Der Hund schnüffelte am Sockel des Leuchtenmastes,
hob ein Bein und markierte seine Anwesenheit. Dann scharrte er dreimal
auf dem Asphalt.
Er war ein Deutscher Schäferhund namens Immo von Hainspitz, aber
das wußte er nicht. Wenn er überhaupt etwas wußte,
dann war es, daß er Hunger hatte. Niemand gab ihm etwas. Abfälle
verschwanden in Behältern. Für einen Hund war es nicht leicht,
in Entsorgungsräume zu gelangen. Seit Tagen schon war es ihm
nicht mehr geglückt. Wenigstens hatte er eine Stelle gefunden,
an der Regen durch die Kuppel tropfte. Das Wasser war gelb und roch
beißend, aber es löschte den Durst. Daß ihm die Haare
ausfielen und daß die Haut juckte, brachte er damit nicht in
Verbindung.
Wo war die Frau? Die Anlage der Stadt machte es ihm unmöglich,
die heimische Umgebung wiederzufinden. Asphalt auf Straßen und
Gehsteigen, weißblaue Häuserfronten mit mattschwarzen Schleusen
für die Elektromobile und mit schwarzglänzenden Fenstern,
die wegen der Wirksamkeit der Belüftungsanlagen geschlossen gehalten
wurden. Kein Sand, keine Pflanze, nichts, an dem sich ein Hund den
einzuschlagenden Weg hätte einprägen können. Immo wußte
nicht einmal, ob er immer wieder dieselben Straßen absuchte.
Nachts fuhren die Sprengwagen, und am Morgen waren die Duftmarkierungen
verschwunden. Außer an dem Leuchtenmast, der einst ihm gehört
hatte. Den hatte er so intensiv markiert, daß keinerlei Desinfektion
etwas dagegen ausrichten konnte. Aber der Mast war verschwunden wie
Immos früheres Leben.
Schnell lief Immo durch die Straßen, spähte nach unverschlossenen
Entsorgungsraumklappen, suchte Vertrautes, beschnüffelte Leuchtenmasten
und die Pfeiler kreuzender Hochstraßen. Das gelb durch die Kuppel
fallende Licht wurde grau. Das bedeutete, er würde wieder trinken
können. Die Aussicht darauf brachte ihn dazu, seine Suche vorfristig
abzubrechen. Üblicherweise kehrte er erst nachmittags um. Die
Nacht mußte er in der Nähe der Tränke verbringen,
weil er sie am Morgen nicht mehr wiederfinden würde.
Als Immo sich zum Gehen wandte, sah er ein Elektroauto. Es bremste
neben ihm. Immo wollte beiseite treten, merkte aber, daß keine
Schleuse in der Nähe war, die das Mobil hätte aufnehmen
können. Das irritierte ihn, und er blieb stehen. Das durchsichtige
Verdeck des Etos schnappte auf. Ein dicker Mann schwang sich behend
auf die Straße. Immo nahm seinen Geruch auf: fremd. Er wußte,
wie es weitergehen würde. Der Mann würde das räudige
Fell sehen, sich angeekelt abwenden und auf Nimmerwiedersehen im Eto
verschwinden. Das brauchte er nicht abzuwarten. Er rannte los.
"Immo!" rief ihm der Dicke hinterher.
Der Hund verharrte, wandte sich um.
"Diesmal ist er es wirklich!" sagte der Dicke.
"Das haarlose Vieh!" erwiderte der Kraftfahrer, der im Eto
sitzen geblieben war.
"Er ist über vierzehn Tage draußen", erklärte
der Dicke und holte einen glänzenden Gegenstand aus der Tasche.
Vorsichtig trat Immo etwas näher und schnupperte, ob ihm etwas
Eßbares angeboten werden sollte. Geruchlos. Der Mann richtete
der Gegenstand auf ihn. Ehe Immo reagieren konnte, lösten sich
alle Wahrnehmungen auf, und er brach zusammen. Der Dicke und sein
Kraftfahrer schützten ihre Hände mit Gummihandschuhen und
hoben den schlaffen Hundekörper in ihr Eto.
Immo von Hainspitz erwachte in einem kleinen, fensterlosen Raum, der
mit unvertrauten technischen Ausrüstungen bestückt war.
Der Hund lag auf einer Matte. Sie war behaglich weich, aber da ihm
der Raum fremd war, wollte sich Immo trotzdem erheben. Die Füße
trugen ihn noch nicht. Trotz seiner Benommenheit bemerkte er, daß
sich etwas auf seinem Kopf befand, leicht zwar, aber lästig.
Schütteln nutzte nichts.
Etwas Wichtigeres lenkte ihn ab, ein Duft, fast schon vergessen. Vor
ihm stand ein Teller mit blutiger Rindslunge, daneben eine Schüssel
mit Milch. Mißtrauisch blickte sich Immo um. Auf einem Stuhl
saß der Dicke und nickte ihm gutmütig zu. Neben ihm stand
ein drahtig wirkender, kahlköpfiger Mann im weißen Kittel.
Er guckte mürrisch, machte aber keine Anstalten, ihm die Lunge
zu verweigern. Auf einem Drehstuhl vor einem Schaltpult saß
eine dralle junge Frau. Obwohl sie sich nicht bewegte und obwohl es
im Raum nicht sonderlich warm war, schwitzte sie, wie Immo roch. Sie
beachtete ihn gar nicht, war bemüht, ihn zu übersehen. Vielleicht
schwitzte sie vor Ekel. Immo war es egal, er wandte sich dem Futter
zu.
"Der scheint ewig nichts gefressen zu haben", sagte der
Dicke.
"Holen Sie ihm noch was, Fräulein Siebzehn", wies der
Kahle mürrisch an, sagte dann zum Dicken: ..Voraussetzung für
gute Bilder ist absolutes Wohlbehagen."
"Ich weiß, Doc. Und die Räude?"
"Das ist ein Pilz", korrigierte Doc.
"Und?"
"Zaubern kann ich nicht."
Das schwitzende Fräulein brachte, das Gesicht beiseite gewandt,
einen Teller mit Lunge. So gierig, als hätte er noch nichts bekommen,
machte sich Immo auch über den Teller her. Die Dralle setzte
sich wieder an ihr Schaltpult und vertiefte sich in die Anzeigen.
"Noch fünf Minuten", verkündete sie.
"Er hat noch nicht alles getrunken", sagte der Dicke.
"Die Menge reicht allemal", folgerte das Fräulein aus
den Anzeigen.
Immo machte eine Diskussion überflüssig. Ohne Arg trank
er die Milch und leckte die Schüssel gründlich aus.
"Es geht los!" Das Fräulein drückte auf einen
Knopf.
Langsam erlosch das Licht. Die Männer hatten Zeit, ihre Plätze
einzunehmen. Sie starrten auf die Bildwand hinter dem Hund, auf der
sich ein Chaos ineinanderfließender Farben abzeichnete. Das
Fräulein genoß die Farborgie auf dem Kontrollmonitor.
Immo verspürte in sich eine Kraft, die er schon lange verloren
geglaubt hatte. Er rannte eine Straße entlang, schnell, mit
gewaltigen Sätzen. Ihm gehörte die Welt.
"Wenn der noch lange rennt, wird mir schlecht", maulte die
Dralle.
"Ruhe!" fuhr Doc sie an.
Auf der Bildwand ein Leuchtenmast. Er wird umkreist, sein Sockel rückt
heran, wischt zur Seite. Eine hellbraune Bulldogge nähert sich
dem Mast, fletscht die Zähne, weicht zurück, ergreift die
Flucht.
"Daß Hunde sich so wichtig nehmen!" sagte der Dicke.
Er hatte zu früh geklagt. Im nächsten Moment sah er sich,
wie er aus dem Eto sprang und nach unten blickte. Sein Kopf war kleiner
als in der Realität, dafür waren die Beine wesentlich dicker.
"Wenn der sich an alles so gut erinnert, kriegen wir ihn."
Der Dicke war mit der Genauigkeit der Abbildung zufrieden.
"Er wird, Inspektor", sagte Doc. "Er hat die dreifache
Dosis drin."
"Warum?"
"Alle anderen haben nicht ausgetrunken."
"Wird ihm das nicht schaden?"
"Nicht sofort."
Eine Hand, die einen Teller mit Lunge abstellt. Die Hand des Fräuleins.
Sie wird runzlig. Der Teller wächst zum Futternapf. Auf einem
mit Plüsch bespannten, schäbigen Sofa sitzt eine alte Frau.
Sie lächelt. Ihre Gestalt ist unverzerrt, obwohl auch sie von
unten betrachtet wird. Die Frau stellt den Freßnapf hin. Sie
liegt an der Erde. Sie lächelt. Die Augen sind geschlossen. Aus
den weißen Haaren sickert Blut. Die Hand mit dem Napf.
"Er muß ihn gesehen haben, sonst wäre er nicht weg
gewesen!" rief der Dicke aufgeregt. "Wenn er nur nicht immer
ans Fressen denken würde!"
"Zur Konzentration kann ich ihn nicht zwingen", sagte der
Kahle.
"Eines Tages wird auch das möglich sein." Der Dicke
starrte verbissen auf die Bildwand.
"Klar", lästerte Doc. "Dann setzen wir Wellensittiche
zur Personenüberwachung ein. Falls es dann noch welche gibt."
Die alte Frau geht spazieren. Lächelnd blickt sie nach unten.
Ein endlos scheinender Strom von Etos zieht vorbei. Blauweiße
Betonbauten schwanken an den Seiten. Die Frau lächelt. Eine schwarze
Klappe, dahinter ein dunkler Raum. Farben wischen über das Bild.
"Ein Geruchserlebnis", erläuterte das Fräulein.
"Das können wir nicht dekodieren."
Ein dunkler Raum mit rechteckigen Behältern, aus denen Müll
quillt. Der Müll schwimmt, rückt näher. Ein Gewimmel
von Ratten über den Abfällen. Die im Vordergrund blicken
mißtrauisch, weichen zurück. Es wogt grau. Die Ratten fressen.
"Ich wußte gar nicht, daß es schon so schlimm ist."
Das Fräulein war entsetzt.
"Haben Sie eine Ahnung!" sagte der Dicke. "Ich könnte
Ihnen Dinge erzählen, wenn ich dürfte . . ."
"Fräulein Siebzehn!" sagte Doc scharf. "Die Teller
sind nicht abgeräumt. Kein Wunder, daß er nur ans Fressen
denkt."
"Ich bin mit dem Steuern ausgelastet . .
"Fräulein Siebzehn!"
Die Dralle räumte dem Doc ihren Platz, ging sicher durch den
dunklen Raum und nahm die Teller und die Schüssel.
Die alte Frau stellt mit ihrer runzligen Hand einen gefüllten
Freßnapf auf den Teppich. Das Lächeln. Der Leuchtenmast.
Ein grimmiger Schnauzer, der angreift. Der Mast. Ein Baum.
"Was ist das?" Das Fräulein war in den Raum zurückgekehrt.
"Wald", sagte der Doktor und erhob sich.
"Ich weiß", erwiderte das Fräulein beleidigt.
"Ich habe Filme gesehen. Ich. Aber nicht der Hund."
"Vererbte Erinnerungen. Was weiß ich."
"Ist das schön", sagte leise das Fräulein und
starrte auf die Bildwand. "Auf Ihren Platz!" wies Doc an
und murmelte: ..Sentimentale Ziege."
"Sie sind ein Roboter", konstatierte der Dicke.
"Finden Sie wirklich?" Der Kahle tat geschmeichelt.
Der Wald zerrinnt durch eine Tür in ein möbelüberladenes
Zimmer. Die alte Frau liegt am Boden. Blut sickert durch die weißen
Haare auf den Teppich. Vor einem Schrank steht ein junger Mann und
wirft die Wäsche auf den Fußboden. Er dreht sich um. Sein
Gesicht verzerrt sich vor Schreck. Wäsche wächst auf den
Betrachter zu, und es wird dunkel. Wogende Ratten im Müll. Eine
Konservenbüchse mit Fleischresten, in die sich rosa Maden gegraben
haben. Die runzlige Hand mit dem Napf. Die lächelnde Frau. Der
Mast. Ein Baum. Wald. Dicke, hohe Stämme.
"He, wie geht es weiter!" brüllte der dicke Inspektor,
und als hätte Immo es verstanden, zerrann der Wald wieder durch
die Tür.
Die alte Frau am Boden. Dahinter der junge Mann am Wäscheschrank.
Umwenden, Erschrecken. Wäsche fliegt heran, wird abgeschüttelt.
Der Bursche wirft einen Stuhl. Ausweichen. Der Mann rennt zum Fenster,
reißt den rechten Arm schützend vor den Kopf und springt
seitwärts durch die Scheibe. Einen Moment lang ist er nicht mehr
zu sehen. Dann kommt die gesplitterte Scheibe herangesprungen, geborstenes
Glas fliegt an den Seiten vorbei, Asphalt schießt schwarz heran.
Der Bursche rennt auf ein Elektromobil zu, wird größer,
springt hinein, läßt das Verdeck zuschnappen. Ein gewaltiger
Satz auf das Verdeck. Das große, angstverzerrte Gesicht des
jungen Mannes ist nach oben gerichtet, dann auf die Armaturen. Kurzes,
mischblondes Haar.
Das Eto ruckt schnell an. Häuser und Asphalt wirbeln, bleiben
unscharf stehen. Das Eto jagt davon, wird schärfer. Es schwankt,
alles schwankt, Straßen schwanken vorbei, noch immer ist das
Eto zu sehen, klein, sehr fern. Andere Etos verdecken es. Asphalt.
Eine gelbe Pfütze. Der rattengefüllte Entsorgungsraum. Die
Frau mit dem Napf. Junge Hunde saugen an der Mutterbrust. Das Lächeln.
Die Hand hält eine Bürste. Der Dicke springt aus seinem
Eto. Der Leuchtenmast.
"Haben Sie ihn erkannt, Inspektor?" fragte der Kahle.
"Allerdings. Ein cleverer Bursche, der liebe Enkel. Die Reise
hat er schon vor einem Jahr gebucht. Da war an Omas Tod noch nicht
zu denken. Der kam erst, als es ans Zahlen ging."
"Aber warum?" fragte das Fräulein.
"Warum!" Der Doktor schüttelte den Kopf über soviel
Naivität.
"Er wollte mal etwas Grün sehen", beantwortete die
Dralle ihre rhetorische Frage.
Vielleicht hat er Glück und bekommt eine Zelle mit grünen
Wänden", sagte der Inspektor.
"Warum läuft denn das immer noch? Machen Sie endlich Licht,
Fräulein Siebzehn", wies Doc an. "Worauf warten Sie?
Mehr kommt nicht."
..Vielleicht noch mal der Wald."
"Wir sind nicht zum Vergnügen hier."
Langsam wurde es hell. Immo lag auf der Matte und blinzelte. Am Schaltpult
saß das schwitzende Fräulein. Daneben stand der Dicke und
sprach mit dem Monitorbild eines Uniformierten. Der Glatzkopf saß
mit dem Rücken zu den beiden und notierte etwas.
Als der Doktor aufblickte, fragte ihn die Dralle: "Was wird mit
ihm?" Sie deutete auf den Hund.
"Na, was wohl?" knurrte Doc.
"Das können Sie doch nicht machen!"
"Wollen Sie ihn haben, wenn er durchkommt?"
Das rundliche Fräulein betrachtete den alten, pilzgrindigen Hund
und schüttelte still den Kopf.
"Ein Tierpark nimmt ihn nicht", sagte der Inspektor, der
sein Ferngespräch beendet hatte.
"Nehmen Sie ihn doch als Polizeihund. Er hat nachweislich eine
gute Beobachtungsgabe", höhnte der Glatzkopf.
Das Fräulein erhob sich abrupt, ging festen Schritts zur Tür
und sagte im Hinausgehen: "Warum sind Sie so gemein?" Sie
ließ die Tür offenstehen.
"Ja, warum?" fragte der Inspektor.
"Sie wissen, daß wir für den Köter nur eines
tun können - ihm das Sterben erleichtern?"
"Ja, aber. . ."
"Warum dann sentimentalisieren?"
"Und warum höhnen?"
"Das macht's erträglicher."
"Wem?"
Immo spürte Unbehagen. Der Kahle plante Böses. Der Dicke
schien freundlich, aber er würde ihm gegen den Kahlen nicht beistehen.
Trotz des reichlichen Fressens gefiel es Immo nicht. Der Raum war
häßlich wie die Straßen. Er, Immo, gehörte unter
Bäume. Mit der Vision kehrten die Kräfte zurück. Die
Männer, erregt diskutierend, beachteten ihn nicht.
Immo von Hainspitz erhob sich vorsichtig. Er wußte, er würde
rennen können. Und er rannte. Drähte strafften sich, der
Abtaster wurde vom Kopf gefetzt, es blutete, die Schrammen kümmerten
Immo nicht. Er verschwand durch die Tür.
"Weit kommt er nicht", sagte der Doktor.
Er irrte. Immo war so groß, daß die Lichtschranken ihm
die Flurtüren öffneten. Der Hund gelangte ins Treppenhaus,
stieg hinab. Auch die unterste Tür sprang vor ihm auf. Immo schritt
hindurch, bemerkte, daß er im Keller war, wollte wieder zurück.
Die Tür fiel zu und ließ sich nicht öffnen. Er mußte
weitergehen. Flackernde Leuchtstäbe zeigten ihm den Weg.
Am Ende des Ganges liefen Kabel zusammen und verschwanden in einem
dunklen Schacht. Der war so groß, daß Immo bequem darin
laufen konnte. Hindurch mußte er, anders war kein Weiterkommen.
Er hatte Angst, weil er nicht sah, wohin er ging, aber er ging. Ein
Lichtschimmer belohnte ihn. Er lief darauf zu, verharrte, sprang dann
in eine große Halle, die mit seltsamen Gewächsen gefüllt
war. Dicke Stämme ragten dem Dämmerlicht entgegen. In der
Höhe verästelten sie sich ins Unüberschaubare. Durch
ein Rostloch in einem der Stämme sickerte Wasser. Immo trank.
Dann entdeckte er unter einem Kessel einen weichen, schmierigen Lappen.
Zufrieden streckte er sich darauf aus und lauschte dem Zwitschern
der Pumpen.