Laurenz Stettner, Geschäftsführer und Hauptaktionär der
TransNukem, aus dem Fenster seines Bürotrakts. Sekunden vor seinem
Selbstmord verließ ein alter Mann das Büro, dessen Identität
nicht ermittelt werden konnte. Heute nacht wurde in das Büro der
TransNukem eingebrochen. Das Interesse des Diebes galt den geheimen
Daten. Gestohlen wurde nichts. Täter unbekannt. Heute morgen kurz
nach neun Uhr suchte ein alter Mann — derselbe wie am Vortag —
das Haus von Markus Reymann auf, des besten Freundes von Stettner. Insidern
gilt er als graue Eminenz der TransNukem. Reymann, ein großer,
kräftiger Mann Mitte Dreißig, Mitglied eines Sportschützenvereins,
ließ den alten Herren nicht zu Wort kommen. Er streckte ihn mit
vier Schüssen aus seiner Walther PPK nieder. Zwar unterrichtete
er dann selber die Polizei und den Rettungsdienst, doch damit konnte
er den Verdacht nicht zerstreuen, daß es sich um Überschreitung
der Notwehr gehandelt habe. Falls die Bedrohung durch einen Greis, der
am Stock ging, überhaupt die Anwendung von Notwehr rechtfertigt.«
»Der Junge ist besser, als ich dachte«, murmelte ich.
Angeblich nutzt der Mensch nur zehn Prozent seines Gehirns zum Denken.
Wofür der Rest gebraucht wird, ist unklar. Eine der möglichen
Lösungen fiel mir jetzt ein: als Reserve für Notfälle.
Dies war ein Notfall. Ich hörte und verstand genau, was der Reporter
schwatzte. Zugleich dachte ich an etwas anderes. Da waren’s nur
noch zwei. Eine Frau und ein Amateur. Nur noch zwei...
Das Mädchen zählte nicht. Zwar hatte bei Birgit ziemlich schnell
das Geisel-Syndrom eingesetzt, sie fühlte sich nicht als Gefangene
im eigenen Hause, sondern sympathisierte mit uns, weil wir die Welt
vor einer Umweltgeißel schützen wollten. Dennoch war sie
eine Last. Wir konnten sie nicht wegschicken, nicht nur deshalb nicht,
weil das ihre Wohnung war, sicher hätte sie wieder eine Freundin
besuchen können, sondern vor allem deshalb, weil wir einem Teenager
einfach nicht zutrauten, ein paar Tage lang den Mund zu halten. Unter
dem Siegel strengster Verschwiegenheit würde sie der Freundin von
ihren Abenteuern erzählen, die dann vielleicht ihren Eltern oder
ihrem Freund, und irgendwann würde die Informationslawine unser
Versteck unter sich begraben. Und mit uns vielleicht das Mädchen.
»...lebensgefährlich verletzt, an seinem Aufkommen wird gezweifelt.
Er trug keine Papiere bei sich. Die Polizei steht vor einem Rätsel.
Hauptkommissar Herzen wollte vor dem Mikrofon nicht Stellung nehmen,
die Untersuchung habe gerade erst begonnen. Herr Reymann sei vorläufig
festgenommen, mehr könne und wolle er nicht sagen. Neben mir steht
eine Augenzeugin, die Nachbarin von Markus Reymann. Frau Bergius, was
ist heute morgen hier geschehen?«
»Ach du Scheiße!« murmelte ich. Nach meiner Warnung
war sie brav in ihre Villa zurückgekehrt. Ich hatte noch einige
Zeit mit Beobachtungen von Reymanns Haus verbracht, aus sicherer Entfernung
vom Ende der Straße aus, versteht sich, und niemanden herauskommen
sehen als den Fahrer des Streifenwagens. Wenn das Ganze eine Falle mit
Reymann als Köder gewesen war, zeigten sich die Fallensteller nicht.
Sie kamen auch nicht zum Vorschein, als die Kriminalpolizei eintraf.
Ich nahm an, daß es die Polizei war, sie stellten sich mir nicht
vor. Als dann auch noch die ersten Reporter eintrafen, zog ich mich
endgültig zurück.
»Na ja«, schwatzte die Bergius, »gesehen habe ich
erst mal nichts. Aber gehört. Schüsse. Ich wußte sofort,
daß es Schüsse sind. Viele Schüsse. Acht mindestens,
oder mehr. Ich dachte zuerst, jetzt übt Reymann schon in seinem
eigenen Haus, obwohl das verboten ist. Und dann dachte ich, daß
vielleicht etwas Ernstes passiert sein muß, daß vielleicht
jemand anders geschossen hat. Ich muß zugeben« — sie
hatte ihre Mikrofonscheu überwunden und sprach immer sicherer,
begann ihre Sätze zu drechseln wie beim Gespräch mit mir —
, »daß ich einige Zeit ratlos war, nicht wußte, was
ich tun konnte oder sollte. Doch dann klingelte schon der Polizist an
meiner Tür.«
»Ein Polizist?« fragte der junge Reporter und klang zum
ersten Mal überrascht; das hatte sie beim Vorgespräch wohl
nicht erwähnt.
»Ja. Er sagte mir, daß sein Mitarbeiter in Reymanns Haus
gegangen und dort mit Schüssen empfangen worden war. Er wollte
eine Leiter haben, um von hinten über die Hecke in das Nachbargrundstück
springen zu können.«
»Moment mal«, unterbrach Andy, Eifer in der Stimme. »Der
alte Herr, der von Reymann erschossen wurde, war ein Polizist?«
»Das hat Hauptkommissar Finke mir gesagt.«
»Und ist er über den Zaun gestiegen?«
»Das war nicht mehr nötig, weil dann schon die Verstärkung
kam.«
»Welche Verstärkung?«
»Die Funkstreife, die er gerufen hatte.«
»Er hatte die Funkstreife gerufen? Nicht Reymann? Wissen Sie das
genau?«
»Das weiß ich ganz genau. Er ging nämlich sofort hin,
gab dem Wachtmeister eine Anweisung, und der stieg daraufhin sofort
in den Krankenwagen und fuhr mit dem verletzten Kollegen mit. Dann kam
er noch einmal zu mir und...«
»Ich darf mal unterbrechen«, sagte eine Baßstimme.
»Hauptkommissar Herzen, der Leiter der Untersuchung«, meldete
Andy in sein Mikrofon. »Gibt es neue Erkenntnisse?«
»Kann man wohl sagen. Wie hieß der Polizist?« fragte
der Baß.
»Hauptkommissar Finke.« Die Altstimme.
»Gibt’s bei uns nicht.« Der Baß. »Wie
sah er denn aus, der angebliche Hauptkommissar?«
»Wieso angeblich?« Der Alt. »War er keiner?«
»Das weiß ich noch nicht.« Der Baß. »Wie
sah er aus?«
»Ziemlich groß und athletisch gebaut. Fast so groß
wie Sie.« Der Alt.
»Ich bin einsvierundachtzig«, verriet der helle Tenor des
Reporters. »Also einsachtzig?«
»Ich glaube schon.« Der Alt.
»Da hat sie sich um fast zehn Zentimeter verhauen«, sagte
ich.
Zofia blickte mich erstaunt an, wandte sich aber wieder dem Radio zu,
ohne mich etwas zu fragen. Mein Gehirn ratterte auf beiden Gleisen weiter.
Daß Lächner, nicht gerade Rambo, doch ohne Zweifel ein erfahrener
Agent, von einem wehrsportertüchtigten Bürokuli erschossen
worden war, konnte ich mir kaum vorstellen. Es war sinnlos, in jeder
Hinsicht. X mußte nicht mal in Erscheinung treten. Wir waren ihm
keinen Schritt näher gekommen. Statt dessen rückte er uns
näher; die Bergius ließ sich die Gelegenheit zur Porträtmalerei
nicht entgehen.
»...gut aus, Mitte Dreißig, schätze ich, dunkelblond,
mit Schnurrbart. Auf der rechten Wange eine Mensurnarbe...«
»Eine was?« Andys Stimme.
»Ein Schmiß, wie ihn sich Studenten in schlagenden Verbindungen
beibringen.«
»So was gibt es doch heute gar nicht mehr!«
»Nicht in Ihren Kreisen!« Die Bergius, sehr bestimmt. »Das
war ein hochgebildeter, gutgekleideter Mann mit feinen Umgangsformen.
Aus bestem Hause, so etwas sehe ich!«
Birgit und Zofia starrten mich an. Endlich hatten sie mitbekommen, von
wem die Rede war. Obwohl ich mich selbst nicht wiedererkannte in der
schmeichelhaften Schilderung. Sie beschrieb allerdings nicht mich, sondern
meine Maske. Dahinter konnte ich mich nun nicht mehr verstecken.
»Seine Stimme? Wie sprach er?« Der Baß.
»Sehr angenehm. Tief, dunkel, warm. Er sprach hochdeutsch ohne
jeden Akzent oder Dialekt. Eine kultivierte Stimme.«
Wenn ich mich ohnehin nicht mehr verstecken konnte, war es an der Zeit,
X gegenüberzutreten. Nicht zu seinen, sondern zu unseren Bedingungen,
auf unserem Territorium. Fünf leitende Beamte kamen dafür
in Frage, X zu sein, aber nur einer war es. Wenn es uns gelang, alle
in einem Raum zu versammeln, hatten wir vier potentielle Verbündete,
auch wenn sie es anfangs nicht ahnen würden. Um sich vom Verdacht
reinzuwaschen, würden sie ihre Kraft und ihre Möglichkeiten
daransetzen, den Verräter in ihrer Mitte zu entlarven. Selbst wenn
es ihnen wider Erwarten nicht gelingen sollte, wären wir besser
dran als jetzt. Wir würden alles erzählen, was wir wußten
oder vermuteten. Dann gab es keinen Grund mehr, uns aus dem Verkehr
zu ziehen. Zumindest wurde es ihm erschwert, denn außer uns existierten
vier weitere Personen, die ihm ihres Einflusses wegen gefährlicher
werden konnten als wir. Wenn er sie beseitigte, hatte er keine Tarnung
mehr, und wenn er es nicht tat, würden sie ihn irgendwann kriegen.
Wir brauchten sie nur gegeneinander auszuspielen. Diese Art der Auftragserfüllung
ließ sich zwar nicht mit Lächners Ehrenkodex vereinbaren,
doch der Agent lag auf dem Operationstisch, in einer Intensivstation
oder schon in der Pathologie; er konnte uns nicht bremsen. Zofia würde
etwas einfallen, sie nach Berlin zu locken. Zu einem Treffen nach unseren
Bedingungen. Eigentlich brauchte es nur eine Bedingung zu geben: Alle
fünf mußten gleichzeitig erscheinen. Es war so simpel, daß
ich mich wunderte, weshalb wir nicht früher darauf gekommen waren.
»Sie haben die Beschreibung gehört«, sprach Herzen
direkt in das Mikrofon. »Falls der Herr Finke unter den Hörern
dieses Senders ist, möchte er sich bitte umgehend mit mir in Verbindung
setzen. Und falls Sie jemanden kennen, auf den die Beschreibung des
großen Blonden paßt, rufen Sie bitte auch an.« Er
gab zwei Telefonnummern durch.
»Wenn der Mann kein Polizist war, was dann?« fragte der
Reporter.
»Sie haben genug bekommen für Ihr Geld«, ranzte ihn
Herzen an. »Frau Berg ...«
»Bergius. Mein Name ist Bergius!«
»Kommen Sie bitte mit. Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen,
ohne daß ganz Berlin zuhört.«
»Jetzt hat mir der Kommissar meine Gesprächspartnerin entführt«,
klagte Andy komisch. »Aber dafür«, er verlieh seiner
Stimme ernsthafte Festigkeit, »haben wir eine neue überraschende
Wendung in diesem mysteriösen Fall miterlebt. Wer ist der geheimnisvolle
junge Mann, der so vertraut mit den Polizisten sprach? Ein verdeckter
Ermittler? Ein Beobachter der Mafia? Ein Kollege vom Verfassungsschutz?
Im Augenblick gibt es mehr Fragen als Antworten. Ich bleibe für
sie am Ball!«
Bei seinen Spekulationen hatte der Jungreporter zum ersten Mal einen
Geheimdienst, wenn auch den falschen, erwähnt. Wenn ein Gedanke
erst einmal in der Welt ist, läßt er sich nicht mehr so einfach
unterdrücken. Indirekt waren wir X also doch ein Stück näher
gerückt. Er konnte uns nicht mehr ausweichen.
»Danke, Andy«, sagte der Moderator im Studio. »Wir
freuen uns, daß Hauptkommissar Herzen eine so hohe Meinung von
unserem Sender hat. Noch hört uns nicht ganz Berlin zu, leider,
aber es werden immer mehr, die feststellen, daß wir auf 101,7
die besten Informationen haben und live dabei sind, wenn die Polizei
neue Spuren entdeckt. Die beste Musik haben wir sowieso. 101,7 —
die größten Hits aus vier Jahrzehnten. Und das sind die BeeGees!!!«
Zofia schaltete das Radio aus, ich riß mir den Schnurrbart ab,
und Birgit starrte mich ungläubig an. Ich hatte viel zu erklären.