Keuchend rannte das Kind, so schnell es konnte, doch es kam nicht vom
Fleck, als wären die Schuhsohlen aus Eisen. Die riesenhaften Füße
des gesichtslosen Verfolgers kamen näher und näher, und das
Kind erwachte. Zitternd lag es in seinem Bett. Die Blätter der
Linde vor dem Fenster bewegten sich im Nachtwind, ließen Laternenlichtpunkte
über den Vorhang huschen. Das Kind hatte das schon oft gesehen,
doch jetzt erschien es ihm unheimlich. Standen da Riesen vor dem Fenster
und versuchten, mit Taschenlampen hineinzuleuchten? Das Kind zog die
Bettdecke über den Kopf. Als es wieder vorkam, funzelten die Riesen
noch immer. Jemand sprach, aber das erschreckte das Kind nicht: Es waren
die Stimmen der Eltern. Die waren also noch wach. Das Kind, nach einem
mißtrauischen Blick zum Fenster, schlüpfte aus dem Bett,
schlich zur Tür. Licht mochte es nicht machen, dann würden
die Riesen es vielleicht sehen.
Erst als es auf dem Flur stand und die Tür seiner Schlafkammer
zugeklinkt hatte, schaltete es das Flurlicht ein, schloß für
einen Moment geblendet die Augen, und als es sie wieder öffnete,
war es schon etwas beruhigter. Es war daheim, in der vertrauten Umgebung,
und hinter der Wohnzimmertür waren die Eltern. Sie sprachen sehr
laut miteinander. Wahrscheinlich stritten sie sich wieder. Trotzdem
wollte das Kind sie gerne sehen, das erschien ihm einfach sicherer.
Aber die Eltern schrieen sich so laut an, daß das Kind vor der
Wohnzimmertür stehenblieb. Es traute sich nicht hinein. Was die
Eltern brüllten, verstand das Kind nicht recht, obwohl es jedes
Wort deutlich hören konnte.
Die Mutter warf dem Vater seine Liebschaften vor. Das schien etwas Lustiges
zu sein, denn der Vater lachte. Dann bat er die Mama, daß sie
in den Spiegel gucken solle, wie sie aussieht. Mama kreischte, daß
Papa glaubt, er wäre ein Huhn oder Hahn, und dabei wäre er
nur ein V. Nun war Papa wieder dran. Er redete ziemlich lange, und seine
Stimme klang zugleich lustig und böse. Die Mama ist eine billige
Schmierenkomödiantin und soll sich nicht einbilden, einen wie den
Papa halten zu können. Sie mit ihrem Drang zum Höheren hat
es zu nichts gebracht, und Papa hat nicht die Absicht, neben ihr zu
versauern. Er jedenfalls hat sein Leben noch vor sich. Bei ihr kommt
nichts mehr. Sie wird nie viel Geld verdienen, und nie wird sie etwas
leisten. Und nehmen wird sie auch keiner mehr, weil sie langweilig ist
und hausbacken.
Die schrille Antwort der Mutter hörte das Kind nicht, weil es über
die verwirrende Rede nachdachte. Hatte sich die Mutter beschmiert? Weshalb
wollte sie den Vater halten? Konnte er nicht allein stehen? Wo wollte
die Mama hochklettern? Was hatte sie im Haus gebacken?
Vater sagte, wenn die Mutter im Bett soviel Temrament (oder so ähnlich)
hätte wie jetzt, dann könnte es sogar Spaß machen. Das
war vollkommen unklar, und so schien es auch der Mutter zu gehen, denn
sie schwieg lange, und als sie weitersprach, klang ihre Stimme gar nicht
mehr aufgeregt und schrill, sondern ganz ruhig. Das Kind wußte,
das hatte nichts Gutes zu bedeuten. So klang Mama, wenn sie das Kind
beim Einpullern erwischte.
Die Mama sagte: ,,Jetzt kommst du dir stark vor, aber warte nur. Ich
werde dich kleinkriegen."
,,Willst du mich verprügeln?" Papa lachte.
,,Ich werde dich umbringen!"
Papa lachte ganz lustig, aber das Kind erschrak furchtbar. Vom Umbringen
hatte es nur unklare Vorstellungen, aber es war jedenfalls etwas Furchtbares.
Das Kind öffnete die Tür und ging ins Wohnzimmer. In der geöffneten
Tür blieb es erstaunt stehen. Die Eltern saßen ganz ruhig
am Tisch und sahen sich in die Augen. Was auch immer das Umbringen sein
mochte, so jedenfalls funktionierte es nicht. Am erstaunlichsten war:
Die Eltern beachteten den mitternächtlichen Eintritt des Kindes
in ihr Zimmer gar nicht. Beide guckten zwar kurz zur Tür, aber
das Kind hatte den Eindruck, die Eltern würden es nicht sehen.
Vielleicht träumte es das alles bloß? Vielleicht lag es in
seinem Bett und schlief? Dann konnten die Eltern es natürlich nicht
sehen, weil es ja gar nicht da war. Das unsichtbare Kind blieb an der
Tür stehen und sah und hörte seinen Eltern zu. Der Papa hatte
gefragt, wie er umgebracht werden solle, mit einem Küchenmesser
oder mit Rattengift im Tee.
,,Ich werde dich erschießen", kündigte die Mutter an.
,,Mit einem Katapult?"
Machten die Eltern nun Ernst, oder scherzten sie? Vielleicht spielten
sie auch ein Theaterstück? Aber die Mutter sprach ganz natürlich
- nein, Theater jedenfalls war das nicht.
,,Mit einer Pistole", sagte Mama.
Papa lachte. Es klang ein bißchen übertrieben. Doch Theater?
,,Dann kauf dir man eine."
,,Habe ich schon."
,,Quatsch."
,,Doch. Von meinem Bruder."
,,Du hast ja gar keinen!"
Diesmal klang Papas Lachen echt. Aber etwas stimmte nicht mit den Eltern.
Sie saßen so starr da. Die Gesichter rot wie nach einer Anstrengung,
obwohl sie sich gar nicht bewegten. Steif, das war wohl das richtige
Wort, steif saßen sie sich gegenüber, wie verkrampft. Und
dem Kind dämmerte die Ahnung, daß dies eine besondere Art
von Kampf sein mußte. Ihm wurde kalt.
,,Das stimmt, er ist tot. Die Kettenhunde haben ihn erwischt, im letzten
Moment. Aber vorher hat er seine Pistole hier versteckt."
,,Darf ich sie für dich entrosten?"
,,Er hat sie mit Fett konserviert."
,,Und du hast sie die ganze Zeit bei dir gehabt?"
,,Sie ist auf dem Boden versteckt, unter einem Dachbalken."
,,Hättest du das eher gesagt . . . Wir hätten eine Bank überfallen.
können und wären jetzt Millionäre!"
Bei Erwachsenen weiß man nie, wann sie Spaß machen. Mama
jedenfalls nahm es ernst und sagte: ,,Wir machen gar nichts mehr zusammen.
Ich gehe jetzt auf den Boden und hole die Pistole und erschieße
dich!"
Obwohl die Mutter keinerlei Anstalten zum Aufstehen machte, sondern
sich nach vorn sinken ließ, den Kopf in die Hände stützte
und zu weinen begann, wußte das Kind, daß es jetzt handeln
mußte, Traum hin, Traum her. Es guckte noch einmal zum Vater,
der grinste und bequem im Stuhl lehnte, und rannte dann zur Mutter,
umarmte sie und rief: ,,Nicht auf den Papa schießen, nein? Nicht
auf den Papa schießen!"