Fortgeschriebene Geschichte
Das Theater o. N. und sein "Reineke Fuchs"
Autor Hartmut Mechtel
hat nicht mehr dran geglaubt, daß sein Reineke Fuchs jemals
das Licht der Welt erblicken würde. Seit Ende der siebziger Jahre
gab es Versuche, das Stück in der DDR zu spielen - aber entweder
verließen die Schauspieler das Theater, der Intendant wechselte
oder die Wende verhinderte die Drucklegung des Textes. Jetzt wird
er endlich gespielt. Zu diesem Zweck gibt es fast eine Reunion von
Zinnober, der mittlerweile schon legendären einzigen freien Theatergruppe
der DDR. Ein Ereignis, das spielfreudig und frech daher kommt, ohne
der Fabel die Butter vom Brot zu holen.
Unter der Leitung von Gabriele Hänel enstand eine Ensembleproduktion;
zur Zeit so etwas wie ein weißer Rabe auf der freien Szene.
Sieben Schauspieler schlüpfen in das vielfältige Goethe/Mechtelsche
Bestiarium und zeigt einen Helden, der nichts mit den niedlichen Kupferstichen
der illustrierten Ausgaben zu schaffen hat. Günther Lindner spielt
den Reineke zwar mit der typischen Durchtriebenheit, ist dabei aber
so glatt und cool, gemein und fast empfindungslos, daß ein Charakter
erscheint, der die Demontage des Establishments mit der reinen Lust
an der Zerstörung betreibt. So ganz hat das Goethe nicht gemeint.
Autor Mechtel hat ihn aber dahin richtig weiterverstanden.
Ohne Pause spinnt sich ein Spektakel mit Henry-Purcellschem Satzgesang,
mühelosen Kostümwechseln und einem sich steigernden Ablauf,
der die kleine Bühne im Theater o. N. nach kurzer Zeit zu einem
weiten llusionsraum vergangen-aktueller Fabelzeiten öffnet. Alle
ziehen an einem Strang (Ensemble!), was durch die gleichmäßig
mobilisierte Konzentration eine schöne Dichte ergibt. An Einfällen
mangelt es nicht. Das Blut fällt als rotes Stoffband vom Kopf;
wenn Reineke gehängt wird, zappelt Günther Lindner am Türrahmen
und erschlafft, der Thron des Löwen dient als vielseitig eingesetztes
Requisit. Dabei kommt der Spaß nicht zu kurz. Die Derbheit der
mittelalterlichen Quellen wird nicht unter den Teppich gekehrt. Die
Spiegelung der opportunistischen Höflinge im heftigen Spiel stellt
die Ratlosigkeit und Verzweiflung bloß, die sich in der speichelleckenden
Gesellschaft doch nicht bunkern lassen. Ganz unaufdringlich kann der
Zuschauer seine Schlüsse ziehen.
Die erste "Zinnober"-Produktion seit 1990 belebt die Idee
einer Theatergruppe, die sich dem selbstbestimmten Duktus nicht entfremdet
hat. Die dazugestoßenen neuen Mitglieder haben das Konzept offenbar
kapiert, weil sie das Ergebnis genauso mittragen wie die alten Hasen,
die ab 1980 Polizei und Stasi auf Trab hielten.
Die Spielstätte am Kollwitzplatz wartet tagsüber mit einem
umfangreichen Programm für Kinder auf, das vom Schattentheater
über die schrägen Figuren- und Puppentheater Arbeiten des
Theaters Handgemenge (die praktisch beim Theater o. N. assoziiert
sind) reicht. Das komplette Erdgeschoß dient als Spiel und Probenstätte
und ist auf dem Prenzlauer Berg zu einer festen Addresse für
freies Theater geworden. Irgendwie wird da eine Geschichte fortgeschrieben,
die sich der durch die Wende provozierten Versuchungen und Schwächlichkeiten
entzieht. Die Geschlossenheit von eigenem Text, Dramaturgie und Regie
bei "Reineke Fuchs" sowie die Integration anderer Gruppen
in das Konzept ist in Zeiten schwindender öffentlicher Unterstützung
die richtige Gegenwehr, um sich gegen die kommende Eiszeit zu wappnen.
Reiner Schweinfurt,
Zitty (25/96)
Die steile Karriere eines
Intriganten
"Reineke Fuchs" zum Start
des Impulse-Festivals. Von Daniel Jahn
Einen wahrhaft tierischen
Auftakt erlebte das Off-Theaterfestival "Impulse" am Donnerstagabend
in der Brotfabrik. Nach den Begrüßungsansprachen von NRW-Ministerin
für Stadtentwicklung, Sport und Kultur, Ilse Brusis, und Oberbürgermei-sterin
Bärbel Dieckmann, sprang Reineke Fuchs auf die Bühne. Und in die Bresche:
Denn Thorsten Lensings Inszenierung "Der König stirbt/Die letzten
Tage der Menschheit" (Köln), die ursprünglich den Auftakt bilden sollte,
mußte wegen einer schweren Erkrankung des Hauptdarstellers vor Wochenfrist
abgesagt werden. Dafür rückte das Theater O.N. in die Endrunde nach.
Besser bekannt ist das Ensemble unter seinem früheren Namen "Zinnober"
als einziges freies Theater der DDR. Improvisieren und Experimentieren
prägte schon damals das Spiel der O.N.-Truppe. Mit ihrer kurzfristigen
Berufung nach Bonn durften die Schauspieler diese Kunst in besonderer
Weise erproben. Allein dafür muß man ihnen danken, und vielleicht
kommt ja zu der Gunst der Stunde auch noch die der Juroren. Eine viehische
Angelegenheit stand zur Verhandlung. Goethes Versepos über den durchtriebenen
und skrupellosen Reineke Fuchs diente Hartmut Mechtel als Vorlage
einer mutigen und respektlosen Textbearbeitung (Regie: Gabriele Hänel).
"Pfingsten, das liebliche Fest" wird zu einem blutigen Schlachtfest,
der Hof des Tierkönigs, Löwe Nobel (Mechtel), zum Schlachthof. Reineke,
anfangs noch Angeklagter zahlreicher Verbrechen an seinen Mittieren,
windet seinen Kopf intrigant und heuchlerisch aus der Schlinge, die
sich bereits um seinen Hals zusammen zieht. Den erst Geächteten ernennt
der eitle und dumme König schließlich zum Reichskanzler. Das Schicksal
der anderen Tiere ist damit besiegelt. Die Patenschaft Bert Brechts
ist bei diesem Berliner Reineke unverkennbar. Bei der Figur Hennings,
des "zu kurz gekommenen Hahnes", wird sogar dessen "Vaterschaft" bezeugt
Die häufigen Rollenwechsel auf offener Bühne - rund ein Dutzend Spieler
schlüpfen in 17 Rollen - und einige Passagen inszenierter Improvisationen
zeitigen einen (latenten) Verfremdungseffekt, der den zugrundeliegenden
Text aus der Fabulierlust und den Zuschauer aus der Illusion reißt.
"Der aufhaltsame Aufstieg Reineke Fuchs'" könnte Mechtels Bearbeitung
des Epos auch heißen. 'Wenn am Ende ein treuer Königs-Gefolgsmann
nach dem anderen über die Klinge springt, der König jede Verantwortung
ablehnt und Reineke (Günther Lindner) mit seiner Frau Ermelyn (Melanie
Florschütz) dazu sinnlich Tango tanzt, geht Goethe in seiner Aktualität
tief unter die Haut.
Aus: General-Anzeiger,
Bonn, 22./23. 11. 97