Auszug:
Schwarzgrau das Wasser. Träge strudeln Schmutzflocken
vorbei. Weißer Schaum treibt über dem Kopf entlang wie Eisschollen
bei Tauwetter. Langsam sinkt Falk in den schlammigen Grund ein, die
Augen weit geöffnet, das Sonnenlicht nur eine Ahnung, kaum mehr als
ein Schimmer. Mit aller Kraft preßt er die Lippen zusammen, um das
giftige Wasser nicht zu schlucken. Er spürt, wie es durch die Nase
eindringt und die Stirnhöhle verätzt. Ihn wundert, wie wenig ihn erstaunt,
daß er nicht atmet. Ohne das Brennen in der Stirnhöhle könnte es angenehm
sein, sich in weichen Schlamm zu betten, geborgen in der Apathie des
Untergangs. Grellbunte Blitze vor seinen Augen. Längst hat Falk kapituliert,
einsam stellt der Tod sich zum Duell, ohne einen Gegner, der gewillt
wäre, sich zur Wehr zu setzen. Ein monströs geometrischer Schatten
schwebt herab, landet mit unnachgiebiger Stahlkante auf Falks Füßen.
Müßte er nicht die Lippen aufeinanderpressen, würde er laut lachen
über die unnötige Mühe (wessen Mühe?), ausgerechnet ihn festzuklemmen,
der sich gar nicht bewegen will. Der Schatten gehört einem rostfleckigen
Container. Durch Korrosionslöcher sieht Falk, daß er mit Heftern und
Papieren prall vollgestopft ist. Aus dem heruntergekurbelten Fenster
einer Kabine im Vorderteil des Behältnisses grinst ihn ein Mann mit
gebleckten Zähnen an; dem ist es gleich, ob er Wasser schluckt, sein
Schädel blank genagt von Säuren; hier kann kein Lebewesen existieren.
Oder es ist der Tod in Person, altmodischer Auftritt wie im Horrorkabinett,
die letzten Sekunden sind bereits angebrochen, unnötig, sich länger
zu verbergen. Falk würde gewiß nicht mehr dazu kommen, Verbotenes
auszuplaudern. Tiefer sinkt er in den Schlamm, der ihm in die Ohrmuscheln
sickert, die Mundwinkel erreicht; Sekunden noch, dann taucht er in
der Schwärze unter, die sich zu den Augenwinkeln empor saugt, Ruhe,
endlich Ruhe.
Unter ihm zuckt es. Lebt der Schlamm der Abwässer? Dünn, schleimig,
kalt windet es sich hervor. Glänzendschwarze Würmer, Schlangen, Aale
wimmeln an seinen Augen vorbei, glitschen über sein Gesicht. Er will
sich aufrichten, stemmt sich gegen den Sog des Sumpfes, Schlamm rinnt
aus den Ohrmuscheln. Zischeln von Schlangen, gedämpft durch breiige
Pfropfen. Er drückt die Ellenbogen in den Morast, schmatzend kommt
der Oberkörper frei, klappt empor, das Gezücht schnellt auf ihn zu,
lange Reihen kleiner spitzer Zähne in weit aufgerissenen Rachen, darüber
grinsendes Gebein, Tod triumphiert: In letzter Sekunde stellt Falk
sich zum aussichtslosen Zweikampf. Die Schienbeine abgeknickt, Ätzen
unter der Stirn, um ihn Muränen, kranke Geschöpfe mit schlaff herunterhängenden
mürben Hautfetzen, die Schleim über sein Gesicht verteilen und eine
Stelle suchen, an der sie in seinen Körper eindringen können. Zu klein
die Nasenlöcher, zu prall die hervorquellenden Augen, zu fest verschlossen
der Mund. Sie warten. Er kommt nicht weg. Begreift, daß er erstickt.
Schmieriges Papier im grindigen Behälter, beherrscht von einem fröhlichen
Toten, klemmt ihn unter Wasser fest inmitten fleischfressenden Gewürms.
Ihm fällt ein, was alles er noch dringend erledigen müßte und nicht
mehr kann. Verzweifelt über die Ohnmacht, hilflos ohne jede Hoffnung,
schreit er und spürt, wie der größte der Fische in seinen Rachen
einfährt, sich im Gaumen verbeißt. Falk läßt seine Zähne zusammenkrachen,
schmeckt Blut, der zuckende Leib des Riesenwurms sinkt in seinen Schoß,
verfolgt von schuppigen Gefährten, die ihren Artgenossen zerfetzen
und dabei Falk mit toten Augen anstarren. Der abgetrennte Kopf lockert
seinen Biß nicht...
Schreiend erwacht der Hauptkommissar aus dem Alptraum, der
ihn seit Monaten in fast jeder Nacht heimsucht und der, je mehr er
ihn fürchtet, desto grausamer und unerträglicher wird. Jeden Abend
liest er, bis das Buch auf die Bettdecke fällt. Meist erwacht er nach
drei oder vier Stunden - brüllend, triefend vor Schweiß. Fünf Kilo
hat er bereits abgenommen. Jeder zweite Kollege empfiehlt ihm, eine
Kur zu beantragen oder sich wenigstens eine Woche krank zu melden.
Als wäre es nicht einzig die Arbeit, die ihn zumindest für Minuten
von seinen Gedanken ablenkt und bei Tageslicht vom Alp befreit. Natürlich
weiß er, daß die Arbeit schuld ist an seinen Zuständen. Der Tod eines
aufrechten Schwätzers...
Hauptkommissar Iwers schaltet die mit einer Klemme am Bettrahmen
befestigte Punktlampe ein. Aus der Erfahrung der vergangenen Nächte,
Dutzender Nächte, weiß er, daß er nicht mehr einschlafen wird. Es
hat keinen Sinn, dagegen aufzubegehren. Krisen müssen durchwacht,
nicht verschlafen werden. Nähme er Beruhigungstabletten, könnte er
am nächsten Tag nicht klar genug denken. Also starrt er an die Decke
und grübelt über den längst abgeschlossenen Fall Morawietz nach. Und
über seine eigene Rolle. War es die des Ritters ohne Furcht und Tadel
oder die des Ritters von der traurigen Gestalt? Er rekapituliert die
Fakten, die Vermutungen, die Spekulationen. Zum hundertsten Mal. Zum
tausendsten Mal, wenn es sein muß.
Begonnen
hatte es wie ein Flirt. Ein wunderschönes Mädchen setzte mitten in
Berlin auf offener Straße eine romantisch-rätselhafte Anwerbung in
Szene. Es endete mit einer Beförderung, deren er nicht froh wurde,
und mit Selbstzweifeln, Alpträumen, Schlaflosigkeit, Erschöpfung und
Ärger. Mit sehr viel Ärger.