Und da waren die Tevids,
traten aus dem Schatten der Hausmauern und Einfahrten. Eric bemerkte
sie erst, als sie bereits gefährlich nahe gekommen waren. Reflexartig
griff er zum Handlaser und ließ ihn erst los, als er die buntbemalten
Gesichter sah: Tatsächlich Tevids, keine Lors - die radikalen
Anhänger von Law and Order hätten sich nicht mal koloriert,
um ihr Leben zu retten, umso weniger, um jemanden wie ihn zu täuschen,
für wen auch immer sie ihn halten mochten.
Sie rückten von allen Seiten auf ihn zu, clownsgesichtige Gestalten
in graugrünem Leder, ein Dutzend mochten es sein, wie vereinbart;
vorwiegend Jungs, nur drei Mädchen, eines davon jedoch - eine
stämmige Person mit flacher Ledermütze über dem kahlgeschorenen
Schädel - war offenbar die Chefin (oder wie das bei den Tevids
hieß); sie sprach Eric an.
"Ist der HL geladen?"
"Natürlich."
"Für Kapitalistenschweine arbeiten wir nicht." Das
Mädchen wandte sich an einen spacken Jungen mit angesplitterten
Brillengläsern. "In was willst du uns reinziehen, Eule?"
"Er schien okay zu sein", verteidigte sich der Spacke.
"Trau keinem über Vierzig!"
"Ich bin erst Achtunddreißig!" behauptete Eric.
"Wer Knete für Strom hat, ist nicht okay!" entschied
die Sprecherin.
"Mal angenommen", Eric mochte sich nicht schon im Vorfeld
geschlagen geben, "ihr könnt mit meiner Hilfe eure Handlaser
aufladen - verwandelt ihr euch dann in Kapitalistenschweine?"
"Wir doch nicht. Aber wir lassen uns nicht kaufen!"
Eric ignorierte den zweiten Satz. "Wenn ich einen Schwung Zahlkarten,
sagen wir, organisiere - bin ich dann ein Kapitalist?" Er präsentierte
drei flache, unterschiedlich gefärbte Plastikkärtchen.
"Geklaut?" fragte das Mädchen mißtrauisch.
"Seh ich aus, als ob ich drei Konten hätte - oder auch nur
eins?"
"Verkleiden kann sich jeder." Das Mädchen zögerte.
"Du willst wirklich unsere HLs aufladen?"
"Wenn ihr mitmacht..."
"Dann sag uns genau, worum es geht."
"Um meine Tochter." Eric legte wieder die Hand auf den Laser,
weil ihm der Kreis zu dicht schien. Es wäre nicht schwer gewesen,
ihn niederzuschlagen und ihm die Karten abzunehmen, ohne etwas für
ihn leisten zu müssen. Wenn sie wirklich über ihn herfielen,
nutzte das Schießen allerdings nichts - einer gegen zwölf.
Schnell sprach er weiter. "Sie sitzt. Ich will sie rausholen."
"Warum sitzt sie?"
"Unschuldig."
"Unschuldig sind wir alle. Was wirft man ihr vor?"
"TV-Destroying."
"Sie ist 'ne Tevid?" fragte das mißtrauische Mädchen.
"Ich will euch nichts vormachen. Nein, sie gehörte nicht
zu euch. Sie kam zufällig in eine Schlacht zwischen Tevids und
Lors. Als die Pigs aufräumten, haben sie Ada mitgenommen."
"Was macht sie? Reaktor oder Kloake?"
"Bettendienste. Das kann seit Aids genauso tödlich sein
wie Reaktor."
"Agitier mich nicht an. Also okay. Du willst sie rausholen. Das
ist wahnwitzig. Dafür brauchst du eine Armee. Was erwartest du
von uns?"
"Nichts anderes, als ihr immer macht. TV-Destroying und Krawall."
Eric erläuterte seinen Plan, der darauf basierte, daß ein
Maximum an Technik von einem Minimum an Menschen kontrolliert wurde.
Die Tevids überwanden ihr Mißtrauen: Das schien doch möglich
und vor allem endlich etwas Reelles zu sein nach dem Kleinkram, mit
dem sie sich sonst abgaben. Nicht nur hier und da ein paar der allgegenwärtigen,
allverblödenden, alles überwachenden, alles beherrschenden
TV-Geräte und Kameras zertrümmern, sondern das System angreifen
- selbst auf die Gefahr hin, daß einige dabei draufgehen konnten.
Und endlich wieder geladene Waffen besitzen! Nach der Zerstörung
der Ölfelder im vorderen Orient sowie den drei GAUs, die sich
in osteuropäischen Reaktoren ereigneten, als die Kernkraftwerker
für ein dreizehntes Monatsgehalt streikten, war Energie so teuer,
daß man sich außer dem subventionierten Freiblock für
TV kaum noch etwas leisten konnte. Wer einen ungeladenen oder gar
keinen Laser besaß, war gefährdet - womit sollte er sich
verteidigen? Freilich war ebenso gefährdet, wer einen Laser mit
sich führte - trug er ihn sichtbar am Gürtel (nur dort war
er schnell genug zu erreichen), so war er auch geladen, sein Träger
besaß Geld, ein Überfall erschien lohnend, selbst wenn
man nur die Waffe erbeutete. Noch wichtiger als für den Durchschnittsbürger
war die Energie für die Tevids, denn ihre eingeschworenen Feinde,
die Lors, waren zumeist ausreichend bewaffnet. Lediglich ihrer geringen
Zahl wegen war es ihnen bisher nicht gelungen, die Tevids auszurotten.
Erst am Energieautomaten der Eurobank stellte Eric fest, daß
nur acht der zwölf Tevids Handlaser besaßen. Für diesen
vorhersehbaren Notfall hatte er zwei Reservewaffen in den Außentaschen
seines schmierigen Overalls verstaut. Er verteilte sie, doch es fehlten
noch immer zwei. Sein Plan sah vor, daß die zwölf Außenkameras
der Haftanstalt gleichzeitig zerschossen wurden. Wenn, was durchaus
wahrscheinlich war, niemand auf die Monitore sah, während sie
sich näherten, oder alle Kameras nach innen geschwenkt waren,
mochten die Techniker an einen Totalausfall der Elektronik glauben.
Es war nicht zu ändern, er selber mußte sich am Ausschalten
der Kameras beteiligen. Eine würde eben weiterlaufen.
Aus sicherer Entfernung beobachteten zwei Wachmänner die seltsame
Gruppe. Da jedoch alles seine Richtigkeit zu haben schien und der
Automat ordnungsgemäß genutzt wurde, beschränkten
sie sich auf die Beobachtung - grundlos legte sich in diesem äußeren
der bewohnten Viertel niemand mit Tevids an, selbst nicht für
die Spitzenlöhne privater Wachgesellschaften.
Die Tevids luden ihre Energiewerfer und wünschten sich auf der
Stelle ein paar Lors herbei, um es denen mal richtig zeigen zu können.
Als Ersatz hätten sie wenigstens gern die Wachmänner provoziert,
doch die verschwanden unauffällig. Sehr beiläufig ließ
Eric die Bemerkung fallen, daß sie die Waffen nach Benutzung
im Gefängnis noch einmal laden könnten. Da fiel ihnen wieder
ein, welchen Schlag gegen das System sie beabsichtigten. Ohne Mühe
veranlaßte ihre Sprecherin sie zum Abmarsch.
Der Plastbetonklotz am Rand der Metropole - das größte,
glücklicherweise nicht das modernste Gefängnis der Vereinigten
Staaten von Europa - wurde auf zwei Seiten von einer gigantischen
Müllhalde begrenzt, auf die beiden anderen Seiten war die Stadt
zugewachsen, bis die unmittelbare Nachbarschaft der Verbrennungsanlage
das Wohnen selbst den Ärmsten unmöglich machte; die Häuser
verfielen. Doppelmauern sicherten das Gefängnis vor unbefugtem
Verlassen; mit Hochspannung geladene Drähte verhinderten das
Übersteigen. Scheinwerfer strahlten den kahlen Todesstreifen
vor den Mauern an, allerdings nur wenige - das Energiespargebot galt
selbst für Verwahranstalten. Wachtürme und Posten gab es
nicht; sie wurden, weil die Gehälter zu hoch waren und weil die
Elektronik als zuverlässig galt, nicht für nötig erachtet.
Ein ätzender Geruch lag in der Luft, ein Gemisch von Ammoniak,
Schwefel, verbranntem Fleisch. Gelbgrüne Nebelschwaden waberten
durch die Luft.
Die Tevids robbten, dicht an den Boden gepreßt, ohne Scheu vor
den von der Halde herübergesickerten öligen oder quecksilbern
glänzenden Lachen auf das Objekt zu und verteilten sich, so geschwind
dies auf allen Vieren möglich war, rund um die Doppelmauer. Den
Tod fürchteten sie nicht. Die meisten würden ohnehin bald
an Hautkrebs sterben, weil sie in ihrer Kindheit tagsüber im
Freien gespielt hatten - drei Stunden seien absolut unbedenklich,
verlautbarten damals die gut besoldeten Experten aus ihren klimatisierten
Büros.
Da kein Alarm ausgelöst wurde, waren alle Kameras offenbar nach
innen gerichtet, oder die Nebel verhinderten klare Sicht, oder aber
die Wächter dösten tatsächlich. Geschehen war hier
noch nie etwas; ein Ausbruch schien absolut unmöglich, ein Einbruch
selbst den Tevids undenkbar. Exakt um 23.30 Uhr lösten sich elf
Lichtblitze; an den Rändern der kohärenten Strahlen entzündeten
sich Nebelteilchen, sprühten davon wie die Leuchtkugeln von Feuerwerksraketen.
Neun Blitze trafen, zwei Tevids mußten ein zweites Mal schießen,
um die anvisierten Kameras auszuschalten. Auch Eric schoß ein
zweites Mal mit maximaler Leistung. Die zwölfte Kamera zersplitterte
trotz der großen Entfernung, dieses Problem zumindest hatte
sich mühelos lösen lassen.
Wenn Erics Informationen stimmten, waren sie jetzt trotz der Scheinwerfer
unsichtbar. Sie konnten einen nach dem anderen ausschießen.
Sofern keine Außenmikrofone existierten (Erics Informationen
besagten, daß sie eingespart worden waren), konnte man sie von
drinnen nicht mal hören - das halbmeterdicke, fensterlose Plastbeton
isolierte den Schall.
Eric beteiligte sich nicht am Zertrümmern der Scheinwerfer. Er
rannte zum ersten Häuserblock, auf dessen Hof die bereits am
frühen Abend organisierte Feuerwehr parkte. Selbstverständlich
vermutete in diesem Viertel niemand ein fahrbereites, vollgetanktes
Fahrzeug, weshalb der Wagen hier sicherer gestanden hatte als zuvor
in der Feuerwache. Bewacht wurde er von den Ratten, die nach dem Exodus
der Menschen eingezogen waren. Wie sie in der unmittelbaren Nähe
der Verbrennungsanlage überleben, wie sie gar unter giftigen
Abprodukten etwas Eßbares finden konnten, gehörte zu den
ungelösten Rätseln der Wissenschaft und diente den Betreibern
als Argument dafür, daß die Gefährlichkeit der Deponie
von militanten Umweltschützern in unverantwortlicher Manier übertrieben
werde.
In der Toreinfahrt kniff Eric die Lider zusammen und entzündete
eine Magnesiumfackel. Die geblendeten Ratten, die zwecks Revierverteidigung
im Hof zusammenströmten, wichen beiseite. Eric hastete zum Wagen,
öffnete die Fahrertür, erklomm geschwind die Sprossen, warf
die Fackel in den Hof, schlug hastig die Tür zu. Sofort bemerkte
er, daß sich neben ihm etwas bewegte. Ein Schauer lief ihm den
Rücken herunter. Er schnellte empor, schaltete die Kabinenbeleuchtung
an und fuhr herum, wobei er den Werfer zog wie ein Westernheld. Auf
der Lehne des Beifahrersitzes saß eine katzengroße, fette
Ratte mit roten, entzündeten Knopfaugen. Ihre fellose Haut war
mit eiternden Schwären bedeckt. Sie blickte ihn sehr aufmerksam
an. Eric stellte den Laser auf die geringste Leistung ein. Schießen
würde er nur in äußerster Not - selbst die kleine
Kraft war zu groß für die Kabine; er könnte sie zerstören,
und das durfte nicht sein. Ohne die Feuerwehr funktionierte sein Plan
nicht. Leider kam er an das Messer im Rucksack nicht heran. Also wartete
er ab. Sie starrten sich intensiv an, die Ratte und der Mensch.
"Der Klügere gibt nach", empfahl Eric mit heiserer
Stimme. Er räusperte sich sehr vorsichtig, um das Monstrum nicht
zu provozieren.
Als hätte sie ihn verstanden, zog sich die Ratte langsam in Richtung
der Beifahrertür zurück. Eric ertastete das Zündschloß,
fingerte mit der linken Hand den Schlüssel aus einer der rechten
Overalltaschen, steckte ihn in das Schloß, schaltete die Zündung
ein. Die Ratte beobachtete ihn genau. Für einen Moment wandte
er den Blick zum Armaturenbrett, um den Knopf zum Öffnen des
rechten Fensters zu suchen. Schnell ruckte er den Kopf wieder zur
Seite. Die Ratte hatte ihren Vorteil nicht ausgenutzt; sie wartete
ab. Mit leisem Summen öffnete sich das Fenster. Obwohl sie dies
hörte, obwohl sie den Luftzug hinter sich spüren mußte,
blieb sie sitzen. Im Gesicht einer Ratte kann man nicht lesen. War
sie nun ängstlich, angriffslustig oder nachdenklich? Der schuppige,
lange Schwanz peitschte auf die Lehne des Beifahrersitzes. Nervös?
Aggressiv?
"Bitte!" sagte Eric. "Bitte! Das Fenster ist offen,
ich könnte jetzt schießen. Aber wir haben keinen Streit
miteinander. Spring hinaus! Bitte!" Er kam sich albern vor, weil
er mit einer fetten, kranken Ratte sprach, und hörte doch nicht
auf. "Bitte!"
Sie schaute ihn genau an, als versuchte sie, seine Gedanken zu ergründen.
Auf einmal wandte sie sich in einem Tempo ab, das dem kranken Tier
nicht zuzutrauen gewesen war, schnellte herum, sprang tatsächlich
hinaus ? in die Dunkelheit; die Fackel war gerade erloschen.
"Ich wußte, daß zwischen vernunftbegabten Wesen eine
friedliche Verständigung möglich ist", sagte Eric vor
sich hin und räusperte sich kräftig. Er ließ sich
auf den Fahrersitz sinken, schloß das Fenster, startete.
Die Begegnung mit dem riesigen Nager erregte ihn stärker, als
er sich eingestand. Beim Wenden rammte er eine Mauer, was ihn kaum
störte - schließlich wollte er das Fahrzeug nicht weiterverkaufen.
Zu seiner Überraschung sah er im Licht der Scheinwerfer nicht
eine einzige Ratte. Waren sie vor der Fackel geflohen, vor dem Motorengeräusch,
oder hatte das Tier aus dem Fahrerhaus sie weggeschickt, nachdem es
sich von seiner Friedfertigkeit überzeugen konnte? Keine Zeit,
darüber nachzudenken. Er beschleunigte, passierte die Toreinfahrt,
fuhr in hohem Tempo - auch die Stoßdämpfer mußte
er nicht schonen - über den Todesstreifen direkt auf die inzwischen
im Dunkel liegende Doppelmauer zu. Ein öliger Film legte sich
auf die Scheibe; die Scheibenwischer verschmierten ihn. Das Wasser
der Waschanlage nutzte nicht viel. Eric hoffte, daß die Tevids
ihm ausweichen würden, sofern in sie im Weg standen. Die Mauer
sah er erst, als nur noch eine Vollbremsung den Wagen zum Stehen bringen
konnte.Hart prallte er gegen das Lenkrad, schnappte nach Luft und
ließ sich doch nicht aufhalten.Er orientierte sich auf dem Armaturenbrett,
betätigte einen Schalter. Die Leiter fuhr waagerecht aus. Sie
befand sich nur Zentimeter über dem obersten Hochspannungsdraht,
der Abstand war knapper als angenommen. Würde er die Leiter nach
oben klappen, kämen sie auf der anderen Seite vielleicht noch
hinunter, nicht jedoch wieder hinauf. Also durften niemals mehr als
zwei Personen gleichzeitig über die Leiter laufen, wenn sie die
Berührung der Drähte vermeiden wollten (schätzte er).
Noch einmal verständigte er sich mit der Tevid-Sprecherin - ihre
grüne Lederkluft sah inzwischen genauso schmierig aus wie sein
Overall; von ihrer linken Hand löste sich die Haut, weil sie
beim Robben in irgendeine Säure gefaßt hatte -, dann balancierte
er als erster über die leicht schwankende Metalleiter. An deren
letzter Sprosse befestigte er eine Strickleiter, die er seinem Rucksack
entnahm. Sie reichte genau bis auf den Boden. Eric kletterte hinunter.
Dicht über den Terrazzoplatten des inneren Rundganges blieb er
auf der schwankenden Strickleiter stehen, umklammerte die Seile mit
beiden Armen und holte ein kleines, flaches Päckchen aus dem
von einer Schulter geschwenkten Rucksack, das er entfaltete. Es handelte
sich um eine große, leichte Kunststoffplane. Er warf sie über
die Steinplatten. Diese waren mit hochempfindlichen Sensoren bestückt,
welche auf Berührung reagierten. Die Plane übte einen zwar
geringen, doch hinlänglichen Dauerdruck aus, so daß, wie
er spekulierte, die Überwacher wiederum eher an eine weitere
elektronische Panne als an den tatsächlich unwahrscheinlichen
Fall glauben würden, genau auf die Sensoren hätten sich
zwanzig oder dreißig Personen gestellt, die sich um keinen Millimeter
von ihren Plätzen wegbewegten. Ehe jemand herauskam, um nachzusehen,
wären sie schon neben den Türen.
Als Eric auf der Plane stand, gab er mit einem Laserblitz (wieder
das Feuerwerk rund um den Strahl, prasselnd, spritzend, bunt) das
vereinbarte Zeichen. Nach und nach schlossen die Tevids zu ihm auf.
Sie konnten es kaum fassen, daß sie so mühelos in den Hof
des Gefängnisses eingedrungen waren. Warum geschah so etwas nicht
täglich, da es doch so leicht war? Ein letztes Mal standen sie
beisammen. Von nun an würden sie getrennt vorgehen. Möglicherweise
sahen sie sich nie wieder.
Die Tevids postierten sich neben der Tür, durch welche die Techniker
hinauskommen würden, wenn sie endlich merkten, daß die
Elektronikpannen nicht vom Schaltpult aus zu beheben waren. Eric hingegen
umkreiste das Gebäude und ging zu einer für die Wachleute
vorgesehenen Tür. Das Außentor ließ sich nur von
innen öffnen; deshalb mußten sie über die Mauer steigen.
Für die Innentüren gab es magnetisierte Kärtchen, deren
eines sich Eric hatte verschaffen können. Alles und jeder war
käuflich - wenn man genug bot, selbst der Justizminister. Das
Bestechen einen Sachbearbeiters war in diesem Fall ausreichend, vor
allem wesentlich preiswerter gewesen. Eric schob die Karte in den
dafür vorgesehenen Schlitz. Mit leisem Summen schwenkte der Eingang
auf.
Eric betrat die Luftschleuse. Noch ehe die Tür wieder zugefallen
war, konnte er bereits aufatmen in der gereinigten, sauerstoffangereicherten
Gebäudeluft. Schnell lief er auf die über der inneren Einlaßtür
angebrachte Kamera zu, hielt das Kärtchen, als wolle er sich
übereifrig ausweisen, in Richtung Objektiv. Munter sagte er:
"Hallo! Wir haben ein paar Elektronik-Ausfälle. Seht ihr
auch was davon?"
"Allerdings!" erwiderte eine Männerstimme. "Das
heißt, wir sehen gar nichts."
"Eben. Ich muß eure Monitoreingänge überprüfen."
"Komm rein", entschied die Männerstimme.
Die Metalltür unter der Kamera schwenkte auf. Eric betrat die
Leitzentrale des Wachschutzes. Zwei Uniformierte saßen auf Drehstühlen
vor einem Schaltpult. Sie starrten zur Tür. Das war (bildete
er sich ein) die gefährlichste Situation des ganzen Unternehmens.
Mißtrauten sie ihm, so würden sie ihn beim Hineintreten
abschießen.
Sie schöpften den Verdacht erst, als sie bemerkten, daß
Eric gar zu schmutzig für einen Elektroniker aussah. Da war es
bereits zu spät. Er streckte sie mit zwei Schüssen aus dem
Handwerfer nieder, zog einem die Uniformjacke aus und fesselte die
beiden aneinander. Sie zu töten, hielt er nicht für notwendig.
An diesem Tag würde noch genug Blut fließen.
Er zog die Uniformjacke über den Overall, setzte sich an das
Schaltpult und versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen.
Glücklicherweise waren die Tasten beschriftet - man setzte nicht
gar zu viel Intelligenz und Merkfähigkeit bei den Wächtern
voraus. Jetzt mußte er nur warten, bis die Techniker endlich
Alarm gaben, um das Wachpersonal auf die andere Seite des Gebäudes
zu ordern.
Minutenlang geschah gar nichts. Die Techniker schienen nicht auf die
Idee zu kommen, daß die Fehlfunktionen auf Fremdeinwirkung zurückzuführen,
ja, mit simplen Hausmitteln bewirkt worden waren. Die Tevids standen
(das war nur eine Vermutung, die Außenkameras funktionierten
wirklich nicht) nutzlos vor der verschlossenen Tür. Schließlich
erschien gar das Gesicht eines Technikers auf einem Monitor, der ihn
fragte, ob in der Zentrale ebenfalls Fehlfunktionen angezeigt seien.
Eric hütete sich, das Videophon einzuschalten ? dann wäre
er zu sehen gewesen, das durfte er nicht riskieren. Schließlich
konnte er sich nicht wieder das Kärtchen vors Gesicht halten.
Sollten sie doch an eine weitere Panne glauben, wenn sie mochten!
"Falls ihr uns hören könnt: Wir schicken zwei Leute
raus, nachsehen!", sagte schließlich der Techniker.
"Wird Zeit", brummte Eric - leise trotz des abgeschalteten
Mikrofons.
Auf einem der Monitore sah er, wie die Tür geöffnet wurde.
Ehe die Techniker hinausgehen konnten, waren sie bereits von den Tevids
überrannt, ein Bildschirm nach dem anderen erlosch unter den
Schüssen.
Noch immer kein Alarm. Dann gab er ihn eben selber! In das Geheul
der Sirenen hinein, das den fremden Klang seiner Stimme übertönte,
wies er an, bei den Technikern nachzusehen; dort fielen auf einmal
sämtliche Monitore aus. Jemand bestätigte den Befehl. Sekunden
später konnte Eric endlich die Wachleute sehen. Sie stürmten
einen der Flure entlang, schwangen ihre Handlaser, zupften an ihrer
im Ruheraum derangierten Kleidung herum. Es waren nur sechs Männer.
So wenige für ein so großes Objekt? Sicherheitshalber fragte
er, ob noch jemand im Aufenthaltsraum säße. Niemand antwortete.
Er konnte die Sirenen abstellen.
Als nächstes wollte er die Zentralverriegelung sämtlicher
Türen des Gefängnisses öffnen. Den dafür notwendigen
Befehl hatte ihm ein Hacker aufgeschrieben, der nach zwei Jahren Haft
mit halber Lunge, halbem Magen, zerfressener Haut vor seinem Homecomputer
auf den Tod wartete und die ganze Welt haßte. Eric tippte die
Zeichen ein. Als er die Enter-Taste betätigte, erschien statt
einer Bestätigung die Schrift: Falscher Befehl oder Eingabe.
Er überprüfte die Zeile auf dem Monitor, Zeichen für
Zeichen. Alles war korrekt, einschließlich der Blanks, lediglich
der Schrägstrich lehnte sich nach der rechten statt nach der
linken Seite. Statt des Backslashs, den er auf der Tastatur nicht
entdecken konnte, hatte er den Forward Slash gewählt. Eric bewegte
den Cursor auf die Slashs. Er überlegte. Mit Computern besaß
er wenig Erfahrung, doch wußte er um die Zweittastenbelegung.
Die Alt-Taste halten und eine Ziffernkombination auf dem Numeric Keypad
eingeben. Nur: welche? Es gab zwischen 200 und 300 ASCII-Zeichen (meinte
er sich zu erinnern). Sollte er sie allesamt durchprobieren? Aufs
Geratewohl gab er Alt 300 ein. Komma. Alt 200. Grafikzeichen Box/Top
right. Alt 100. Buchstabe d. Ein absolut sinnloses Unterfangen. Verzweifelt
blickte er auf den vom Hacker beschrifteten grauen, zerknautschten
Zettel. In die untere rechte Ecke war Alt 92 gekritzelt. Er gab die
Kombination ein. Backslash. Aufatmend ersetzte er die falschen durch
die richtigen Schrägstriche, enterte erneut. Comand will open
all lattices, doors and gates. Are you sure? N/Y, protestierte der
Computer und plazierte den Cursor auf dem N. Wenigstens fragte er
nicht nach der Eingabeberechtigung! Eric drückte auf das Y.
Was hier noch zu tun blieb, war leicht dank der Gebrauchsanweisung
auf dem Zettel. Beleuchtung, Klimatisierung, Computer, Fahrstühle
auf Notstrom schalten. Die Energiezufuhr unterbrechen. Diskette in
das Laufwerk a einführen, das Programm in den Hauptspeicher kopieren.
("Es handelt sich um das gemeinste, boshafteste Virusprogramm,
das je entwickelt wurde." Der invalide Hacker lächelte -
zum ersten Mal, seit Eric ihn kannte. "Knackt alle Anti-Viren-Programme.
Zerstört die gesamte Software. Nistet sich in der Hardware ein.
Selbst nach Totallöschung ist die Hardware nicht mehr zu verwenden.
Nie mehr! Das Gefängnis muß evakuiert werden. Die Stadt
wird im Müll ersticken." Lautes, schmerzliches, triumphierendes
Lachen.) Eric zog die Floppy aus dem Laufwerk, steckte sie ordnungsgemäß
in die Hülle, diese wiederum in ein kleines Album, welches er
in seinem Rucksack verstaute. Das Programm war zu wertvoll, als daß
er es hätte unpfleglich behandeln dürfen ? schließlich
war es selbststartend, also von der Art, daß man es nicht kopieren
konnte, ohne den Computer zu verlieren.
Eric studierte seinen Zettel. Nichts übersehen, nichts vergessen.
Endlich konnte er den Kontrollraum verlassen.
Alle Türen ließen sich per Hand betätigen. Irgendwann
würden das die Gefangenen sicher bemerken und ihre Zellen verlassen,
sofern sie dazu physisch in der Lage waren und die Wächter nicht
zurückkehrten. Letzteres war äußerst unwahrscheinlich.
Sechs Wachmänner, die im schlimmsten Fall auf unbewaffnete Gefangene
gefaßt waren, standen gegen zwölf gut bewaffnete Tevids,
die auf den Angriff vorbereitet waren. Die Techniker - das mochten
nachts kaum zwanzig sein - hielten sich mit Sicherheit heraus aus
dem Kampf; für gewaltsame Auseinandersetzungen wurden sie nicht
bezahlt.
Die Lampen brannten nach wie vor, das Licht hatte beim Umschalten
auf das Notstromaggregat nicht einmal geflackert. Eric durchschritt
einen langen, grauen Flur, an dessen Ende, wenn der Grundriß
stimmte, der einzige Wachmann saß, der seinen Posten nur bein
Ablösung verlassen durfte. Die erfolgte zu allen geraden Stunden.
Eric blickte auf seine Armbanduhr. Der neue Tag war eine halbe Stunde
alt. Das war sein Tag, hoffte Eric.
Der einzige menschliche Wächter des Zugangs zum Zellentrakt hielt
den in sein vollverglastes Büro tretenden Mann der Jacke wegen
für einen Kollegen, nur einen Moment lang, doch da hielt ihm
Eric schon den Laser an die Kehle und entwaffnete ihn mit der anderen
Hand.
"Wo ist Ada Goll?"
"Was soll das?" fragte der Wächter entgeistert.
Eric schnitt ihm mit kurzem Strahl das linke Ohrläppchen ab.
"Als nächstes ist das Ohr dran, oder was davon noch übrig
ist, dann die Nase. Wo ist sie?"
"Ich blute!"
"Wo ist sie?" Eric setzte die Waffe ans Ohr.
"Nicht! Ich... Wir haben über 2000 Häftlinge. Die kann
ich gar nicht alle kennen."
"Ein ungewöhnlich schönes Mädchen, noch keine
20. Vorgestern eingeliefert." Eric drückte fester mit dem
Laser zu.
"Sie hat Dienst!"
"Wo?"
"Beim Direktor."
"Du gehst vorneweg!"
"Ich darf meinen Posten nicht verlassen."
"Ohne Ohren darfst du überhaupt keinen Dienst mehr tun."
Der Wächter begriff, daß der Fremde es ernst meinte. Er
erhob sich. Eric preßte ihm die Mündung in den Nacken.
Sein Gefangener wagte keinen Widerstand.
Sie betraten einen Fahrstuhl, der Wächter sagte erregt "Drei",
Eric suchte die Schaltknöpfe, doch der Fahrstuhl setzte sich
bereits auf das akustische Signal hin in Bewegung. Sie fuhren abwärts,
nur ein Stockwerk, wie zu erwarten. Die Eins, das oberste Stockwerk,
enthielt die technischen Anlagen zur Luftreinigung sowie die automatischen
Anlagen zur Produktion der Speisen, die ebenerdige Zwei die Wachräume,
die Technikstation und die Zellen für die Neuzugänge. In
der Drei, dem ersten unterirdischen Geschoß, saß die Verwaltung.
Darunter sollte es noch sieben, nach anderen Berichten sogar zwölf
Etagen mit Zellen und Arbeitsstätten geben, die allesamt ohne
Wächter auskamen - der Lebensrhythmus wurde vom Zentralcomputer
gesteuert, jedenfalls bis vor einer Viertelstunde. Durch eine unterirdische
Zufahrt wurden auf eigens dafür gebauten Verbindungswegen die
Gefangenen an ihre Arbeitsplätze in den Fabriken und Deponien
am Rand der Metropole verfrachtet ? in fahrerlosen, ferngesteuerten
Autos, die in regelmäßigen Abständen zwischen Hochsicherheitstrakten
hin- und herpendelten.
Eric schob den Wächter vor sich aus dem Lift, für den Fall,
daß ein durch die Ausfälle alarmierter Posten auf dem Gang
stand - zumindest einen würde es in der Verwaltungsetage wohl
selbst nachts geben, da der Fahrstuhl die einzige direkte Verbindung
zu den unterirdischen Zellen war. Die Vorsicht zahlte sich aus, neben
dem Fahrstuhl stand ein Wächter.
"Was ist denn da oben bei euch los?" fragte der Posten seinen
Kollegen. "Der Computer behauptet, jetzt ist es 27.92 Uhr!"
Dann sah er, daß Eric unter der Uniformjacke einen schmierigen
Overall trug. Die rechte Hand fuhr zur Waffe herunter. Eric schoß
ihn nieder. Der Gefangene band ihn ihn mit Gürteln - dem eigenen
und dem des Betäubten - an Händen und Füßen.
Daß Eric den Wächter nur außer Gefecht setzte, nicht
tötete, ermutigte den Gefangenen zu einem Befreiungsversuch.
Unverhofft, voller verzweifelter Kraft, schlug er mit der Faust zu,
traf den linken Unterkiefer. Eric taumelte gegen eine Wand. Noch im
Fallen drückte er ab. Der Wächter stürzte über
seinen gefesselten Kollegen. Eric spuckte einen Backenzahn in das
Taschentuch, mit dem er sich das Blut vom Mund wischte. Seinem Rucksack
entnahm er die für diesen Zweck mitgeführten Stricke und
band die beiden aneinander.
Das Direktionszimmer mußte er selber finden, jedoch war das
nicht schwer, wenngleich statt der Funktionen nur Ziffern auf den
altmodisch emaillierten Schildern standen. Für den Chef war mit
Sicherheit die Eins, nicht die Dreiundzwanzig gewählt worden.
Die zur Zahl gehörende Tür war gepolstert.
Dahinter befand sich Ada - im Dienst. Eric wußte ziemlich genau,
was das bedeutete. Die Gefangenen wurden für die niedrigsten,
gefährlichsten Arbeiten eingesetzt, für die sich selbst
die Einwanderer nicht hergeben mochten ? Reaktorreinigung, Beseitigung
von Industriemüll, von Fäkalien. Nach einem Jahr waren viele
der Gefangenen krank, nach zwei oder drei Jahren tot. Die Polizei
verhaftete, soviel sie konnte, um die Wirtschaft in Gang zu halten.
Die hohen Strafen ? drei Jahre entsprachen in der Realität oft
lebenslänglicher Haft einschließlich der Hinrichtung ?
erzeugten bei den Angehörigen der Betroffenen Widerstand, friedlichen,
gewaltsamen; die Protestierenden, die Randalierenden konnten wiederum
festgenommen werden, einige Angehörige setzten sich zur Wehr
? das System reproduzierte sich ständig selbst. Die meisten Bürger
resignierten, paßten sich an, ordneten sich ein und unter; irgendwie
konnte man schon zurechtkommen. Absolut sicher vor unbegründeter
staatlicher Repression waren freilich selbst die Passiven nicht: Ein
Anlaß für Festnahmen war mit geringer Mühe zu finden.
Ihrer Schönheit wegen gehörte Ada zu den Privilegierten:
Sie wurde als Prostituierte eingesetzt - zunächst zur Verfügung
der Leitung (der etwas Spaß zustand, da sie todesmutig im vollklimatisierten,
sauerstoffversorgten Bunker neben dem Müllberg ausharrte), später
für die Mannschaften, noch später vielleicht sogar für
die Gefangenen, die sich das leisten konnten oder wollten. War sie
dann verschlissen und ihre Strafzeit noch nicht verbüßt,
konnte sie immer noch in einen Reaktor geschickt werden.
Ada war vor einer Woche festgenommen, im Schnellverfahren verurteilt
und vor zwei Tagen eingeliefert worden, also war es folgerichtig,
daß sie jetzt dem Direktor zu Diensten sein mußte (nach
Mitternacht - ob er das als Überstunden abrechnete?).
Leise öffnete Eric die Polstertür. In dem Vorraum, den er
betrat, befand sich niemand. Es war ein genormter Büroraum mit
Schreibtischen, Drehstühlen, Computern, nicht geeignet für
Sexdienste. Auf einem der Telefone blinkte eine rote Lampe. Wie war
das möglich bei lahmgelegter Energieversorgung? Hatte ihn der
Invalide in seinem Haß auf die Welt hereingelegt? Wahrscheinlich
wurde das Telefon eigenversorgt, beruhigte sich Eric. Er zog die Stecker
von Telefon und Sprechanlage heraus; die Lampe erlosch. Langsam, sehr
langsam näherte er sich der nächsten Polstertür, zögerte,
sie aufzustoßen, vergewisserte sich noch einmal seiner Waffe,
legte die Hand auf den Drehknopf, ließ sie einen Moment liegen,
um dann entschlossen die Tür zu öffnen und in den Nebenraum
zu springen.
Die Ausstattung unterschied sich kaum von der des Vorzimmers, abgesehen
von einem sehr breiten Sofa, auf dem zwei halbnackte Männer eine
nackte Frau betatschten. Die Köpfe fuhren zur Tür herum.
Eric zielte in Richtung des Sofas.
"Aufstehen, Hände hinter dem Kopf verschränken!"
ordnete er an.
"Was soll das?" fragte einer der beiden Männer, ein
feister Glatzkopf um die Vierzig. Der zweite Mann, ein hagerer Fünfziger,
stand widerspruchslos auf.
"Ich bin Adas Vater", erläuterte Eric, "und ich
werde sie herausholen."
"Das ist Unsinn", widersprach der Dicke.
Eric schoß an die Wand neben dem Feisten, daß ihm versengter
Putz in den Nacken spritzte. Der Dicke schnellte hoch, als wäre
er gewichtslos, und gesellte sich zum Hageren.
"Was bringt Sie... was bringt dich darauf, daß ich raus
will?" fragte Ada. Sie setzte sich auf, griff nach ihrer Unterwäsche.
"Willst du etwa nicht raus?" Eric war fassungslos.
"Die Frage ist falsch gestellt." Ada zog sich die Schlüpfer
an, dann ein T?Shirt.
"Was hätte ich fragen sollen?"
"Du hättest fragen sollen, was mich draußen erwartet.
Ich muß mich verstecken, alle Pigs der Welt hetzen mich. Eines
Tages kriegen sie mich auch. Dann geht es gleich ab in den Reaktor.
Das alte Leben war an dem Tag vorbei, als ich festgenommen wurde.
Ich kann nicht einfach rausgehen und so tun, als wäre nichts
gewesen. Zwei Jahre haben sie mir gegeben, das heißt, daß
ich eine Chance habe. Sie ist klein, aber vorhanden. Wenn ich ausbreche,
werde ich nicht alt." Ada zog sich ihre Bluse über, schlüpfte
in die Jeans.
"Weißt du, was ich riskiert habe, um hereinzukommen?"
"Du wirst es mir sicher erzählen."
"Also kommst du mit?"
"Es bleibt mir nichts anderes übrig. Was hast du mit diesen
Pfeifen vor?" Sie deutete auf die beiden lächerlichen Figuren
in Unterwäsche.
"Nichts Spezielles."
"Aber ich. Verloren sind wir sowieso. Da können wir ihnen
ruhig zeigen, was wir von ihnen halten."
"Willst du sie umbringen? Wer sind sie überhaupt?"
"Sie sind Schweine, ekelhafte, widerliche, nach Schweiß
und Scheiße stinkende Schweine. Wir sollten ihnen die Borsten
versengen."
"Ich ahne, was du meinst. Willst du es selber machen?"
"Nein, bitte nicht", sagte der Dicke zitternd.
"Natürlich", Ada stellte sich direkt vor Eric auf,
blickte ihn herausfordernd an.
Er drückte ihr seine Waffe in die linke Hand. Ada ging zu den
Witzfiguren.
"Umdrehen", ordnete sie an. "Hände oben lassen.
Wer wird sich denn in die Hosen pinkeln, Langer! Runter mit den Buxen!"
Der Hagere griff zögernd nach seinen nassen Schlüpfern.
"Geht nicht zu weit!" warnte der Dicke.
"Sind sie nicht komisch?" Ada wandte sich zu Eric um, grinste
ihm zu - und ohne Warnung warf sie den Laser in ihre rechte Hand,
hob ihn, schoß. Eric brach zusammen.
"Gott sei Dank", sagte der Dicke. "Her mit dem Ding."
Er entriß Ada den Laser.
"Nicht so grob!" wehrte sich das Mädchen. "Schließlich
habe ich euch gerettet."
"Dafür sind wir dir auch dankbar", sagte der Hagere,
wegen der Scham über seine durchnäßten Schlüpfer
besonders grimmig. "Du kommst nicht in den Reaktor, sondern in
die Müllsortierung."
"Ich weiß nicht, was dich so milde stimmt", der Dicke
schüttelte belustigt den Kopf. "Ich schlage vor, wir werfen
sie und ihren Erzeuger in den Sondermüll. Das scheint mir die
sauberste Lösung zu sein."
"Siehst du nun, daß du auf das falsche Pferd gesetzt hast?"
fragte Eric, während er sich aufsetzte.
"Ei schau an, der Herr lebt." Der Dicke fühlte sich
stark mit dem Energiewerfer. Er zielte auf Eric.
"Ehe Sie sich zu Fehlern hinreißen lassen, sage ich Ihnen
Gesetz und Ordnung!"
"Immerdar!" antwortete der Dicke automatisch. "Wollen
Sie damit sagen, daß Sie von der Regierung sind?" Die Mündung
des Lasers sank in Richtung des Fußbodens, als Eric aufstand.
"Was meinen Sie, wie ich sonst hier hereingekommen wäre?
Übrigens bin ich nicht nur irgendein Kontrolleur, sondern der
neue Direktor." Festen Schritts ging er auf den Dicken zu, blieb
vor ihm stehen und sah ihm direkt ins Gesicht. "Ich prüfe
die Sicherheitsvorkehrungen. Ausgesprochen lächerlich, wenn Sie
mir die Bemerkung erlauben. Es war fast ein Spaziergang hinein in
das Zentrum der Macht. Um Ihr Mißtrauen - es ist durchaus angebracht,
nur kommt es zu spät ?, um Ihr Mißtrauen zu zerstreuen,
sage ich ihnen, daß ich weiß, seit Mitternacht gilt eine
neue Losung. Da ich bereits gestern abend aufbrach, um diesen Test
zu organisieren, ist sie mir noch nicht bekannt."
"Irgendwas stimmt hier nicht!" sagte der Hagere finster.
"Ich weiß nicht..." erwiderte der Dicke unschlüssig.
Eric entriß dem Dicken seine Waffe. "Damit Sie nicht auf
dumme Gedanken kommen."
"Ich habe dich gewarnt!" bemerkte der Hagere ärgerlich.
"Nimm mich mit raus!" meldete sich endlich wieder Ada zu
Wort.
"Welchen Grund sollte ich dafür haben? Du schießt
auf mich. Hast du mich für so blöd gehalten, dir eine scharfe
Waffe in die Hand zu geben! Das allein gehört bestraft!"
"Aber ich habe gesehen, daß du nur die kleine Kraft eingestellt
hast, so wie ich mir denken kann, daß du einen Panzer trägst.
Ich wollte nur feststellen, wie sich die Kerle verhalten."
"Ich war auf eine originellere Ausrede gefaßt. Na schön,
nun weißt du es. Macht es dich glücklich?"
"Nimm mich mit!"
"Nein."
"Soll das heißen, Sie sind nicht wirklich der neue Direktor?"
fragte der Dicke, der dem Wortwechsel verständnislos gelauscht
hatte.
"Halts Maul!" fuhr Ada ihn an. Sie wandte sie sich wieder
Eric zu. "Bitte, verzeih mir. Nimm mich mit."
"Nein."
"Du wirst draußen einsam sein."
"Sind wir nicht alle einsam?" Eric zerschoß den Computer
und die Sprechanlage; Trümmerstücke prasselten an die Wände.
Erschrocken warfen die Männer sich auf den Boden, legten die
Hände über den Kopf.
"Die Ordnung siegt", sagte Ada zu den beiden Männern
in Unterwäsche.
"Immerdar", antwortete der Dicke automatisch. Vorsichtig
richtete er sich auf, blickte sich ängstlich um. Zu seiner Verblüffung
war der Eindringling verschwunden. Der Dicke erhob sich. "Moment.
Das ist die neue Losung. Vereinbart haben wir sie vor zwei Stunden.
Du kannst sie gar nicht kennen, du warst noch in der Zelle. Es sei
denn..."
"Ich bin der neue Direktor", sagte Ada. "Und jetzt
unternehmt endlich was!"
"An Direktoren herrscht offenbar kein Mangel", bemerkte
der Hagere sarkastisch. Er stand auf, bemüht, so würdevoll
auszusehen, wie das mit bepinkelten Unterhosen möglich war.
"Haltet ihn auf!" forderte Ada scharf.
"Deinen Vater?" fragte der Dicke verständnislos.
"Vater? Ich habe ihn nie zuvor gesehen. Du kennst doch meine
Akte. Zwar ist sie gefälscht, aber das erfährst du erst
in dieser Sekunde. Für dich bin ich ein Waisenkind, oder sollte
es zumindest sein, wenn du deine Unterlagen kennen würdest. -
Also los, aufhalten."
"Wie denn?" fragte der Dicke hilflos. "Und überhaupt
- wie kannst du Direktor sein? In deinem Alter? Ich bin der Direktor.
Du bist eine Gefangene, ordnungsgemäß verurteilt. Ich blicke
nicht mehr durch."
"Hast du jemals durchgeblickt? Du amtierst nur. Wenn uns der
Kerl entkommt, verschwindest du im Reaktor."
"Egal, wer sie ist, ich stopfe ihr das Maul", sagte der
Hagere. "Wir können es ihm in die Schuhe schieben."
Hastig nickte der Feiste Gewährung. Der Hagere sprang Ada an.
Er legte ihr die Hände um den Hals, drückte fest zu. Plötzlich
brach er zusammen, ohne noch einen Laut ausstoßen zu können.
Ada zog einen blutigen Nadeldolch aus seinem Herzen und steckte ihn
zurück in den Gürtel ihrer Jeans.
"Hör zu", sagte sie zu dem entgeisterten Dicken, "ich
bin dein Chef. Ich bestehe darauf, daß du was gegen meinen angeblichen
Vater unternimmst."
"Du hast Frank erstochen!"
"Das ist mir aufgefallen."
"Warum bist du als Gefangene eingeliefert worden?"
"Um meine Einrichtung kennenzulernen. Ich muß dir sagen,
daß die Sicherheit hier zu wünschen übrig läßt.
Da kann ich dem anderen Direktor nur zustimmen."
"Warum hast du dich von uns bestei..., äh, ich meine...
als unsere Chefin?"
"Weil es mir Spaß macht. Beweg deinen fetten Arsch. Mach
endlich Action!"
"Ich kann niemanden verständigen. Hier ist alles kaputt."
"Wir wissen, daß du kannst."
"Was wißt ihr?"
"Supercontrol."
"Woher...? Was soll das sein?"
Ada lächelte überlegen. "Du meinst doch nicht im Ernst,
daß du die Regierung austricksen kannst, du Würstchen.
Die drei Physiker in deiner Einrichtung leben erstaunlich lange -
schon vier Jahre. Also sind sie weder im Reaktor noch im Müll,
für Sexspiele sind sie nicht schön genug, als Kalfaktoren
nicht kräftig genug. Wir haben herausgefunden, wie ihr sie beschäftigt,
dein urplötzlich verstorbener Vorgänger - da hast du wohl
nachgeholfen, Fettwanst? -, du und dieser alte Widerling." Sie
deutete auf den Toten. "Du hast es geheim gehalten, also wolltest
du es für dich nutzen - gegen die vom Volk gewählte Regierung.
Wir werden das untersuchen, ja, wir sind schon dabei. Vor allem deswegen
bin ich so unkonventionell hergekommen. Wenn du uns den Kerl lieferst,
sperren wir dich nur ein Jahr ein, das verspreche ich dir. Ein Jahr
- das heißt, daß du vielleicht am Leben bleibst! Nun unternimm
endlich was!"
"Kannst du - können Sie mir das wirklich garantieren?"
"Ich kann."
"Egal, was ich getan habe?"
"Was es auch sei, mein angeblicher Vater ist gefährlicher.
Er hat es geschafft, in das größte Gefängnis Europas
einzudringen - eigentlich ist das unmöglich. Wir müssen
ihn kriegen!"
"Sie sind Achtzehn laut Akte, und selbst wenn das nicht stimmt:
Älter als Zwanzig sind Sie auf keinen Fall. Auf Sie wird keiner
hören. Nicht mal dann, wenn Sie wirklich der Direktor... die
Direktorin sind."
"Du scheinst nie fernzusehen, Fettwanst, oder nur Sexfilme. Erkennst
du mich immer noch nicht? Ich bin die Tochter des Innenministers!"
Da kam ein Mann ins Gefängnis spaziert, vorbei an Hochspannungszäunen,
Alarmanlagen, Kameras, Wächtern, kam einfach herein, um seine
Tochter herauszuholen, die ihn jedoch niederschoß. Er kannte
die alte Losung, das Mädchen sogar die neue, vereinbart auf abhörsicherer
Leitung, die beiden mußten wirklich von der Regierung beauftragt
sein, oder wenigstens einer von ihnen, das Mädchen wohl, vorgeblich
oder tatsächlich Tochter des Innenministers (hatte der überhaupt
Kinder?), das nun auf der Verfolgung des vorgeblichen Vaters bestand,
nachdem es den Chef der Wachtruppen, dessen Aufgabe die Verfolgung
gewesen wäre, erstochen hatte. Nichts ergab einen Sinn.
Der Dicke gab sich trotz seiner Zweifel geschlagen. Die Ereignisse
konnte er sich absolut nicht erklären. Genau betrachtet, waren
sie schlicht unmöglich. Schnaufend rückte er das Sofa von
der Wand. Dahinter war ein länglicher Duschenhebel verborgen,
an dem er zog. Auf der schmalsten Seite des Zimmers drehte sich die
gesamte, immerhin vier Meter breite Wand um eine unsichtbare Achse.
"Dort entlang", sagte der entmachtete Direktor. Und: "Ich
würde mich gern anziehen."
"Wir haben keine Zeit zu verlieren!" widersprach Ada. "Vorwärts!"
Hinter der Wand lag nicht, wie sie erwartete, eine geheime Schaltzentrale,
sondern ein kahles, unmöbliertes Zimmer, aus dem eine Tür
auf einen schmalen Gang führte, der kaum beleuchtet war. Vor
einer Metalltür blieben sie stehen.
"Ich habe meinen Schlüssel vergessen", der dicke Direktor
wollte umkehren.
"Keine Tricks!" warnte Ada. "Reiß dich zusammen,
sonst denke ich am Ende noch, daß du mit diesem Terroristen
unter einer Decke steckst. Ich bin weder blind noch blöd."
Mit dem Kopf wies sie auf den schwarzen Kasten neben der Tür.
"Ich? Ach..." Resigniert klappte der Dicke den kleinen Kasten
auf, drückte eine Tastenkombination. Endlich betraten sie die
geheime Zentrale.
Drei Männer in Gefangenenkleidung saßen vor Bildschirmen,
die im Unterschied zu allen anderen im Gebäude funktionierten.
Auf einem war - der Infrarotabtastung wegen stilisiert, doch zu erkennen
- eine Schießerei zwischen Tevids und Wachpersonal zu sehen;
vier Personen lagen reglos am Boden, die anderen hatten sich verschanzt
oder versteckt. Die größte Wärmequelle war die Wand
seitlich der Infrarotkamera: Dort verglühte die Elektronik.
Die drei Männer blickten zur Tür, höchst erstaunt,
den Direktor in Unterhosen zu sehen, begleitet von einem ihnen fremden
Mädchen.
"Warum greift ihr nicht ein?" fragte der Direktor. Mit waagerecht
ausgestrecktem Arm, wie die Feldherren auf alten Denkmälern,
deutete er auf den Monitor.
"Ohne Befehl?" fragte einer der Physiker zurück. "Wir
sollen die Anlage doch noch geheimhalten!"
"Wenn das Gefängnis gestürmt wird, ist sie nicht mehr
geheim. Wenigstens Alarm hättet ihr geben müssen!"
"Das ist selbstverständlich geschehen, Chef. Sie haben ihn
nicht beachtet, ja, irgendwann sogar den Stecker der Sprechanlage
herausgezogen."
"Rede keinen Unsinn."
"Also geben Sie uns den Befehl zum Eingreifen?"
"Ja."
"Sie wissen, daß die Wächter ebenfalls sterben werden?"
"Dann bestrahlt sie nur kurz."
"Das ist keine Garantie fürs Überleben."
"Erledigt sie endlich!"
"Nur nichts überstürzen!" sagte Eric von der Tür
her. Er betrat die Zentrale, den Laser in der Hand. "Wollt Ihr
wirklich die Jugendlichen ermorden? Ihr seid doch Gefangene!"
"Wir haben keine Wahl."
"Jetzt schon, denn ich bin da."
"Wer sind Sie?"
"Wer ich bin, tut nichts zu Sache. Wichtig ist, was ich bin:
Jemand, der sich dem Mitmachen widersetzt. Die perfekte Überwachungs-
und Tötungsmaschinerie in den Händen solcher Typen wie dem
da - wißt Ihr, was dabei herauskommt?"
"Ist nicht alles Gewalt und Tod? Das ganze Leben? Überall
auf der Welt? Wird irgendetwas besser, wenn Sie dem Dicken sein Spielzeug
wegnehmen? Dann erfindet anderswo ein anderer ein Spielzeug, oder
die Regierung macht es auf die konventionelle Weise, indem sie uns
einsperrt, bis wir uns totgearbeitet haben. Wen kümmert es, ob
jemand jetzt oder später stirbt? Wir längst tot, alle, nur
daß es die meisten einfach nicht mitbekommen. Das da",
er deutete auf den Monitor, "sind vermutlich Tevids. Welche Lebenserwartung
haben sie in dieser Gesellschaft? Auf dieser Welt? Von hier aus betrachtet
sind es nicht mal menschliche Individuen. Sehen Sie, ich drücke
auf einen Knopf. Es geschieht nichts weiter, als daß irgendwo
ein paar Bildschirmfiguren in sich zusammenfallen..."
"Nein!" schrie Eric, denn der Physiker tat, was er sagte.
Alle Bildschirmfiguren krümmten sich am Boden. Gleichzeitig mit
Erics Schrei warf Ada den Nadeldolch, den ihr Eric bei der Laserübergabe
heimlich zugesteckt hatte.
Der Physiker rutschte vom Drehstuhl, richtete sich noch einmal auf,
um das Mädchen ansehen zu können.
"Danke", sagte er, als sie ihm den Dolch aus dem Rücken
zog. "Danke. Endlich ist es..." Sein Kopf klatschte auf
den Boden.
"... vorbei", vollendete Ada den Satz.
"Auf welcher Seite stehen Sie denn?" fragte verzweifelt
der Direktor.
"Auf der richtigen. Mach Schluß, Eric."
"Sie sind tot! Alle! Zwölf junge Menschen..." Eric
konnte seinen Blick nicht vom Monitor lösen.
"Nein", meldete ein anderer Physiker, ein bulliger Mann
mit quäkender Stimme. "Da kommen zwei von draußen
rein." Er deutete auf den entsprechenden Monitor. "Und die
anderen", fügte er servil hinzu, "leben vielleicht
auch noch, wenn sie eine zähe Konstitution haben... Wenigstens
einige! Ehrlich! Das war doch bloß Ultraschall!"
"Keine Gefühlsduselei, Eric", sagte Ada, ohne auf das
Geschwätz zu achten. "Du hast gewußt, worauf wir uns
einlassen. Meinst du, es war mir angenehm, mich mit diesen perversen
Schweinen zu wälzen? Du hast dir den Plan ausgedacht, nun bring
ihn zu Ende!"
"Sie werden uns doch nicht kaltblütig erschießen wollen!"
Der Direktor, wich, indem er zu Eric sprach, in Richtung des Schaltpults
zurück. "Auf meine Art bin ich genau so ein Widerstandskämpfer
wie Sie. Die Regierung weiß nichts von dieser Anlage. Ich wollte
sie stürzen, das können, das müssen Sie mir glauben.
Die Gesellschaft funktioniert nicht mehr, das weiß inzwischen
fast jeder. Ich habe nach Mitteln gesucht, sie zu verändern.
Und ich habe sie gefunden! Neue Gesetze will ich in diesem Lande schaffen.
Ich will..."
Ada war wiederum schneller als Eric. Sie schleuderte ihm den Nadeldolch
in die Brust, gerade als er rückwärts nach einem Schalter
griff.
"Ihr seid nicht besser als der", sagte der dritte Physiker,
als Ada - zum zweiten Mal in kaum fünf Minuten - ihren Dolch
aus einer Leiche zog. "Es gibt keine Ultraschallkanone in diesem
Raum. Der Mord war gänzlich unnötig."
"Sicher ist sicher", Ada steckte den Dolch in ihren Gürtel
zurück.
"Die Regierung tötet für Macht, die sie als Recht,
Gesetz, Ordnung bezeichnet, der Dicke für private Ambitionen,
ihr mordet für Eure gute Sache, was immer ihr so nennen mögt.
Ein Teufelskreis der Gewalt und der guten Sachen."
"Du langweilst mich, Sabbelphilipp", unterbrach ihn Ada.
"Kann schon sein, daß wir die Welt nicht besser machen.
Typen wie du jedenfalls machen sie schlechter."
Eric beobachtete auf dem Monitor die Tevids. Sie rührten sich
nicht unter der Berührung der beiden Unversehrten. Aus der Entfernung
konnte er ihnen nicht helfen, falls ihnen überhaupt zu helfen
war. Zögern brachte niemandem etwas ein. Möglicherweise
registrierte irgendwo eine Zentrale den Ausfall der Gefängniselektronik,
setzte Polizeitruppen in Marsch. Er stellte die größte
Leistung ein, richtete den Werfer auf das Schaltpult. Der nadelscharfe
Strahl fraß sich in die Eingeweide der Maschine hinein. Die
Physiker sprangen auf, als ihnen Fontänen geschmolzenen Metalls
in die Gesichter spritzten. Der Bullige kam noch rechtzeitig weit
genug weg, der andere war nicht schnell genug. Seine Haare flammten
auf, doch anstatt zu versuchen, sie zu löschen, griff er sich
mit beiden Händen vor die Stirn und schrie, er konnte nicht aufhören.
Langsam wandte er sich um. Die Hände sanken herab. Ein verkohltes,
blutüberströmtes Gesicht ohne Augen, darüber der schwarze,
nackte Schädel. In der rechten Augenhöhle schwelte Fleisch;
ein Tropfen flüssigen Metalls fraß sich durch Haut und
Knochen in das Gehirn hinein. Wahnsinnig vor Schmerzen, brüllend
wie ein Tier streckte der Mann die Arme aus, taumelte gegen Ada, die
vor Grauen schrie, krallte sich fest, riß sie an sich. Sie sah
die blutigen Löcher direkt vor sich, den eitrigen Schleim, der
aus der rechten Höhle rann; sie begriff, daß dies sein
Gehirn war. Noch lauter schrie sie, stieß ihn von sich, schlug
mit den Fäusten in seinen Bauch, doch das verstümmelte Gesicht
kam näher, näher, der Physiker heulte, blies ihr seinen
Atem in die Nase, der so faulig roch, als würde der Mann bereits
lebendigen Leibs verwesen. Sein Kopf schlug gegen den ihren, Blut
und Hirn spritzten auf ihre Stirn, liefen ihr in den zum Schreien
weit geöffneten Mund. Endlich war Eric heran, zerrte ihn zurück.
Er ließ das Mädchen los, taumelte durch den Raum und obwohl
er die Hitze spüren mußte, stürzte er in das brennende
Schaltpult. Mit lodernden Kleidern richtete er sich auf, hob die Hände,
die in der Hitze wie Luftballons zerplatzten, dann fiel er vornüber.
Seine Schreie verstummten. Ada übergab sich. Eric strich ihr
über den Kopf. Sie schüttelte seine Hand ab, wischte sich
mit einem Zipfel ihres T-Shirts das Gesicht ab und blickte sich dann
im Raum um. Ihre Wangenmuskeln zuckten krampfartig; der Blick flackerte
irre. Eric erschrak davor.
Der letzte noch lebende Physiker, der Bullige mit der quäkenden
Stimme, hatte sich in eine Ecke gedrückt; unter Adas Blick zog
er sich noch weiter zurück, als wollte er in der Wand verschwinden.
Sie blickten sich an, bis der Physiker das Schweigen nicht mehr ertrug.
"Bringt ihr mich jetzt auch um?" fragte er mit zitternder
Stimme.
"Weißt du, wie die Anlage funktioniert?" Eric deutete
auf die Trümmern.
"Nein. Ich... Ich bin bloß Techniker. Ich habe die Chips
zusammengesetzt. Nach ihren Plänen. Das hätte genausogut
ein Mikrowellengrill sein können. Ich weiß nichts, absolut
nichts. Ehrlich..."
Ada verzog vor Ekel das Gesicht. Sie hob den Arm mit dem Dolch, ließ
ihn jedoch wieder sinken. "Ich kann nicht, Eric. Es ist genug.
Genug für mich. Er ist unbewaffnet, und... Aber er muß
weg! Er muß!" Ihre Wangenmuskeln zuckten noch immer.
"Ich weiß." Eric richtete die Waffe im Hüftanschlag
auf ihn. "Warum sind Sie nicht ausgebrochen? Von hier aus konnten
Sie sich den Weg freiräumen, wenn Sie unter sich und unbewacht
waren. Warum haben Sie mitgemacht? Warum? Sie wären sicher entkommen.
Jetzt müssen Sie sterben."
"Was maßen Sie sich an!" schrie der vorgebliche Techniker
in seiner hysterischen Angst. "Sind Sie der Herr über Leben
und Tod? Sind Sie Gott?"
Eric schloß die Lider. Vor sich sah er die Clownsgesichter der
Tevids, Masken verzweifelten, grimmigen Übermuts; sie hatte er
gefürchtet bei der Begegnung am Abend, ausgerechnet sie, weitaus
mehr als die Biedermänner im Gefängnis. Verletzt oder getötet
durch einen Knopfdruck, den sinnlosen Knopfdruck eines lebensmüden
Zynikers, für den sich die Welt auf Bildschirmfiguren reduzierte.
Eric krümmte seinen rechten Zeigefinger, lauschte dem Zischen
des Strahls. Als er die Augen wieder öffnete, lag der Techniker
in zwei Hälften am Boden. Der abgetrennte Oberkörper war
neben die Beine gerutscht.
"Ja", sagte Eric leise, "heute bin ich Gott."