1992 Tod in Grau

Verlag Das Neue Berlin, Berlin 1992

Klappentext: Der Wagen versuchte ihn zu rammen. Im letzten Augenblick beschleunigte Iwers. Sein Verfolger verfehlte ihn um Millimeter. Als der Oberkommissar bei Nacht über die Landstraßen gehetzt wird, weiß er nicht, ob ihm ein betrunkener Verkehrsrowdy oder ein Killer der allwissenden, einst allmächtigen Geheimpolizei folgt. Ist Iwers einer Verschwörung auf der Spur, oder steigert er sich in grundlose Panik hinein?

 

 

 

Auszug:

Schwarzgrau das Wasser. Träge strudeln Schmutzflocken vorbei. Weißer Schaum treibt über dem Kopf entlang wie Eisschollen bei Tauwetter. Langsam sinkt Falk in den schlammigen Grund ein, die Augen weit geöffnet, das Sonnenlicht nur eine Ahnung, kaum mehr als ein Schimmer. Mit aller Kraft preßt er die Lippen zusammen, um das giftige Wasser nicht zu schlucken. Er spürt, wie es durch die Nase eindringt und die Stirnhöhle verätzt. Ihn wundert, wie wenig ihn erstaunt, daß er nicht atmet. Ohne das Brennen in der Stirnhöhle könnte es angenehm sein, sich in weichen Schlamm zu betten, geborgen in der Apathie des Untergangs. Grellbunte Blitze vor seinen Augen. Längst hat Falk kapituliert, einsam stellt der Tod sich zum Duell, ohne einen Gegner, der gewillt wäre, sich zur Wehr zu setzen. Ein monströs geometrischer Schatten schwebt herab, landet mit unnachgiebiger Stahlkante auf Falks Füßen. Müßte er nicht die Lippen aufeinanderpressen, würde er laut lachen über die unnötige Mühe (wessen Mühe?), ausgerechnet ihn festzuklemmen, der sich gar nicht bewegen will. Der Schatten gehört einem rostfleckigen Container. Durch Korrosionslöcher sieht Falk, daß er mit Heftern und Papieren prall vollgestopft ist. Aus dem heruntergekurbelten Fenster einer Kabine im Vorderteil des Behältnisses grinst ihn ein Mann mit gebleckten Zähnen an; dem ist es gleich, ob er Wasser schluckt, sein Schädel blank genagt von Säuren; hier kann kein Lebewesen existieren. Oder es ist der Tod in Person, altmodischer Auftritt wie im Horrorkabinett, die letzten Sekunden sind bereits angebrochen, unnötig, sich länger zu verbergen. Falk würde gewiß nicht mehr dazu kommen, Verbotenes auszuplaudern. Tiefer sinkt er in den Schlamm, der ihm in die Ohrmuscheln sickert, die Mundwinkel erreicht; Sekunden noch, dann taucht er in der Schwärze unter, die sich zu den Augenwinkeln empor saugt, Ruhe, endlich Ruhe.

       Unter ihm zuckt es. Lebt der Schlamm der Abwässer? Dünn, schleimig, kalt windet es sich hervor. Glänzendschwarze Würmer, Schlangen, Aale wimmeln an seinen Augen vorbei, glitschen über sein Gesicht. Er will sich aufrichten, stemmt sich gegen den Sog des Sumpfes, Schlamm rinnt aus den Ohrmuscheln. Zischeln von Schlangen, gedämpft durch breiige Pfropfen. Er drückt die Ellenbogen in den Morast, schmatzend kommt der Oberkörper frei, klappt empor, das Gezücht schnellt auf ihn zu, lange Reihen kleiner spitzer Zähne in weit aufgerissenen Rachen, darüber grinsendes Gebein, Tod triumphiert: In letzter Sekunde stellt Falk sich zum aussichtslosen Zweikampf. Die Schienbeine abgeknickt, Ätzen unter der Stirn, um ihn Muränen, kranke Geschöpfe mit schlaff herunterhängenden mürben Hautfetzen, die Schleim über sein Gesicht verteilen und eine Stelle suchen, an der sie in seinen Körper eindringen können. Zu klein die Nasenlöcher, zu prall die hervorquellenden Augen, zu fest verschlossen der Mund. Sie warten. Er kommt nicht weg. Begreift, daß er erstickt. Schmieriges Papier im grindigen Behälter, beherrscht von einem fröhlichen Toten, klemmt ihn unter Wasser fest inmitten fleischfressenden Gewürms. Ihm fällt ein, was alles er noch dringend erledigen müßte und nicht mehr kann. Verzweifelt über die Ohnmacht, hilflos ohne jede Hoffnung, schreit er  und spürt, wie der größte der Fische in seinen Rachen einfährt, sich im Gaumen verbeißt. Falk läßt seine Zähne zusammenkrachen, schmeckt Blut, der zuckende Leib des Riesenwurms sinkt in seinen Schoß, verfolgt von schuppigen Gefährten, die ihren Artgenossen zerfetzen und dabei Falk mit toten Augen anstarren. Der abgetrennte Kopf lockert seinen Biß nicht...

 

       Schreiend erwacht der Hauptkommissar aus dem Alptraum, der ihn seit Monaten in fast jeder Nacht heimsucht und der, je mehr er ihn fürchtet, desto grausamer und unerträglicher wird. Jeden Abend liest er, bis das Buch auf die Bettdecke fällt. Meist erwacht er nach drei oder vier Stunden - brüllend, triefend vor Schweiß. Fünf Kilo hat er bereits abgenommen. Jeder zweite Kollege empfiehlt ihm, eine Kur zu beantragen oder sich wenigstens eine Woche krank zu melden. Als wäre es nicht einzig die Arbeit, die ihn zumindest für Minuten von seinen Gedanken ablenkt und bei Tageslicht vom Alp befreit. Natürlich weiß er, daß die Arbeit schuld ist an seinen Zuständen. Der Tod eines aufrechten Schwätzers...

       Hauptkommissar Iwers schaltet die mit einer Klemme am Bettrahmen befestigte Punktlampe ein. Aus der Erfahrung der vergangenen Nächte, Dutzender Nächte, weiß er, daß er nicht mehr einschlafen wird. Es hat keinen Sinn, dagegen aufzubegehren. Krisen müssen durchwacht, nicht verschlafen werden. Nähme er Beruhigungstabletten, könnte er am nächsten Tag nicht klar genug denken. Also starrt er an die Decke und grübelt über den längst abgeschlossenen Fall Morawietz nach. Und über seine eigene Rolle. War es die des Ritters ohne Furcht und Tadel oder die des Ritters von der traurigen Gestalt? Er rekapituliert die Fakten, die Vermutungen, die Spekulationen. Zum hundertsten Mal. Zum tausendsten Mal, wenn es sein muß.

            Begonnen hatte es wie ein Flirt. Ein wunderschönes Mädchen setzte mitten in Berlin auf offener Straße eine romantisch-rätselhafte Anwerbung in Szene. Es endete mit einer Beförderung, deren er nicht froh wurde, und mit Selbstzweifeln, Alpträumen, Schlaflosigkeit, Erschöpfung und Ärger. Mit sehr viel Ärger.

 

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