Selbstbefragung
Ich bin ein eher unpolitischer
Mensch. In die Opposition ging ich nicht aus politischer, sondern aus
moralischer Empörung. Aus der sicheren Entfernung hielt ich das,
was ab 1985 in der Sowjetunion unternommen wurde, für den Versuch,
den erträumten Sozialismus mit menschlichem Antlitz zu schaffen.
Die hausgemachte Erstarrung und die Verweigerung von Glasnost in der
DDR bedrückten mich.
Ich hatte einen durchschnittlichen Entwicklungsweg genommen, ehe ich
begann, mich dem Trott des Gewohnten zu widersetzen. Mein Vater war
Fährmann, meine Mutter Näherin, später Platzanweiserin.
Mein Bruder starb als Baby. Ich wurde gezeugt, als mein Vater aus französischer
Kriegsgefangenschaft heimkehrte. Die Eltern waren nicht sonderlich fromm,
aber als ich in der 2. Klasse zu den Pionieren wollte, mußte ich
meiner Mutter eine Erklärung unterzeichnen: Ich schwöre, daß
ich auch an Gott glauben werde, wenn ich bei den Pionieren bin. So begann
das DDR-typische Doppelleben. Ich ging zur Christenlehre, zur Jungschar
und zum Pioniernachmittag. Bei der Jungschar stieg ich auf zum stellvertretenden
Gruppenhelfer, in der Schule gar zum stellvertretenden Freundschaftsratsvorsitzenden.
Bei den Pionieren brillierte ich mit Wandzeitungsartikeln über
die Notwendigkeit der Kernkraft, in der Christenlehre mit philosophischen
Erörterungen über die Schöpfung des Universums, und in
der Jungschar wurden spannende Geschichten erzählt. Solange alles
interessant war, hatte ich damit keine Probleme. Man gewöhnt sich
an die alltägliche Schizophrenie. Die Junge Gemeinde hingegen langweilte
mich. Wir sangen fromme Lieder und hörten Altbekanntes vom Herrn
Jesus. Dafür war mir meine Zeit zu schade. Ich fraß mich
lieber durch Berge von Büchern. Karl May und Franz Kafka, Alexandre
Dumas und Thomas Mann. Fast alles, was ich weiß, habe ich gelesen.
Mit 18 stand ich vor der Wahl, Pfarrer oder Parteijournalist zu werden.
Da ich inzwischen angesichts des Zustandes der Welt trotz meines kindlichen
Schwures Mühe hatte, an Gott zu glauben, entschied ich mich für
letzteres. Ich bewarb mich bei der "Märkischen Volksstimme"
Potsdam als Volontär und wurde angenommen. Das Volontariat wurde
durch die Einberufung zur Armee unterbrochen. Das war 1968. Damals ahnte
ich noch nichts von Wehrdienstverweigerung. Auch hatte ich mir die Armeezeit
trotz ausgiebiger Lektüre nicht so schlimm vorgestellt, wie sie
mich dann traf. Daß die unaufhörlich brüllenden, dummen
Unteroffiziere auf einmal Macht über mich hatten, ertrug ich nicht.
Am ersten Tag war ich wegen mehrerer Befehlsverweigerungen in der gesamten
Kompanie bekannt, am zweiten im ganzen Regiment: Ich hatte mich in einer
heute unaufklärbaren Mischung aus Dilettantismus, Verzweiflung,
Appell an die Gesellschaft und Krull-Pose vergiftet. Immerhin ersparte
ich mir die Ausbildungskompanie, da ich einen Monat im Krankenhaus und
in einer Nervenklinik verbrachte. Die restlichen 17 Monate überstand
ich, weil ich als Suizidgefährdeter Narrenfreiheit genoß.
Eine bezeichnende Szene: An einem der ersten Tage in der neuen Dienststelle,
noch hatte ich nicht mitbekommen, daß wir antreten und in Kolonne
essen gehen mußten, schlenderte ich zum Speisesaal hinüber.
Ein mir fremder Offizier kam mir entgegen. Ich machte mir nichts aus
Fremden und wollte vorbei. Er stoppte mich barsch:
"Wissen Sie nicht, daß man Vorgesetzte grüßen
muß?"
"Äh..."
"Hatten Sie keine A-Kompanie?"
"Nein."
"Dann sind Sie wohl Mechtel?"
"Ja."
"Na, herzlich willkommen bei uns!" Strahlend drückte
er mir die Hand zur Begrüßung.
Seltsamerweise wurde mir nach einem Hilfssanitäterlehrgang die
Mitarbeit im Med.-Punkt angeboten, den ich bei einem dreimonatigen Ausfall
des Feldschers nach einer Kneipenschlägerei sogar leitete. Ich
hatte Zugang zum Medikamentenschrank und hätte mich jeden Tag vergiften
können.
Von der CSSR-Krise bekamen wir wenig mit. Die Radios wurden eingezogen.
Wir waren auf Armee-Publikationen angewiesen. Was wirklich geschehen
ist, erfuhr ich erst hinterher. Anderthalb Monate liefen wir mit 300
Schuß scharfer Munition herum und nahmen die Kalaschnikow mit
ins Bett. Der Krieg fand nicht statt. Jedenfalls nicht da, wo wir waren.
Als schwärmerischer Kafka-Verehrer sprach ich damals mit jedem,
der zuzuhören bereit war, über den Meister. Eines Morgens,
ich stand Außenposten, kam mein Hauptwachtmeister vorbei.
"Was waren das für Texte, die Ihnen der Offizier vom Dienst
gestern abgenommen hat?" fragte er mich.
"Er hat mir nichts abgenommen, ich habe sie ihm geborgt",
stellte ich richtig und klärte ihn auf: "Es waren Aphorismen
von Franz Kafka."
"Woher hatten Sie die?"
"Abgeschrieben aus einem Buch, das ich in der Bibliothek ausgeliehen
habe."
"Sagen Sie, haben Sie mir nicht mal erzählt, daß Kafka
schon tot ist? Wann ist er denn gestorben?"
"1924, Genosse Hauptwachtmeister."
"So! Der Kommandeur hat gestern auf der Offiziersversammlung gesagt,
daß Kafka der Führer der tschechischen Konterrevolution ist.
Na, da können wir aber lachen!" Was er ausgiebig tat.
Die verborgten Texte, die auf einmal beschlagnahmt waren, erhielt ich
zwei Monate später, mit einem notdürftig gelöschten Aktenzeichen
versehen, wieder zurück, bei einer Abzeichenprüfung für
Gutes Wissen. Im gleichen Zusammenhang wurde ich für die Partei
geworben, weil ich im Polit-Unterricht positiv aufgefallen war. Die
primitiven "Hier-gibt-es-keine-Bananen-und-keine-schönen-Autos"-Diskussionen
meiner Kameraden widerten mich an; ich konnte gar nicht anders, als
dem Polit-Offizier beizuspringen im vergeblichen Versuch, das geistige
Niveau der Veranstaltungen zu retten. So wurde ich in einer Zeit, da
anderenorts die Jugend rebellierte, Mitglied der staatstragenden Partei.
Von 1970 bis 1974 studierte ich Journalistik in Leipzig. Ich war Parteigruppenorganisator,
bis ich im zweiten Studienjahr wegen zu geringem Durchsetzungsvermögen
(wegen Schlamperei, hieß es) abgesetzt wurde. Während des
Studiums heiratete ich. Meine Frau und ich wurden von der Einsatzkommission
des ZK der SED in die Prärie geschickt, zur "Freien Erde"
nach Neubrandenburg. Ich wurde Lokalredakteur in Altentreptow, meine
Frau schwanger. In der Lokalredaktion war ich Parteisekretär einer
Drei-Personen-Grundorganisation. Das hinderte mich nicht daran, Bahros
damals als Samisdat in der DDR kursierende "Alternative" zu
lesen; die Fotokopie hatte ich selbst heimlich in der Redaktion hergestellt.
Witzigerweise lag das frisch abgelichtete Manuskript in meiner Aktentasche,
als ich zur Kreisleitung bestellt und vom Sekretär für Agitation
und Propaganda über einen antikommunistischen Westspion namens
Bahro aufgeklärt wurde. Die Schizophrenie blieb Alltag.
Von den Ereignissen um Wolf Biermanns Ausweisung bekam ich wenig mit
-in Neubrandenburg konnten wir nur das DDR-Fernsehen empfangen; eine
Einsatzgruppe bewußter Bürger hatte die Außenantennen
am Neubaublock abmontiert. Die Kampagne in den Medien widerte mich an,
und als ich mich um eine Kandidatur im Schriftstellerverband bewarb,
ließ ich zwei Kollegen für mich bürgen, die auf der
zweiten Pro-Biermann-Liste unterschrieben hatten. Aufgenommen wurde
ich trotzdem.
Die Pressearbeit ertrug ich von Anfang an nur schwer. Nicht, daß
wir direkt Unwahrheiten verbreiteten - das meiste stimmte schon irgendwie.
Aber über vieles durfte überhaupt nicht geschrieben werden.
Entscheidungen und Funktionäre der Partei waren tabu. Einmal erreichte
ein hektographiertes Rundschreiben die Lokalredaktion: Im "Sonntag"
habe ein Artikel von Fred Gehler über die DEFA-Filme seit dem VIII.
Parteitag der SED gestanden, in dem der Autor Niedergang statt Aufstieg
konstatierte. In der Art dürfe auf keinen Fall berichtet werden.
Ich bewarb mich bei mehreren Verlagen als Lektor. Als Parteijournalist
war ich Nomenklaturkader der Bezirksleitung der SED (was immer das bedeuten
mag). Niemand wagte, mich einzustellen, aus Furcht, sich mit der Partei
anlegen zu müssen, wenn er mir Kündigungsvorwände liefert.
Mir blieb nach den drei Pflichtjahren nichts übrig, als freischaffend
zu werden, ohne eine Ahnung, wovon ich künftig meine Familie ernähren
sollte. Denn nur ich verdiente Geld; meine Frau hatte die Geburt unseres
Sohnes für einen Aufhebungsvertrag genutzt. Als ich frei war, wollte
der Mitteldeutsche Verlag mich sofort einstellen, aber meine Frau sagte:
nie nach Halle. Ein Jahr später ließen wir uns scheiden.
Sie wohnt seitdem in Halle.
Ich zog nach Potsdam zu meiner Mutter zurück und lebte so frei,
wie es eben möglich war, als Gutachter für Belletristik und
Literaturkritiker. Ich war Mitbegründer einer freien Puppenspielergruppe,
die es als Untergrund-Theater "Zinnober" zu Ruhm brachte und
inzwischen zur lebenden Legende wurde, allerdings ohne mich, denn 1983
verließ ich die Gruppe aus privaten Gründen. Ich begann zu
schreiben. Den ersten Roman hatte ich übrigens mit 10 Jahren verfaßt:
ein Abenteuer-Epos, dem jedes Jahr ein weiterer Band folgte. Mit 16
war ich im Literaturzirkel bei Christa und Gerhard Wolf. Nach der vernichtenden
Kritik besonders des letzteren an einem meiner Krimis stellte ich das
Dichten für Jahre ein.
Meinen neueren Produktionen war zunächst auch kein Erfolg beschieden.
Ich sah die DDR zu unkonventionell, und ästhetische Schwächen
machten den Verlagen die Ablehnung leicht. Bis ich mich dann auf die
Krimi-Produktion verlegte, weil der renommierten DIE-Reihe durch Krankheit
und Tod ein paar Stamm-Autoren ausgefallen waren und Nachwuchs die Lücken
füllen mußte. Da wurde ich endlich ein gedruckter Autor.
Zwei Krimis erschienen ohne größere Probleme. Der dritte
hingegen lief sich 1988 im Verlag fest. Darin wird ein höherer
Funktionär ermordet, die Tat aus dessen Vergangenheit begründet,
in der er zwecks Aufstieg selber über Leichen gegangen war, und
ich zeigte viel Verständnis für den Mörder. Meine Lektorin
hielt das Manuskript für ästhetisch nicht ausgereift. Sie
verlangte eine neue Fassung. Ich schrieb sie. Sie mißfiel wieder.
Diesmal gab es ein Gespräch mit ihr und der Cheflektorin. Ich zeigte
mich halsstarrig, und da holte die Cheflektorin ein Blatt Papier vor
und redete Klartext. Es gehe weniger um die Story als vielmehr um zahlreiche
kleine böse Worte. Was soll das heißen, das "Jade"
im Palasthotel Berlin ein "Restaurant für Weiße"
zu nennen? Und das Marx-Engels-Denkmal gegenüber heiße im
Volksmund zwar tatsächlich "Sakko und Jacketti", aber
das aufzuschreiben sei geschmacklos, denn die beiden seien bekanntlich
ermordet worden (sie meinte wohl Sacco und Vanzetti). Und so weiter.
Als ich mich bereit erklärte, ein paar der inkriminierten Begriffe
streichen zu wollen, erklärte sie sich im Gegenzug bereit, die
zu erwartende nächste Fassung anzunehmen. Erschienen ist das Buch
"Unter der Yacht" dann doch erst 1991, als sich nicht nur
die Ästhetik geändert hatte. Mit meinen DEFA-Filmen ging es
mir nicht besser. Der erste, ein historischer Abenteuerfilm, in dem
es unter anderem um Piraterie auf der Ostsee ging, war zu teuer: Wenn
er wenigstens über den bei Funktionären beliebten Volkshelden
Störtebecker gewesen wäre! Der nächste, eine Antiutopie,
in der eine Gruppe versucht, aus ihrem Land abzuhauen, in dem es ihnen
nicht gefällt, entsprach, so Generaldirektor Mäde, "nicht
der Traditionslinie, die wir verfolgen".
Seit 1984 besuchten meine damalige Lebensgefährtin Gabriele Grafenhorst
und ich regelmäßig das zum Sommeranfang stattfindende Friedensseminar
in Sankt Jakob/Thüringen. 1986 stellten wir in der Kirche eigene
Beiträge vor. Eine Niederländerin hatte aus einem meiner Texte
zutreffend gefolgert, daß ich einmal Mitglied der SED gewesen
sein mußte. Sie fragte mich, ob ich es noch sei. Ich bejahte.
An peinlichen Situationen herrscht in meinem Leben kein Mangel. Das
war die peinlichste. Ich schämte mich meiner Feigheit. Ich wußte,
niemand ist leichter zu vernichten als ein freier Autor. Man druckt
einfach nichts mehr von ihm, und die Verlage, allesamt in Parteihand,
würden mich vielleicht nicht mehr als Gutachter beschäftigen.
Aber endlich war ich bereit, die Folgen in Kauf zu nehmen. Kurz danach
suchte ich den Parteisekretär des Bezirksverbandes Potsdam auf
und teilte ihm meinen Entschluß mit. Eine Versammlung wurde einberufen.
Ich begründete meinen Austritt damit, daß ich die Weigerung
der Parteiführung, sich auf Glasnost einzulassen, daß ich
die Abschottungs- und Einsperrungspolitik nicht akzeptiere. Durch meine
Mitgliedschaft in der SED heiße ich sie jedoch stillschweigend
gut. Ein alter Genossen krähte, er würde sich für die
Partei den Kopf abschlagen lassen, ein jüngerer, zynischerer machte
flapsige Bemerkungen, eine andere Genossin wünschte in einem Telefonat
nach der Versammlung, ich hätte meinen Austritt besser begründet,
weil sie nach Argumenten für den eigenen Abschied von der Partei
suchte. Anrührend war der Zuspruch der Tochter von Erich Weinert.
Sie erzählte mir, daß ihr Mann 1968 nach seiner Kritik am
Einmarsch in die Tschechoslowakei die Partei verlassen mußte.
Daran ging er zugrunde, wenig später starb er. Ich verstand, daß
sie mich davor warnen wollte, das zu verlassen, was sie für mein
Kollektiv hielt. Was ich ihr nicht sagen konnte damals war, daß
ich mich zum ersten Mal nicht mehr gespalten fühlte. Ich war frei.
So frei, daß ich die Regierung mit Verbesserungsvorschlägen
beglückte. Den Weg zu den Westmedien verschmähte ich. Der
westdeutsche Bedarf an Vorzeige-Dissidenten schien mir längst gedeckt
durch Leute, die im Unterschied zu mir tatsächlich etwas hatten
durchmachen müssen oder die mit lauterer Marktschreierstimme auf
ihre Ware Anderssein aufmerksam machten. Irgendwie glaubte ich noch
immer an die Ideale, um derentwegen ich in die Partei eingetreten war:
Gerechte Verteilung des Besitzes, Arbeit und Wohnung für alle,
Bewahrung der Schöpfung - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.
Und Schwesterlichkeit. Ende 1988, als der Entwurf des neuen Reisegesetzes
veröffentlicht wurde, verfaßte ich ein zehnseitiges Pamphlet,
das so scharf wurde, daß ich meinte, mich doch westwärtig
absichern zu müssen. Ich schickte, oppositionsunerfahren, wie ich
war, eine Kopie per Post an einen ausgesiedelten Freund in Westberlin,
der den Brief im Verhaftungsfalle den Westmedien übergeben sollte.
Der Brief landete natürlich im Archiv der Staatssicherheit, und
ein bereits gedrehtes Interview des Kulturmagazins mit mir wurde nicht
gesendet. Aber die Staatssicherheit hielt weiterhin still. Wissentlich
war ich bis zu diesem Zeitpunkt noch keinem Mitarbeiter des MfS begegnet.
Das blieb zunächst auch so, als ich am 8. Mai 1989 Mitglied einer
Jugendgruppe der offenen kirchlichen Arbeit wurde.
Als Literatur-Theoretiker habe ich mich auf Unterhaltung spezialisiert.
Damals lief in Sat 1 gerade die Kultserie "Max Headroom",
die mich nicht begeisterte. Am Montagabend rief Nils, der Sohn meiner
Lebensgefährtin, an: "Wenn Ihr euch für die Wahlen interessiert,
dann kommt zur Gruppe "Kontakte" in die Friedrichskirche."
Da sagte ich mir: Max Headroom kannst du unbesorgt verpassen. So wurde
ich ein Oppositioneller, weil mich das Fernsehprogramm langweilte.
Als ich am Morgen in der Zeitung die Wahlergebnisse las, hatte sich
mir der Magen umgedreht. Die Leute fluchten über die DDR, aber
dann rannten 98 Prozent zu den Urnen und wählten die Kandidaten
der Nationalen Front. Zum ersten Mal dachte ich ernsthaft an Ausreise.
Mit diesem Volk wollte ich nichts zu tun haben.
Die Mitglieder der Gruppe "Kontakte" hatten verschiedene Wahllokale
besucht und die Ergebnisse der öffentlichen Auszählung notiert.
Es stellte sich heraus, daß - hochgerechnet - in Potsdam etwa
10 Prozent mit Nein gestimmt hatten und 10 Prozent gar nicht hingegangen
waren. Das versöhnte mich mit dem Volk. Eine Wahlfälschung
war leichter zu ertragen als die Gesellschaft von Feiglingen und Heuchlern
(sagte ich mir, der ich selbst ein halbes Leben lang feige gewesen war
und geheuchelt hatte). Sofort begriff ich, daß sich die Regierung
einen nachweisbaren Fehler geleistet hatte, über den sie, wenn
man es richtig anstellte, fallen würde. Ich wußte aus eigener
Erfahrung, daß die Eingaben nichts einbringen würden und
daß wir am Ende des erlaubten Weges illegal demonstrieren mußten.
Weil ich das laut sagte, wurde ich zum Sprecher des radikalen Flügels.
Ich kam in Kontakt mit Berliner Oppositionellen, war Mitverfasser der
ersten Presseerklärung der DDR-Oppositionsgruppen zur Wahlfälschung,
initiierte eine Unterschriftensammlung (von der ein Blatt mit 30 Unterschriften
vom Direktor des Kirchlichen Oberseminars Hermannswerder, Schröder,
eingezogen und nicht wieder herausgegeben wurde, so daß wir am
Ende nur 78 Unterschriften abschicken konnten. Eine schriftliche Bitte
um Vermittlung an den damaligen Konsistorialpräsidenten Manfred
Stolpe blieb unbeantwortet.).
Die Gruppe "Kontakte" hatte die Berliner Presseerklärung
der Opposition nicht unterzeichnen können, weil niemand autorisiert
war, für sie zu sprechen. Auf der Rückfahrt im Auto überlegte
ich laut, daß man für so einen Fall eine besondere Gruppe
bräuchte, für die jeder sprechen kann. Acht Potsdamer waren
bei dem Treffen in der Berliner Kirche von unten anwesend. Gründen
wir eine Gruppe Acht, sagte ich, das ist auch gleich noch schön
doppeldeutig.
Gruppe Acht entwickelte durch die Initiative von Gabriele Grafenhorst
ein Eigenleben. Auf einmal existierte sie realer als der Sozialismus.
Zunächst zwar lichteten sich die Reihen wieder. Ein junger Mann
mit Studienverbot erhielt plötzlich das Angebot zur sofortigen
Ausreise und nahm es wahr. Andere hatten keine Lust mehr, als sich nichts
bewegte. Die Gruppe lebte weiter. Ute Platzeck, Detlev Kaminski, Volker
Wiedersberg, Suzann Hoppe, Nils Sahlmann, Gabriele Grafenhorst und ich
bildeten den Kern der zweiten Gruppe Acht. Wir wollten uns nicht länger
unter dem Dach der Kirche verstecken und trafen uns entweder in unserer
Wohnung oder in der von Ute Platzeck. Wir diskutierten Gesellschaftskonzepte.
Was wird nach der absolutistischen Herrschaft der SED sein? Ich wollte
den Kapitalismus nicht, aber mir war klar, daß eine DDR ohne führende
Rolle der SED weder Existenzberechtigung noch Existenzmöglichkeit
hat. Ich sah den Anschluß kommen. Insofern kann ich mich heute
leider nicht darauf herausreden, daß ich nicht wußte, was
ich tat. Die anderen übrigens widersprachen heftig. So sind sie
wohl unschuldiger als ich.
Natürlich wußte ich nicht, was Kapitalismus wirklich bedeutet.
Daß die Phrasen aus dem Staatsbürgerkundeunterricht Wahrheiten
wiedergaben, glaubte ich nicht, obwohl ich immerhin einmal herausgelassen
worden war. Mitte 1988 erfand ich das Projekt eines historischen Romans,
für den Recherchen im Schiffahrtsmuseum Amsterdam notwendig waren.
Dem schloß sich eine Lesung im Literarischen Colloquium Westberlin
an. Wider Erwarten hatten sie mich fahren lassen - vielleicht (schmeichle
ich mir) in der Hoffnung, ich werde wegbleiben. In den Niederlanden
wohnte ich bei Bekannten, die mir den Aufenthalt finanzierten (denn
ich hatte nur 40 DM mitnehmen dürfen auf die dreiwöchige Fahrt,
die ich mir zudem selbst irgendwie beschaffen mußte). Die weltoffenen
Niederlande beeindruckten mich durchaus. Das spießige Westberlin
hingegen (ich ahnte nicht, daß es die freieste Stadt der BRD war)
und meine verbürgerlichten Ex-Freunde enttäuschten mich so
sehr, daß ich froh war, hinter meine Mauer zurückkehren zu
dürfen. Als der Grenzer im Autobahnkontrollpunkt Drewitz/Dreilinden
meine Tasche filzte, fühlte ich mich wieder zu Hause. Nein, ich
wollte nicht im Westen leben, aber ich sah ihn auf uns zukommen. Und
die Leute rannten ja inzwischen in Scharen über die ungarische
Grenze davon.
Am 7. eines jeden Monats, dem Datum der gefälschten Kommunalwahlen,
veranstalteten Berliner Oppositionelle eine Mahndemonstration. Am 7.
7. 89 fuhren Volker Wiedersberg, Silke Führig (die manchmal zu
"Kontakte" kam) und ich nach Berlin. An der Weltzeituhr auf
dem Alexanderplatz, dem vereinbarten Treffpunkt, stand eine Menschentraube.
Etwa 2000 Stasileute, dazwischen, fast unsichtbar, knapp 400 Demonstrationswillige.
Die von den Organisatoren verständigte Westpresse wurde behindert,
eine Kamera des ZDF mit Lackspray außer Gefecht gesetzt. Nach
harmlosem Herumdiskutieren begannen die Verhaftungen. Direkt neben mir
wurde ein vielleicht 18jähriges zierliches Mädchen von zwei
Männern gepackt und weggeschleift. Das Mädchen schrie "Hilfe!
Hilfe!" Und mit Entsetzen in der Stimme: "Warum hilft mir
denn keiner?"
Und da unterlief mir die erste, einzige und wohl auch letzte Heldentat
meines Lebens. Ich konnte nicht anders, ich rannte den Männern
hinterher und rief: "Was soll das?" Ich wurde angerempelt,
mir wurden Beine gestellt, aber ich erreichte die drei fast, als mich
ein großer, sehr starker Mann am Arm packte und mit sich schleifte.
Ich blieb stehen, er zerrte, aber als ich sagte, ich komme so mit, ließ
er mich nach kurzem Überlegen los. Am Rande der Menge, vor einem
mit auf ihren Einsatz wartenden Zivilisten gefüllten Barkas, zeigte
er mir einen Klappausweis. Ich erkannte nur die Aufschrift "Ministerium
für Staatssicherheit". Dann mußte ich mich ausweisen.
Meine Hände zitterten. Immerhin wußte er offenbar nichts
über mich und hielt mich für einen zufälligen Passanten,
denn nach einer Belehrung ließ er mich laufen. Auf dem Alexanderplatz
finde eine polizeiliche Maßnahme statt. Ich dürfe den Platz
nicht mehr betreten. Da ich Silke und Volker suchte, kehrte ich von
der anderen Seite wieder zurück. Ein Pärchen sprach mich an:
"Wir kennen uns aus "Kontakte"." Ich kannte sie
nicht. Seltsamerweise wollten sie wissen, mit wem ich gekommen sei.
Daß ich hingegen kurzzeitig verhaftet war, interessierte sie nicht.
Spitzel, dachte ich und ließ sie stehen. Wenig später traf
ich Silke. Plötzlich stand der große Stasi-Mann wieder vor
mir. Der folgende absurde Dialog ist wortgetreu wiedergegeben; Silke
Führig und ich haben ihn kurz nach dem Gespräch gemeinsam
notiert.
Er: "Sie sind ja immer noch hier!"
Diesmal war ich auf die Begegnung vorbereitet und zitterte nicht mehr.
"Ich bin hier, um meiner Arbeit nachzugehen", sagte ich.
Sofort wurden wir sehr unauffällig von Stasileuten umstellt.
Er: "Sind Sie von der Presse? Zeigen Sie mir Ihren Presseausweis!"
Ich: "Ich bin Schriftsteller. Ich kann Ihnen meinen Verbandsausweis
zeigen."
"Verlassen Sie den Platz, sonst müssen wir Sie mitnehmen!"
"Ich will nur wissen, was hier los ist. Dann gehe ich."
"Verlassen Sie den Platz, sonst müssen wir Sie mitnehmen."
"Ich will nur wissen, was hier los ist. Dann gehe ich."
"Machen Sie, daß Sie wegkommen!"
"Nicht in dem Ton!"
"Das muß ich jetzt, weil Sie nicht hören wollen."
"Ich will doch nur wissen, was hier los ist."
"Da müssen Sie sich im Verband erkundigen."
"Ach. Sind die informiert?"
"Gehen Sie jetzt!"
"Sagen Sie mir, was los ist, und ich gehe sofort."
"Ich habe keine Zeit für Diskussionen."
"Sie haben viel Zeit, wie ich sehe."
"Vielleicht lesen Sie es morgen in der Zeitung."
"In welcher?"
"Verlassen Sie den Platz, oder sollen wir Sie mitnehmen?"
"Ungern. Ich möchte nur wissen, was hier los ist. Das gehört
zu meiner Arbeit. Darf ich die nicht ausüben?"
"Heute und hier nicht."
"Können Sie mir Ihren Namen sagen?"
"Nein."
"Warum nicht?"
"Kommen Sie mit."
Wir schlenderten los. Am Rand der Menge bog er zum Bahnhof ein. "Gehen
wir wieder zum Auto?" fragte ich.
"Ja." Und auf einmal begriff er, warum ich problemlos mitgegangen
war. Ich dachte, er wolle mir unter vier Augen Namen und Dienstgrad
mitteilen. "Meinen Namen erfahren Sie sowieso nicht", sagte
er. Und bemühte sich, wiewohl kaum älter als ich, um väterlichen
Ton: "Wollen Sie gehen, oder muß ich Sie mitnehmen?"
Ich überlegte, ob es ein Eklat sei, wenn sie einen Schriftsteller
wegen Neugier festnehmen. Aber dem Westpresserummel stand ich noch immer
ablehnend gegenüber. Berühmt werden würde ich lieber
durch das, was ich schreibe. Also sagte ich ihm, daß ich keinen
Wert darauf lege, festgenommen zu werden, und er ließ mich tatsächlich
gehen, erleichtert, scheint mir, mich so billig losgeworden zu sein.
Silke übrigens folgte uns unauffällig, wurde aber durch das
verdächtige Pärchen behindert. "Wir kennen ihn",
behauptete die Frau. "Wir sind aus "Kontakte". Bist du
seine Tochter?" Dabei versperrten sie ihr die Sicht. Als Silke
endlich vorbeikam an ihnen, war ich bereits verschwunden. Den Mann sah
ich später zweimal in "Kontakte", konnte ihn aber nicht
sicher identifizieren, und als Silke Führig sich wieder bei "Kontakte"
blicken ließ, war er bereits ausgereist. Er wird die Genehmigung
wohl mit Informationen erkauft haben.
Die Regierung wollte nichts wahrhaben. Alle Eingaben und Anzeigen wurden
abgeschmettert. In Potsdam wurde Staatsanwalt von Daak damit betraut.
Er lud Gabriele Grafenhorst und mich zu einem Gespräch über
unsere Anzeige wegen Wahlfälschung. Sie sei unbegründet, teilte
er uns im Auftrag des Kreisstaatsanwaltes mit. Untersuchungen haben
ergeben, daß die Wahlergebnisse korrekt ausgezählt wurden.
"Wer hat diese Untersuchungen durchgeführt?"
"Das kann ich Ihnen nicht sagen", erklärte von Daak.
"Dürfen Sie es nicht, oder wissen Sie es nicht?" fragte
ich.
"Das kann ich Ihnen nicht sagen."
"Dürfen Sie es nicht, oder wissen Sie es nicht?" wiederholte
ich.
"Das kann ich Ihnen nicht sagen, und ich weiß es auch nicht."
Daraufhin zeigte ich von Daak und den Kreisstaatsanwalt wegen Rechtsbeugung
an. Den Brief drückte ich dem Generalstaatsanwalt Günter Wendland
anläßlich einer Tagung des Aktivs für Kriminal- und
Abenteuerliteratur des Schriftstellerverbandes persönlich in die
Hand. Er hatte dort über die Kriminalitätsentwicklung in der
DDR informiert. Auf meine Frage nach der Wahlfälschung wurde er
ausfällig: Man wisse, wer das sei, der hektographierte Anzeigen
verschicke. Im anschließenden Vieraugengespräch sicherte
er mir jedoch zu, meine (nicht hektographierte) Anzeige selber und ohne
Vorurteil zu lesen. Meines Wissens war ich der einzige Oppositionelle,
der mit dem Generalstaatsanwalt über die Wahlfälschung sprach.
Eingebracht hat es niemandem etwas. Bald darauf erhielt ich ein knappes
Schreiben eines seiner Mitarbeiter: Für Wahlfälschung gebe
es keine Anhaltspunkte. Den Auskünften, die Herr von Daak mir gegeben
habe, sei nichts hinzuzufügen. Ein paar Tage später traf Wendland
zufällig meine Schriftstellerkollegen Drews und Eik vom Vorstand
des Krimi-Aktivs auf der Straße. Er warnte sie vor mir: Mechtel
hat schlechten Umgang mit gefährlichen Leuten.
Als das Neue Forum gegründet wurde, erreichte der Widerstand eine
neue Qualität. Auf einmal strömten Massen herbei. Allerdings
drängten die Erstunterzeichner penetrant auf Einhaltung der Legalität.
Mit Rudolf Tschäpe, einem Potsdamer Physiker und Erstunterzeichner,
stießen wir schon zusammen, als wir noch nicht wußten, wer
er war. Bei Pfarrer Martin Kwaschik hatten sich Leute getroffen, die
über die Organisation einer Demonstration am 7. 10, dem Tag der
Republik, berieten. Tschäpe war strikt dagegen, und die scharfen
Diskussionsbeiträge von Gabriele Grafenhorst und mir stießen
ihn ebenso ab wie uns seine lauen Beschwichtigungen. Dennoch konstituierte
sich ein Demonstrationskomitee. Ich gehörte ihm nicht an, weil
ich langfristig einen Lesungstermin für den 7. 10. zugesagt hatte.
Allerdings nahm ich an zwei Sitzungen teil, und als ich von der Staatssicherheit
zu einem einschüchternden Gespräch geladen wurde, sagte ich
endlich die Lesung ab.
Das Neue Forum wollte sich nicht mit Radikalen belasten und hielt Gabriele
Grafenhorst und mich fern. Wir hatten uns als Kontaktadresse angeboten,
aber unsere Namen tauchten auf keiner Liste auf. Detlev Kaminski schwänzte
die Termine der Gruppe Acht und engagierte sich nur noch beim Forum;
wenig später folgte ihm Ute Platzeck.
Am 6. 10. rief uns Volker Wiedersberg an und teilte uns mit, daß
es am Vormittag einen Auftritt mit Kaminski gegeben habe, der im gleichen
Betrieb arbeitete. Kaminski kanzelte ihn im Hausflur, für jedermann
hörbar, ab wie einen Schuljungen, weil Volker angeblich gesagt
habe, das Neue Forum veranstalte am nächsten Tag eine Demonstration;
das Forum sei jedoch strikt dagegen. Moment, sagte Volker während
des Telefonats plötzlich. "Jetzt kommen gerade zwei Männer
herein. Sie wollen zu mir. Ja, das wars." Knacken. Ende des Gesprächs.
Volker wurde festgenommen. Wir dachten: Nun erst recht, und immerhin
2000 Leute demonstrierten, bis die Polizei mit Menschenschiebern vorfuhr.
Am 9. 10. erfuhren wir aus der "Märkischen Volksstimme"
durch ein Interview mit Oberstleutnant Adam, dem damaligen Polizeichef
von Potsdam, daß wir nur 200 Asoziale gewesen waren.
Merkwürdigerweise heimste das Neue Forum den Ruhm der Demonstration
ein, und da es ein Erfolg gewesen war, wollten sie nun selber eine veranstalten.
Sie sprachen das Vorbereitungskomitee der ersten Demo an, und um der
Sache willen waren sie zur Mitarbeit bereit. Gabriele Grafenhorst und
Martin Kwaschik meldeten die Demonstration an. Oberstleutnant Adam,
flankiert von Hauptmann Gerhard Beier, dem Zuständigen für
das Erlaubniswesen, lehnte ab. Auf höhere Weisung wurde die für
den 4. 11. geplante Demonstration dann doch noch genehmigt. Abgesehen
von der Anmeldungsaktion wurde Gabriele Grafenhorst weiterhin von der
Forum-Arbeit ferngehalten. Sie startete als letzte große Aktion
der Gruppe Acht den Versuch, alle Potsdamer Basisgruppen an einen Tisch
zu bekommen. Das Neue Forum blieb fern - es war schon zu groß
geworden.
Ich wurde in den örtlichen Führungskreis des Forums berufen.
Als wir uns gegenseitig vorstellten, erschrak ich über die Zusammensetzung.
Mehr als die Hälfte der Kontaktleute sagte, sie habe apathisch
zu Hause herumgesessen und sich über die politischen Verhältnisse
gegrämt, und auf einmal sei der Rudolf Tschäpe gekommen und
habe sie gefragt, ob sie nicht was machen wollten, und das sei wie eine
Erlösung gewesen. Nur fünf der Anwesenden hatten schon früher
etwas getan: Tschäpe, Meinel, Kaminski, Ute und Matthias Platzeck.
Die Kleinbürger waren in der Überzahl. Ich blieb dennoch dabei,
und auf der ersten Vollversammlung wurde ich zum Sprecher gewählt.
Zwei Tage später fand die Forum-Demonstration statt, zeitgleich
mit der Berliner Kundgebung. Es war mit fast 100 000 Teilnehmern im
Verhältnis zur Einwohnerzahl (knapp 140 000) die wohl größte
oppositionelle Demonstration, die es zu DDR-Zeiten in einer größeren
Stadt gab .
Fußnote:
Die erste Demonstration des Neuen Forum in Potsdam wurde im wesentlichen
durch das Vorbereitungskomitee der Demo vom 7. 10., ergänzt um Mitglieder
des Neuen Forum und der Gruppe "Kontakte", organisiert. Angemeldet wurde
sie durch Gabriele Grafenhorst, Martin Kwaschik und Reinhard Meinel.
Geplant war, die Demonstration durch eine Kundgebung auf dem Ruinenberg
zu beenden, dessen Fläche groß genug ist, die erwartete Menschenmenge
zu fassen. Als die Volkspolizei (vertreten durch Oberstleutnant Adam,
damals amtierender Leiter des Volkspolizeikreisamtes) nach langem Sträuben
und auf höhere Weisung die Demonstration genehmigte, schrieb sie eine
andere Wegstrecke und einen anderen Platz für den Demo-Abschluß vor
(Heinrich-Rau-Allee/Ecke Berliner Straße). Sie sicherte zu, die Straße
für den Verkehr zu sperren und den Parkplatz als vorgesehenen Stauraum
freizuhalten. Beides geschah nicht. Der Parkplatz war voller Autos,
und als gerade eine Lautsprecherkabel über die Straße gezogen wurde,
näherte sich in voller Fahrt eine Straßenbahn. Das glücklicherweise
noch nicht befestigte Kabel konnte durch Reaktionsschnelligkeit gerettet
werden. Ein VP-Fahrzeug beobachtete die Vorgänge, ohne einzugreifen.
Als ich die Insassen auffordern wollte, die Straße zu sperren, fuhren
sie vor mir davon. Der Straßenbahnfahrer weigerte sich, die Straßenbahn
hundert Meter zurückzusetzen. Die Bahn war mit Parteirentnern besetzt,
welche die Weiterfahrt forderten - hinein in die heranströmende Menschenmenge.
Im letzten Wagen warteten junge, kräftige Stasi-Mitarbeiter auf ihren
Einsatz, hielten sich jedoch zurück, als sie bemerkten, daß Zehntausende
kamen. Die Sabotageversuche von Polizei und MfS schlugen fehl. - Daß
die Demonstration nach dem offiziellen Abschluß in der Innenstadt weitergeführt
wurde, war nicht das Verdienst von Gabriele Grafenhorst und mir, wie
Stasi-Generalmajor Schickart später behauptete (in: "Mit tschekistischem
Gruß", Potsdam 1990), sondern einzig das Verdienst der VP (oder derer,
die dem Verhandlungsführer die Anweisungen gaben). Ich hatte die Demonstration
offiziell beendet, aber der verordnete Platz für die Abschlußkundgebung
faßte nicht mal ein Drittel der Demonstranten, so daß die meisten gar
nicht mitbekommen konnten, daß die Veranstaltung beendet war - die vorgesehene
Strecke war nicht in der Presse veröffentlicht worden. Einige tausend
zogen also weiter in die Innenstadt zum Brandenburger Tor. Als es auch
dort keinen für sie erkennbaren Abschluß gab (da der ja ohne ihr Wissen
bereits erfolgt war), wendete der Rest des Demonstrationszuges und marschierte
am Untersuchungsgefängnis ("Dienstobjekt der Abt. XIV", "Lindenhotel")
und an der Bezirksverwaltung des MfS vorbei zum Rat der Stadt. Pikanterweise
hatte die LDPD, einst emsiger Blockfreund der SED, gebeten, sich an
der Forum-Demonstration beteiligen zu dürfen; die offizielle Abordnung
der LDPD marschierte am Schluß des Zuges. Bei der Wende am Brandenburger
Tor übernahm sie demzufolge ungewollt die Spitze, führte also die "offen
provokatorischen antisozialistischen Bekundungen" (Schickart) vor dem
MfS an.
Fünf Tage später,
am Abend des 9. November, traf sich der Sprecherrat zur Beratung der
kommenden Aufgaben. Ich hatte Schabowskis Pressekonferenz gesehen, ohne
die Konsequenz zu begreifen. Kurz nach Beginn der Sitzung erfuhren wir,
daß die Mauer offen war. In unserer Beratung ließen wir
uns dadurch nicht stören: Organisation der nächsten Demonstration
(Hoffentlich kommt noch einer, wenn die Grenze auf ist), Vernetzung
des Neuen Forum, Anträge zur Förderung der Pressefreiheit,
schrittweise Aufhebung der Abschottung und Öffnung der Grenzen,
ach ja, ist ja schon offen, nächster Punkt. Erst eine Stunde nach
Mitternacht kehrte ich nach Hause zurück und sah im Fernsehen den
Freudentaumel der Ost- und Westberliner.
Kurz danach trat ich als Sprecher des Neuen Forum zurück. Ich konnte
in dem Gremium nicht heimisch werden. Über das Herausdrängen
meiner Lebensgefährtin aus der Bewegung wurden mir einander widersprechende
Entschuldigungen angeboten. Meine Zuarbeiten zum Grundsatzreferat der
Vollversammlung wurden zu einem nichtssagenden Brei verwässert;
selbst die in der Verfassung festgeschriebene führende Rolle der
SED wurde nicht angetastet. Ich hatte mit dem lauen Spießerhaufen
nichts gemein, hielt den Bruch aber nach außen hin (um der Sache
willen? welcher Sache?) geheim; auf der nächsten Forum-Kundgebung
am 1. Dezember - schon mit West-Beteiligung; Ehmke und Schily redeten
auch - hielt ich ein Referat. Gekommen waren trotz der inzwischen offenen
Grenze mindestens 30 000 Menschen; Ehmke schätzte sie sogar auf
80 000. Die wöchentlich stattfindenden Zwischendemos der durch
Gruppe Acht zusammengeführten Potsdamer Basisgruppen waren hingegen
schlecht besucht, nur einmal kamen mehr als 1000 Leute.
Am Vormittag des 5. Dezember 1989 rief Detlef Kaminski an: "Wir
wollen heute die Bezirksbehörde der Stasi besetzen. Kommt ihr mit?"
Wir kamen. Die Volkspolizei auch. Diesmal nicht, um zu knüppeln,
sondern als Sicherheitspartner. Generalmajor Griebsch, Chef der BDVP,
erschien höchstselbst und begleitete die Verhandelnden, unter ihnen
ich, zum Stasigeneral Schickart. Während wir endlos darüber
palaverten, wie wir die Bezirksbehörde so rechtsstaatlich wie möglich
besetzen können, dauerte es den vor dem Tor Wartenden zu lange.
Unter Führung von Gabriele Grafenhorst stürmten sie ins Hauptgebäude.
Der Posten angelte nach seiner Pistole, ließ sie aber angesichts
der Übermacht stecken. Daß 50 von uns sowieso schon auf dem
Gelände waren, stärkte unsere Verhandlungsposition. In Begleitung
von Staatsanwälten durften wir die Räume besichtigen und notfalls
versiegeln.
Gegen Ende der Besprechung traf ich den Genossen Weber, der mich ein
Vierteljahr vorher befragt hatte. Wir begrüßten uns mit Handschlag.
VP-General Griebsch beobachtete das verwundert. Ich klärte ihn
auf, Weber sei mein Vernehmer gewesen. Griebschs Gesichtszüge entgleisten
langsam. Ich hatte den Eindruck, in diesem Augenblick brach sein Weltbild
zusammen: Der Oppositionelle, der auf einmal Macht besitzt, begrüßt
den Stasi-Offizier nicht mit der Faust im Gesicht, sondern gibt ihm
die Hand. Zwei Tage später trat Griebsch zurück (sicher weil
er an der Reihe war; es war die Zeit der Rücktritte).
Beim Versiegeln der Räume begleitete mich der Staatsanwalt von
Daak. Unterwegs fragte ich ihn, ob ihm bekannt sei, daß ich ihn
angezeigt hatte. - "Wen? Mich?" fragte er ungläubig.
Staatsanwalt blieb er übrigens nicht mehr lange. Er wurde freier
Rechtsanwalt.
Am späten Abend randalierten Betrunkene vor dem Tor. Oberstleutnant
Adam holte mich, zeigte mir die Betrunkenen und fragte, was er tun solle.
Ich ordnete an, das Tor zu schließen. Ich, der Niemand, gab dem
Polizeichef von Potsdam einen Befehl, und er war darüber erfreut.
In diesem Augenblick bildete ich mir tatsächlich ein, daß
wir unsere kleine Revolution gewonnen hatten.
Ende Januar 1990 folgte ich einer Einladung an das Bates-College in
Lewiston/Maine zu einem Kolloquium über die Umwälzungen im
Ostblock. Dort und an vier anderen amerikanischen Universitäten
hielt ich Vorträge und Seminare über die politische Lage in
Deutschland. Damit endete meine politische Karriere, die ich ohnehin
nie angestrebt hatte. Bei der ersten demokratisch genannten Wahl vertrat
ich das Neue Forum in der Wahlkommission des Bezirkes. Meine letzte
Aktivität im Forum war der Besuch einer Basisversammlung in Leipzig.
Dort sollte über den Zusammenschluß mit Demokratie jetzt
und der Initiative für Frieden und Menschenrechte zum Bündnis
90 beraten werden. Ich wollte die Gelegenheit nutzen, mich gegen die
Ernennung von Joachim Gauck zum Stasiaktenverwalter auszusprechen, weil
ich ihn nach Lektüre einiger Interviews für nicht integer
hielt. Durch Geschäftsordnungstricks des Tagungsleiters und Gauck-Freundes
Heiko Lietz wurden ich und andere Gauck-Kritiker am Reden gehindert.
Mein schriftlich eingereichter Diskussionsbeitrag wurden zu den Akten
gelegt. Ich hatte nichts mehr im Forum zu suchen und trat aus.
Nun hätte ich mich endlich wieder der ein Jahr brachliegenden Arbeit
als Schriftsteller widmen können, und das tat ich auch, aber die
Lage hatte sich gründlich verändert. Die DDR-Verlage kämpften
um ihr Überleben. Die DEFA, bei der ich drei neue Filmprojekte
unterbringen wollte - eines hatte bereits einen Regisseur -, wurde abgewickelt.
Für das Fernsehen der DDR schrieb ich einen Polizeiruf. Dann gab
es auf einmal kein Fernsehen der DDR mehr, das Geld wurde knapp, und
der Film wurde nicht gedreht. Die Westverlage wurden wahrscheinlich
mit Manuskripten aus dem Osten zugeschüttet, oder die Lektoren
waren sämtlich an Ostphobie erkrankt. Sie ließen Manuskripte
jahrelang liegen, ohne sich dazu zu äußern (und damit war
ich noch privilegiert: Von Kollegen hörte ich, daß deren
Manuskripte ungelesen und postwendend zurückgeschickt wurden).
Die wohl zynischste Ausrede hörte ich vom Rotbuch-Verlag. Ich hatte
1990 einen Krimi geschrieben, der zur Zeit der Wirtschafts- und Währungsunion
spielte. Wegen Überlastung, scheints, kam man nicht zum Lesen.
Anfang 1992 erhielt ich nach Anmahnung das Manuskript mit der Bemerkung
zurück, das sei inzwischen ein historischer Krimi, und so etwas
passe nicht ins Verlagsprogramm. Bei Sachsen-Radio gelang es drei Kollegen
und mir, eine Kriminalhörspielserie loszuwerden. Nach drei Folgen
wurde sie eingestellt, weil das kleine Sachsenradio im großen
Mitteldeutschen Rundfunk aufging, der sich eine Krimireihe nicht leisten
konnte. Mein Stammverlag (Eulenspiegel/Das neue Berlin) existierte zwar
weiter und wollte auch weiter Krimis von mir in der DIE-Reihe drucken,
doch zahlen konnten sie nur ein Trinkgeld. Der Markt für Bücher
nämlich hatte sich durch die Grenzöffnung nicht vergrößert,
sondern verkleinert. Die westlichen Buchhandlungen waren bisher ohne
die DIE-Reihe ausgekommen; die meisten haben bis heute nichts von deren
Existenz erfahren. Und im Osten wurde zum einen das Geld für den
Luxus Buch immer knapper, zum anderen sollte und mußte erst einmal
nachgeholt werden, was alles den Lesern hierzulande vorenthalten worden
war. So sackte die Auflage der DIE-Reihe von 100 000 (die selbst in
den 60 000er Nachauflagen noch unterm Ladentisch gehandelt wurden) auf
5 000 (von denen um die 2 000 verkauft werden), und da Autoren (auch
schon zu DDR-Zeiten) prozentual am Umsatz der Bücher beteiligt
sind, gab und gibt es für das halbe Jahr Krimischreiben (mancher
braucht noch länger) statt bisher 20 000 Mark nur noch 3 000 DM.
Auf einmal wurde das Geld wichtig, und ich begann die Wessis zu verstehen,
die ständig darüber reden. Früher brauchte ich wenig.
Mit 7 000 Mark im Jahr konnte ich eine dreiköpfige Familie ernähren.
Heute reicht das knapp für Miete, Strom und Heizung. Um mich herum
wurden immer mehr Menschen arbeitslos. Ich als Freiberufler tauche in
keiner Statistik auf. Arbeit hatte ich ja auch. Nur Geld gab es nicht
dafür.
Obwohl mir bekannt war, daß im Großraum Berlin um die 6
000 freiberufliche oder stellungslose Journalisten versuchen, ihre Arbeitskraft
zu verkaufen, kehrte ich zum Journalismus zurück. Die "Märkische
Volksstimme" nannte sich inzwischen "Märkische Allgemeine".
Ich schrieb Gerichtsberichte für das Blatt. Die "Frankfurter
Allgemeine" kaufte die Zeitung und schickte als erstes eine Handvoll
Geschäftsführer. Als nächstes wurde ein zweiter Chefredakteur
engagiert. Peter Mugay kam von der Ost-CDU und war nach Auskunft zweier
möglicherweise gehässiger Kollegen eine blitzgewendete Blockflöte:
hatte in einem Monat von tiefrot auf pechschwarz umgeschaltet und dafür
nicht mal die Partei wechseln müssen. Er wurde für die Beilage
verantwortlich, in der die Gerichtsberichte erschienen. Er soll, so
die ehemaligen CDU-Kollegen, schon immer gern zensiert haben. Das setzte
er fort, nur andersherum.
Mein Original: "Wenn ein Geheimdienst in der Lage war, einen Millionenbetrug
zu verhindern, so hätte er erstmals in der Weltgeschichte etwas
Nützliches bewirkt."
Mugays Fassung: "Wenn ein Geheimdienst in der Lage war, einen Millionenbetrug
zu verhindern, so hätte er etwas Nützliches bewirkt."
Original: "Daß Frau S. das Geld zusteht und immer zugestanden
hat, gilt nichts ohne ordnungsgemäßen Antrag. Das Blatt Papier
zählt, nicht der Mensch."
Der letzte Satz wurde ersatzlos gestrichen. Und so weiter.
Im November 1991 erläuterte mir Herr Mugay, was von mir erwartet
wurde. "Der Gerichtsbericht sollte der Wahrheit verbunden sein,
seriös Hintergründe aufhellen, darstellen, wie es zur Urteilsfindung
kam. Ich muß aufstoßen, wenn ich sehe, daß Verabsolutierungen
drin sind, denen ich nicht folgen kann. Ich halte eine versachlichte
Berichterstattung für geeigneter. Sie arbeiten mit Unterstellungen.
Wenn jemand den Stichtag überschritten hat, ist das traurig. Was
soll der arme Richter da machen? 'Das Blatt Papier zählt, nicht
der Mensch' - das ist verabsolutiert. Es gibt auch Fälle, wo der
Mensch zählt. 'Die Schwachen verlieren. Auch vor Gericht.' Das
sollten wir aus Verantwortung so nicht sagen. Was wir wollen, ist, daß
wir hier Rechtssicherheit reinkriegen. Wir wollen nicht die Tristesse
weiter fortsetzen, sondern von der menschlichen Position ausgehen. Ein
Fünkchen Hoffnung muß sein, sonst werden die Konsumenten
nicht ermuntert, Zutrauen zu haben. Lassen Sie die Ironie weg aus Ihren
Texten. Lassen Sie die Verabsolutierungen weg - die sind immer fragwürdig.
Wenn Sie das 'Zensur' nennen, da beleidigen Sie den gesamten Berufsstand
der Redakteure und genauso den gesamten Berufsstand der Lektoren. Es
ist die Aufgabe des Lektors, einen Text in seinem Sinn zu bearbeiten.
Wenn Sie einen Eigenverlag haben, dann können Sie alles schreiben."
Zum Jahresende gab ich die unbefriedigende, schlecht bezahlte Arbeit
für die MAZ auf. Da erreichte mich ein Brief von Herrn Mugay. Ich
hatte mehr Geld gefordert. Er versprach mir weniger. Der Spott zum Schaden?
Ich bot "Antenne Brandenburg" meine Dienste als Gerichtsreporter
an. Sie nahmen sie in Anspruch, allerdings nicht so häufig, wie
ich mir wünschte. Im Osten hat der Gerichtsbericht (abgesehen von
Hirsch in der "Wochenpost") keine Tradition. Der RIAS beschäftigt
drei Leute, die Gerichtsberichte liefern. Für "Antenne Brandenburg"
ist einer schon fast zu viel.
Nicht genug damit, daß es mit dem Beruf nicht mehr funktionierte,
wurde auch noch mein Zuhause bedroht. Um ausreichenden Wohnraum zu erhalten,
hatten meine Lebensgefährtin und ich das volkseigene Mehrfamilienhaus
in der Otto-Erich-Straße ausgebaut, hatten es einrüsten,
das Dach decken, die Wohnungen teilsanieren lassen. Das nahm ein Jahr
unseres Lebens in Anspruch. Ausbau - das hieß, die knappen Materialien
irgendwie zusammenzuorganisieren, das hieß, die Handwerker durch
Speisen, Getränke und Fahrleistungen bei Laune zu halten. Seit
dem 1. Dezember 1990 gehört das Haus Herrn Wolfgang Ludwig, einem
Millionär aus Westberlin. Die Russen hatten seine Familie aus Potsdam
vertrieben. Nun bekam er das Haus als Erbe überschrieben (weshalb
als erster in Potsdam, wird sich wohl nie klären lassen) und begann
sofort mit der Vertreibung der Mieter. Das Haus Berliner Straße
59, in dem er eine Bootswerft einrichten wollte, wurde zügig leergefegt.
Dann kamen wir an die Reihe. Er schickte einen Räumungsbescheid
und wollte ihn gerichtlich durchsetzen. Wir bombardierten uns gegenseitig
mit Einstweiligen Verfügungen. Einige seiner Handwerker - insonderheit
die Klempner - beteiligten sich am Terror gegen die Mieter. Sie bauten
versehentlich die Gasleitung aus und nach Mieterprotesten so schlampig
wieder ein, daß Gas ausströmte. Sie drehten uns mit einem
eigens dafür eingebauten Hahn das Wasser ab. Als wir es heimlich
wieder anstellten, kamen sie ebenso heimlich zurück und drehten
es erneut ab. Herr Ludwig ließ eine versteifende Wand einschlagen
und stützte die darüberliegende marode Decke trotz Auflage
der Bauaufsicht nicht ab. Ich zeigte ihn wegen "bedingt vorsätzlich
versuchten Totschlags" an; Staatsanwalt Sülldorf schrieb mir,
es handle sich um die üblichen Streitereien zwischen Vermieter
und Mieter, und ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung
bestehe nicht.
Gegen den Vermieter-Terror gibt es keinen Paragraphen im Strafgesetzbuch
der Bundesrepublik Deutschland. Wenn mir jemand mit vorgehaltener Gaspistole
die Brieftasche mit 30DM abnimmt, dann ist er ein gefährlicher
Räuber und muß für mindestens fünf Jahre hinter
Gitter. Wenn aber jemand meine Wohnung raubt und damit meine Existenz
bedroht, wenn er mein Leben durch Baumaßnahmen gefährdet,
dann besteht kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung.
Wen wunderts, daß ich mich meinen einstigen Überwachern inzwischen
verbundener fühle als den importierten Besitzern?
Unsicherheit bleibt: Wie geht es weiter? Der Mieterbund hat angefragt,
ob ich nicht wieder Demonstrationen organisieren wolle. Ich antwortete
ausweichend, meldete mich nicht mehr. Ich will nicht. Nicht jetzt. Wem
nutzt es? Als ich auf die Straße ging, wollte ich Demokratie und
Offenheit erreichen. Herausgekommen ist, daß wir statt von verkalkten,
idealmordenden Greisen von einer Geldmafia regiert werden. Die Politiker
nehmen uns die Illusionen über Demokratie, die Eigentümer
die Wohnungen und die Treuhand die Arbeit. Faschos klatschen Asylanten
auf, Spießer sehen beifallklatschend zu und greifen auch selbst
mal zu einem Pflasterstein. Der berechtigte Unmut gegen den Staat wird
umgelenkt auf diejenigen, denen es noch schlechter geht. Die Presse
ist kaum freier als zuvor. Die Landwirtschaft stirbt. Die Industrie
stirbt. Die Verlage sterben. Ich habe mich selbst enteignet. Und wer
ist schuld? Natürlich die Stasi. Hätten sie mich (und ein
paar andere) nur rechtzeitig festgenommen! Dann wäre das alles
nicht passiert.
(Aus: Im
Osten nichts Neues, Potsdam 1993)
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