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Am Morgen war die Welt noch in Ordnung. Am Abend war einer von uns
tot. Nichts deutete darauf hin. Der Tag verlief wie jeder andere. Er
begann, wie so viele, mit einer Vorstandssitzung. Und die verlief wie
Dutzende anderer. Es gab Streit, doch der wurde nie unsachlich. Allen
ging es um ein gemeinsames Ziel, und das hieß Gateway. Der Name
hat einen guten Klang in Deutschland, in Fachkreisen auch darüber
hinaus. Gateway ist ein renommiertes Internet-Beratungshaus, wobei Beratung
ein sehr weit gefaßter Begriff ist und doch noch zu eng. Die Beratung
sieht sehr praktisch aus. Gateway entwirft für Großkunden
alles, was irgend mit Computern zu tun hat, von aufeinander abgestimmten
Netzwerken in Firmen über spielerische Produktpräsentationen
auf Messen bis hin zu Internet-Portalen, und dies sehr erfolgreich,
bei stets wachsendem Umsatz. Was auch immer von einer Krise des Neuen
Marktes geredet wird, bei Gateway spielte das bisher keine Rolle. Daß
die Firma so erfolgreich war, lag wesentlich an den fünf Leuten,
die sich am großen Sitzungstisch in den Lederarmstühlen verloren.
Eine Frau und vier Männer. Alle um die Dreißig. Wir sind
ein junges Team.
Das große Wort schwang unser Ökonom. Jens Riedel ist der
einzige von uns, der kein Web-Designer ist. Er hat Industriekaufmann
gelernt und sorgt dafür, daß wir schwarze Zahlen schreiben.
Das macht er gut, und so sehen wir gern darüber hinweg, daß
er von unserer Arbeit herzlich wenig versteht. Was er nicht glaubt:
Immer wieder maßt er sich Urteile an, zu denen ihm jegliche Voraussetzung
fehlt. Ich hatte gerade einen Praktikanten wegen eines dilettantischen
Entwurfs zur Schnecke gemacht, als Jens hinzukam und ihn für seine
überaus gelungene Arbeit über den grünen Klee lobte.
Es hilft nichts, ihn in seine Schranken zu verweisen. Beim nächsten
Mal urteilt er wieder ebenso lautstark und inkompetent. Als würden
wir uns in seinen Fachbereich einmischen!
An diesem Morgen allerdings taten wir es, denn was er vorschlug, war
ungeheuerlich. Wir sollten mit der Firma an die Börse gehen, und
dafür fand er zahlreiche warme Worte.
"Unfug!" plautzte unser Repräsentant heraus. Norbert
N. Nicolay ist nur einer von vier Geschäftsführern, doch gilt
er der Öffentlichkeit als Chef der Firma. Er sieht blendend aus
und kann gut reden. Anfangs delegierten wir ihn zu Interviews, inzwischen
rennt er von allein hin. Er kann Journalisten genauso beschwatzen wie
Kunden, und ich muß zugeben, daß wir ihn auch unter uns
als die Nummer Eins betrachten. Das lag weniger an seinen Leistungen
- Carsten und ich sind die besseren Designer - als an seinem Charisma.
N. N., wie ihn seine Freunde nennen, ist geradezu die Personifikation
von Gateway, vielleicht sogar die Personifikation der besten Seiten
aller Start-up-Firmen: jung, dynamisch, kompetent, durchsetzungsfähig,
überzeugend. Wer eine Idee hat, trägt sie ihm vor. Wenn N.
N. sie gutheißt, dann kann er sie nach außen hin vertreten
und ist sie bisher noch fast jedes Mal losgeworden. Und war er dagegen,
dann hatte sich die Idee erledigt. So sollte es eigentlich auch mit
dem Börsengang sein. Wenn N. N. ihn für Unfug hielt, dann
müßte die Sache sich erledigt haben.
Doch Jens hatte sich gründlich vorbereitet. "Ich habe euch
die Zahlen unseres Unternehmens vorgelegt", widersprach er. "Wir
sind eine grundsolide Firma, das habe ich, denke ich, zum wiederholten
Male eindeutig belegt. Bei uns sind die Einnahmen höher als die
Ausgaben. Wir beschränken uns auf Dinge, die wir können. Wir
sind in den letzten Jahren enorm gewachsen, aber wir haben uns nicht
auf sinnlose Erweiterungen eingelassen. Wir brauchen keine Filiale in
den USA, und wir konkurrieren nicht mit den Giganten unserer Branche.
Das Ergebnis ist: Wir schreiben schwarze Zahlen, wir stellen ein oder
können fast unbegrenzt outsourcen. Die anderen müssen entlassen,
Teilbereiche schließen. Wir sind ein wachsendes Unternehmen, die
meisten anderen schrumpfen ..."
"Was uns betrifft, magst du ja recht haben", unterbrach N.
N.
"Ich mag nicht nur recht haben, ich habe recht!" korrigierte
Jens.
"Aber", setzte N. N. unbeirrt fort, "was sich derzeit
auf dem Neuen Markt abspielt, ist gewiß auch deiner Aufmerksamkeit
nicht entgangen. Wenn du den Vorschlag im vergangenen Jahr gemacht hättest,
dann hätte ich vielleicht sogar mit mir reden lassen mangels besserer
Einsicht. Da boomte der Neue Markt, und in kürzester Zeit verzehnfachten
fast alle ihren Wert. Man hielt die Old Economy schon fast für
tot, so sehr ist unser Bereich davongeprescht. Aber jetzt ist es genau
umgekehrt. Alle Kurven zeigen nur in eine Richtung: in den Keller. Wenn
wir jetzt auf den Markt gehen, dann mobilisieren wir kein Kapital, sondern
werfen unser Geld weg."
"Du solltest über Dinge reden, von denen du etwas verstehst",
sagte Jens beleidigt. "Der Hype im vergangenen Jahr war krank.
Modische Spekulation, sonst nichts. Und etliche Firmen haben mit geschönten
Bilanzen den Markt gepuscht. Klar, daß es jetzt Katerstimmung
gibt bei vielen. Der Markt hat sich selbst reguliert. Ich glaube an
den Markt. Viele der Einbrüche waren berechtigt. Das Pendel schlägt
gerade nach der anderen Seite aus, das ist mir vielleicht klarer als
euch allen zusammengenommen. Aber daß die Zukunft dennoch uns
gehört, das sollte bis zu euch durchgedrungen sein. Oder arbeitet
ihr etwa, ohne an euch zu glauben? Weshalb machen wir denn Gewinn? Weil
wir solide sind. Und übrigens: Nicht nur wir sind solide. Etliche
Firmen werden derzeit unterbewertet, weil der Sog sie mit in den Keller
gerissen hat. Meint ihr, das bleibt so? Der Alte Markt kriselt doch
auch. Aber Kapital ist vorhanden. Die Anleger mögen sich im Augenblick
zurückhalten, aber sie warten doch nur auf seriöse Unternehmen,
in die sie ihr Geld stecken können. Wenn ich sage, daß wir
an die Börse gehen sollen, dann meine ich doch nicht heute oder
morgen. So ein Schritt bedarf gründlicher Vorbereitung. Ich denke,
wenn ich grünes Licht von euch bekomme, dann dauert es immer noch
mindestens ein halbes Jahr, bis wir so weit sind. Und in einem halben
Jahr hat sich die Spreu vom Weizen getrennt, und der Markt hat sich
stabilisiert. Man muß kein Prophet sein, um das vorherzusagen."
"Ebensogut können wir auf eine Weltwirtschaftskrise zutreiben",
widersprach N. N. "Man muß kein Prophet sein, um das in seine
Überlegungen einzubeziehen. Warten wir doch ein halbes Jahr ab,
um dann noch einmal darüber zu reden. Mir scheint, es besteht absolut
keine Notwendigkeit, derzeit an die Börse zu gehen. Wir machen
Gewinn, weil wir unabhängig vom Markt sind. Und das soll auch so
bleiben. Wenn wir Aktien verkaufen, dann kommt zwar, wenn wir Glück
haben, Kapital herein, aber irgendwann werden wir vielleicht geschluckt
von einer größeren Firma, und wir hängen von den Launen
der Spekulanten ab."
"Geschluckt!" sagte Jens ironisch. "Ich habe euch doch
gesagt, daß wir einen großen Teil der Aktien unter uns ausgeben,
zu einem Drittel des Emissionspreises. Wenn ihr alle mitmacht, dann
halten wir ein Drittel unserer eigenen Aktien. Der Rest streut sich,
da kommen Mehrheiten nicht so schnell zustande. Wer soll uns denn kaufen?
Bertelsmann hat Pixelpark geschluckt, unsere einzige wirklich ernsthafte
Konkurrenz - und schlecht ist es beiden bekommen. Meint ihr, die leisten
sich auch noch uns? In eurem Fachbereich hört ihr auf die Zeichen
der Zeit. Ihr jagt jeder neuen Entwicklung hinterher, und vor allem
stoßt ihr neue Entwicklungen an. Warum seid ihr meinem Fachbereich
gegenüber so blind?"
"Sind wir ja gar nicht", ließ sich Carsten Meitner hören,
"jedenfalls nicht alle. Mich überzeugt, was du hier vorträgst."
Ich muß zugeben, das überraschte mich. Irgendwie hielt ich
Carsten noch immer für den Anarchisten, als der er einst angetreten
war, obwohl er sich natürlich geändert hatte. Vor zehn Jahren
war er zwar auch schon riesengroß, aber noch relativ dünn
gewesen - und ein begnadeter Hacker. Unter dem selbst beigelegten Namen
Caesar war er in etliche Rechner eingedrungen, in die von Betrieben
und spaßeshalber auch in die der NASA. Schaden hatte er dabei
kaum angerichtet, Viren stand er ablehnend gegenüber, und Industriespionage
ist ja eher ein Kavaliersdelikt, nicht nur in Hackerkreisen. Die Staatsanwaltschaft
sah es nicht so, und trotz seiner großen Begabung wurde er eines
Tages erwischt und zu zwei Jahren Gefängnis verknackt, von denen
er mehr als eines absitzen mußte. Das Gefängnis verließ
er belehrt. Bei seinen Talenten mußte es möglich sein, auch
auf legalem Wege Millionär zu werden. Damals lernte Caesar, so
ließ er sich immer noch gern nennen, erst N. N. und dann auch
noch Jens und mich kennen und war begeistert von unserer geplanten Firmengründung.
Und wir hatten jemanden wie ihn gesucht, der etwas von der technischen
Seite verstand. Caesar war ein Freßsack und Genießer. Er
wog weit über zwei Zentner, und das sah man ihm trotz seiner auf
den Leib geschneiderten Designerklamotten an. Bei Diskussionen um die
Zukunft der Firma hielt er sich üblicherweise zurück - das
war seine Sache nicht. Eher schon konnte man auf seine kreativen Einfälle
bauen, und was die technische Realisierbarkeit unserer Einfälle
anging, war er schlicht unschlagbar.
"Na also, geht doch!" sagte Jens zufrieden. "Nun fehlt
uns nur noch eine Stimme."
Er meinte mich, doch ehe ich etwas sagen konnte, äußerte
sich Claudia Kirchner, die einzige Frau in unserer kleinen Runde. "Ich
zähle mal wieder nicht", sagte C. K. Sie sah zwar aus wie
ein Filmstar, hatte aber keine Ähnlichkeit mit Claudia Cardinale,
mit der sie den Vornamen teilte. Eher war sie ein Typ wie Sharon Stone.
Ihr Aussehen weckte romantische Gefühle, nicht nur in mir, und
das wußte sie auch und setzte es gezielt ein. Ihr Lächeln
war wie ein Keulenschlag, und wenn sie ernst blickte wie jetzt, dann
wurde einem unbehaglich. Sie hatte mal als Model gearbeitet, war aber
durchaus eine begabte Designerin. Trotzdem saß sie nur im Führungskreis,
weil sie die Freundin von N. N. war. Sie leitete unsere Beratungsabteilung,
gehörte aber nicht zur Geschäftsführung. Ich konnte nie
voraussehen, wofür sie sich entscheiden würde, war aber gespannt
darauf. Ihre Stimme hatte Gewicht, auch wenn sie nicht zählte -
das hatte sie durchaus zutreffend festgestellt.
Jens witterte Morgenluft - häufig war sie seiner Meinung. So sehr
sie auch die Romantik in mir ansprach: Sie war eine Pragmatikerin und
schaffte es gelegentlich, in punkto Nüchternheit unseren Ökonomen
zu schlagen. Doch der hatte sich diesmal in sein abstruses Vorhaben
verrannt. Durchaus möglich, daß sie dagegen war wie N. N.
"Im Gegenteil", schmeichelte Jens. "Deine Meinung ist
uns sehr wichtig, auch wenn Du nachher nicht mit uns abstimmen wirst.
Du sitzt ja nicht hier, weil du so schön, sondern weil du so klug
bist!"
"Danke", sagte C. K. "Ein Tag, der mit einem Kompliment
beginnt, kann nicht völlig verloren sein."
"Und was meinst du nun?"
"Ich meine, daß ihr mich in die Geschäftsführung
aufnehmen solltet. Dann wäre ich nicht nur schön und klug,
sondern sogar noch mächtig. Falls das, was ihr habt, Macht ist."
"Das steht nun wirklich nicht zur Debatte", sagte N. N. unwirsch.
"Du bekommst fast soviel Geld wie wir, du bist bei den entscheidenden
Sitzungen dabei, du wirst wohlwollend angehört. Leute mit Titeln
haben wir in ausreichender Menge. Wir sollten den Vorstand eher ausdünnen,
weil er oft genug entscheidungsunfähig ist. Du erhältst den
Posten, wenn einer von uns stirbt."
"Also in vierzig bis fünfzig Jahren. Du verstehst es, ein
Mädchen zu motivieren."
"Hast du auch was Produktives beizutragen?" fragte N. N.
"Wenn produktiv sein heißt, dir zum Munde zu reden, dann
muß ich passen. Ich denke, wer nichts riskiert, kann auch nichts
gewinnen. Aber laßt euch durch meine Meinung auf keinen Fall beeinflussen.
Fragt John, dann wird euch klar werden, daß man zum Abstimmen
eine ungerade Zahl braucht. Du bist doch dagegen, oder?"
"Allerdings", sagte ich. "Es läuft gut bei uns.
Never change a working system! Wir werden nicht reich, aber wir kommen
aus. Sehr gut sogar. An der Börse könnten wir, wenn alles
gut läuft, vielleicht etwas mehr bekommen, aber daß es ungewiß
ist, wird selbst Jens zugeben. Wir könnten auch alles verlieren.
Sogar unsere Arbeit. Und das werde ich auf keinen Fall riskieren. Wir
haben diese Firma nicht aus dem Boden gestampft, um sie zu verspekulieren.
Ich bin entschieden dagegen, und ich bin froh, daß ich, so wie
es aussieht, nach Lage der Dinge nicht überstimmt werden kann."
Es stand zwei zu zwei, da Claudias Stimme nicht zählte. Ein deutliches
Patt. Jens mochte das nicht auf sich beruhen lassen. Einer von uns mußte
seine Meinung ändern, fand er, und öffnete die Schleusen seiner
Beredsamkeit. Bereits jetzt, da seines Erachtens die Talsohle noch nicht
mal erreicht war, gebe es Anzeichen für eine Beruhigung des Neuen
Marktes, denn die New Yorker Nasdaq habe ihren Sturz bereits eingestellt
und sich um die Null herum stabilisiert. Da es sich um keine nationale,
sondern um eine internationale Krise handle, sei dies das erste deutliche
Anzeichen für die überfällige Trendwende, die im nächsten
halben Jahr auch den Nemax erreichen werde.
An mich waren seine Worte vergeudet. Nach etlichen Sätzen schweiften
meine Gedanken ab. Ich fand die gesamte Diskussion sinnlos. Mich konnte
er sowieso nicht überzeugen, und N. N. erst recht nicht. Da sollte
er die Größe besitzen, zum nächsten Tagesordnungspunkt
überzuleiten, wir hatten weiß Gott genug zu tun. Er raubte
uns die Zeit.
Auch Claudia lehnte sich gelangweilt zurück. Ihr Vorstoß
an die Spitze war wieder einmal im Keim erstickt worden. Das geschah
jedes Mal, und fast immer war es N. N., der sie stoppte. Ich dachte
über das merkwürdige Verhältnis nach, das die beiden
miteinander verband. Ich weiß bis heute nicht, wie sie sich kennenlernten.
Auf jeden Fall war es vor vier Jahren gewesen, wir hatten die Firma
gerade erst gegründet und waren in dem einen Jahr immerhin schon
beachtlich gewachsen. Begonnen hatten wir zu viert in einer Garage.
Das war keine echte Garage, sondern das Achtel einer Etage in einer
ehemaligen Fabrik, kaum mehr als ein sehr großes Zimmer, doch
nannten wir es unter uns Garage, weil wir das sein wollten, was sich
mit diesem Begriff verband: Helden der Garage. Begabte Computerfreaks,
die mit nichts anfangen und binnen kürzester Zeit Millionäre
werden, mindestens aber weltberühmt. Und bereits nach einem Jahr
waren wir auf bestem Wege dazu. Wir hatten das Glück, gleich im
ersten Jahr einen Großkunden an Land zu ziehen, eine Kaufhauskette,
die sich elektronische Wegweiser durch ihr Warenlabyrinth wünschten.
Wir studierten den Betrieb, dann machten wir uns an die Arbeit. Zu viert,
genau betrachtet sogar nur zu dritt, denn Jens beschränkte sich
auf seine Zahlen, war das nicht zu schaffen. Wir stellten Leute ein,
wir mieteten den zweiten, dann den dritten Raum der Fabriketage, und
dann mußten wir umziehen, schon im ersten Jahr unseres Bestehens
mußten wir einen anderen Raum mieten, weil wir zu groß geworden
waren. Jens versetze uns einen Dämpfer, weil er errechnete, daß
es die Kaufhauskette viel billiger kommen würde, wenn auf jeder
Etage ein Mensch sitzen würde, der Auskunft geben konnte, was sich
wo befand. Damals war ich der einzige, der dafür stimmte, das dem
Konzern mitzuteilen und nur die Unkosten für unsere Studie in Rechnung
zu stellen. Die anderen drei waren gegen mich, auch Jens. Wir entwarfen
das System und steckten zweieinhalb Millionen ein. Der nächste
Auftrag war noch größer. Wir mußten erneut Leute einstellen,
und da brachte N. N. die schöne Claudia mit. Eine sehr begabte
Designerin, sagte er, und es war zu merken, daß die beiden ein
Paar waren. Man sah es ihnen an, daß sie frisch verliebt waren.
Und äußerlich paßten sie ja auch sehr gut zusammen.
Uns wunderte nicht, daß Claudia als Model gearbeitet hatte, sondern
eher, daß Norbert noch nie gemodelt hatte. Charakterlich allerdings
paßten sie weniger zusammen, auch das merkten wir schon in einem
sehr frühen Stadium dieser Beziehung. Norbert war ein charismatischer
Redner, stets zu verbalen Höhenflügen bereit. Die einzige,
die er so gut wie nie mitreißen konnte, war die nüchterne
Claudia. Im Betrieb sprachen sie über die Arbeit. Worüber
sie miteinander sprachen, wenn sie unter sich waren, ahne ich nicht.
Ich kann es mir auch nicht vorstellen. Versacken sie abends vor dem
Fernseher und ergötzen sich an Comedys, oder fallen sie wortlos
übereinander her? Entwickelt N. N. seine Visionen von einer miteinander
vernetzten Welt, und bringt ihn C. K. sanft, aber nachdrücklich
auf den Boden der Realität zurück? Sitzen sie in ihren Sesseln
und lesen angesagte Bücher? Ziehen sie nachts durch die Szenekneipen?
Ich weiß es nicht, und sie erzählen es auch nicht. Von jedem
anderen weiß ich mehr.
Carsten alias Caesar ist unser Partylöwe. Er ist zu fett, um gut
auszusehen, aber er ist jung, dynamisch und hat auf seine Art auch Charisma.
Mindestens jeden zweiten Tag zieht er durch Szenekneipen oder geht zu
Partys, die seine zahlreichen Freunde organisieren. Sein Ziel ist es,
Mädchen abzuschleppen, und seltsamerweise gelingt ihm das sehr
häufig. Er ist ein charmanter Plauderer und gibt sich gern großzügig.
Sparen ist ein Fremdwort für ihn. Was er bei uns verdient, bringt
er mit hübschen Mädchen durch. Und da er immer von hübschen
Mädchen umgeben ist, kommt der Nachschub auch nie ins Stocken.
Denn die Mädchen sehen ja, wie begehrt er ist, also begehren auch
sie ihn.
Jens hingegen erfüllt alle Klischees, die bei einem trockenen Ökonomen
zu erwarten sind. Er sieht durchschnittlich aus, und sonderlich charmant
ist er auch nicht. Mag sein, daß er unglücklich damit ist,
so überhaupt kein Privatleben zu haben, denn er hat Carsten einige
Male begleitet auf dessen Fischzügen. Doch mangels Erfolg hat er
das schnell wieder eingestellt. Ich nehme an, er sitzt wirklich zu Hause
vor dem Fernseher, oder er studiert Gesetzestexte und Vorschriften.
Soll er, wenn ihn das befriedigt.
Aber was, zum Teufel, stellen C. K. und N. N. außerhalb des Betts
miteinander an? Allzuviel dürfte es nicht sein, sie passen nicht
zusammen. Vom Charakter her würde Claudia viel besser zu Jens passen,
doch der gefällt ihr äußerlich nicht. Ihre Ansprüche
sind höher. Nicht die an den Charakter, sondern die an das Aussehen.
Selbst Carsten, der Frauenheld, hätte bei ihr keine Chance. Sie
steht nicht auf Charme, sondern auf einen durchtrainierten Körper
und eine gerade gewachsene Nase. Was natürlich bedeutet, daß
auch ich keine Chance bei ihr habe. Ich bin zu dünn, und einen
Schönheitswettbewerb würde ich wohl auch nicht gewinnen.
Ach, ich mochte nicht darüber nachdenken. Die Beziehung hielt jetzt
schon vier Jahre, fast so lange wie meine eigene, daran war ohnehin
nicht zu rütteln. Es war so ungerecht, daß ein so schönes
Mädchen wie Claudia ausgerechnet auf schöne Männer stand.
Sie hätte jeden haben können, doch begnügte sie sich
mit dem ansehnlichsten.
Wenn ich etwas zu lesen dabeigehabt hätte, ich glaube, ich hätte
es vorgeholt. Jens schwadronierte noch immer über den Börsengang.
In seinen Worten klang das wie eine einfache Rechenaufgabe, und N. N.
und ich waren bloß zu doof, den Formeln zu folgen. Da ich kein
Buch bei mir hatte - und ich hätte es mir wohl auch nicht getraut,
in der Vorstandssitzung zu lesen -, mischte ich mich wieder in das Geschehen
und machte einen Vorschlag zur Güte.
"Ich schlage vor, das Thema Börsengang zu vertagen. Heute
kommen wir ohnehin nicht zu einer Entscheidung. Wenn ich Jens richtig
verstanden habe, wird sich seiner Auffassung nach der NEMAX wieder beruhigt
haben in einem halben Jahr. Da keine unmittelbare Notwendigkeit besteht,
an die Börse zu gehen, können wir dieses halbe Jahr abwarten
und dabei die Kurse beobachten. Sollte die optimistische Schätzung
von Jens zutreffen, dann können wir das Thema erneut auf die Tagesordnung
setzen. Ich will damit nicht sagen, daß ich dann automatisch dafür
votieren werde. Ich will nur zusichern, daß ich es in einer Zeit
ernsthaft zu prüfen bereit bin, in der das Wort Börse nicht
so klingt wie russisches Roulett."
"Einverstanden", sagte N. N. sofort.
"Ich nicht", sagte Jens verkniffen. "Jetzt ist der geeignete
Zeitpunkt, gerade weil die Kurse im Keller sind. Sie können nur
noch steigen, das sagt mir mein ökonomischer Fachverstand. Ich
bin dafür, das Thema so schnell wie möglich wieder auf die
Tagesordnung zu setzen."
Caesar nickte; es stand schon wieder pari.
"Dann entscheiden wir gar nichts", entschied N. N. "Niemand
von uns wird dich hindern, das Thema vorzubringen, wann immer du willst.
Aber für heute ist es ausdiskutiert!"
"Kommen wir zum nächsten Punkt", sagte Jens. "Der
Auftrag von Siering nimmt langsam Gestalt an. Das Volumen beträgt
drei Millionen vor Steuer. Dafür ist allerdings auch einiges zu
tun. Sie stellen sich für ihr Internet-Portal und die darauf abgestimmte
Messe-Präsentation vor allem 3-D-Animationen vor, was nicht gerade
unsere Stärke ist. Ich denke aber, bei dem Budget bekommen wir
das spielend hin, und es bleibt einiges für uns übrig."
"Wir sollten das tun, was wir können", sprach ich dagegen.
"Unsere Spezialität ist die Interaktivität. Da schlagen
wir alle um Längen. 3 D können andere besser."
"Dann müssen wir die anderen eben reinholen", widersprach
mir N. N. "Wäre nicht der erste Auftrag, den wir outsourcen.
Da draußen wimmelt's doch von beschäftigungslosen Spezialisten,
die nur darauf warten, für uns arbeiten zu dürfen. Und eine
Ziffer hat mich absolut überzeugt. Die Drei. Nicht die vor dem
D, sondern die vor den sechs Nullen."
"Geld allein macht nicht glücklich", wandte ich ein.
"Allein nicht", N. N. grinste, "aber wenn man es zu zweit
ausgibt ..." Und er klopfte C. K. auf die Schulter. Sie lächelte
verlegen. Norbert dröhnte in den Raum: "Wer will drei Millionen
verdienen?"
Drei Hände erhoben sich.
"Und wer will arm, aber ehrlich bleiben?"
Ich verzichtete darauf, meine Hand zu heben.
"Einstimmig angenommen, bei einer Enthaltung", sagte Jens.
"Ein paar Reste von Einsicht scheint es bei euch doch noch zu geben.
Der nächste Punkt ..."