König Nobels Ende

Theater o. N. / Zinnober mit "Reineke Fuchs" in der Volksbühne

Das Theater o. N., besser bekannt unter seinem zu Zeiten der DDR geführten Namen "Zinnober", nähert sich den Abenteuern von Reineke Fuchs mit einer gehörigen Portion Grimm und Bosheit. Was dem von Goethe zu einem Versepos geformten Stoff seit seiner Entstehung an neuen Erfahrungen aufgebürdet worden ist, verwandelt die einst einzige freie Theatergruppe der DDR in einen Schnelldurchlauf europäischer Kulturgeschichte. Gesprochen wird in vielen Sprachen. gesungen und musiziert in vielen Stilen, vom Madrigal bis zum Rap. dazwischen gestottert, gestöhnt, gemault, gepfiffen. Ein halbes Dutzend Schauspieler stürzt sich in dreimal so viele Rollen, mit geschwinden Veränderungen an Kostüm und Haltung, an Stimme und Sprache. Und auch die Schauplätze fliegen vorüber. Sportliche Beweglichkeit ist angesagt, Kopfstehen und erotische Figurationen vielfältiger Art gehören dazu, sogar Tanzen auf dem Eis, das doch nur das Bühnenparkett im 3. Stock der Volksbühne ist. Es geht auf Mord und Totschlag hinaus, was die "Zinnober"-Leute mit ihrer ersten Gruppen-Inszenierung seit 1990 zeigen. Reineke (Günther Lindner) ist ein Pragmatiker, der das Geschäft der Politik nüchtern und fast emotionslos betreibt, aber auf den finalen Ausgang hinarbeitet - die Vernichtung der Gegner. Seine Ruhe steht gegen die Aufgeregtheit der anderen Individuen am Hofe, die sich immer wieder bei Eitelkeit. Gier, Machthunger greifen lassen. Nobel, der fellbehangene König (Hartmut Mechtel), ist zugleich der bullig-dämliche Wolf und am Ende Martin, ein alberner Affe. - Den Text fertigte sich die Gruppe selbst, frech und unbekümmert. Und so wird auch gespielt, mit dem Mut zu deftigster Wirkung, zu kindlicher Deutlichkeit. Wenn sich die Geschichte mitunter in den Wirrnissen allzu rasanter Verwandlungen verfängt, tut das wenig zur Sache. Es macht Spaß. den sechs Unermüdlichen zuzusehen, unter der Regie von Gabriele Hänel (mit Hartmut Mechtel auch für die Textfassung verantwortlich) zeigen sie handfestes, turbulentes, körperlich virtuoses Theater mit einer angenehmen Beimengung von Selbstironie.

Christoph Funke (Tagesspiegel, 7. 4. 97)

 

Fortgeschriebene Geschichte

Das Theater o. N. und sein "Reineke Fuchs"

Autor Hartmut Mechtel hat nicht mehr dran geglaubt, daß sein Reineke Fuchs jemals das Licht der Welt erblicken würde. Seit Ende der siebziger Jahre gab es Versuche, das Stück in der DDR zu spielen - aber entweder verließen die Schauspieler das Theater, der Intendant wechselte oder die Wende verhinderte die Drucklegung des Textes. Jetzt wird er endlich gespielt. Zu diesem Zweck gibt es fast eine Reunion von Zinnober, der mittlerweile schon legendären einzigen freien Theatergruppe der DDR. Ein Ereignis, das spielfreudig und frech daher kommt, ohne der Fabel die Butter vom Brot zu holen.
Unter der Leitung von Gabriele Hänel enstand eine Ensembleproduktion; zur Zeit so etwas wie ein weißer Rabe auf der freien Szene. Sieben Schauspieler schlüpfen in das vielfältige Goethe/Mechtelsche Bestiarium und zeigt einen Helden, der nichts mit den niedlichen Kupferstichen der illustrierten Ausgaben zu schaffen hat. Günther Lindner spielt den Reineke zwar mit der typischen Durchtriebenheit, ist dabei aber so glatt und cool, gemein und fast empfindungslos, daß ein Charakter erscheint, der die Demontage des Establishments mit der reinen Lust an der Zerstörung betreibt. So ganz hat das Goethe nicht gemeint. Autor Mechtel hat ihn aber dahin richtig weiterverstanden.
Ohne Pause spinnt sich ein Spektakel mit Henry-Purcellschem Satzgesang, mühelosen Kostümwechseln und einem sich steigernden Ablauf, der die kleine Bühne im Theater o. N. nach kurzer Zeit zu einem weiten llusionsraum vergangen-aktueller Fabelzeiten öffnet. Alle ziehen an einem Strang (Ensemble!), was durch die gleichmäßig mobilisierte Konzentration eine schöne Dichte ergibt. An Einfällen mangelt es nicht. Das Blut fällt als rotes Stoffband vom Kopf; wenn Reineke gehängt wird, zappelt Günther Lindner am Türrahmen und erschlafft, der Thron des Löwen dient als vielseitig eingesetztes Requisit. Dabei kommt der Spaß nicht zu kurz. Die Derbheit der mittelalterlichen Quellen wird nicht unter den Teppich gekehrt. Die Spiegelung der opportunistischen Höflinge im heftigen Spiel stellt die Ratlosigkeit und Verzweiflung bloß, die sich in der speichelleckenden Gesellschaft doch nicht bunkern lassen. Ganz unaufdringlich kann der Zuschauer seine Schlüsse ziehen.
Die erste "Zinnober"-Produktion seit 1990 belebt die Idee einer Theatergruppe, die sich dem selbstbestimmten Duktus nicht entfremdet hat. Die dazugestoßenen neuen Mitglieder haben das Konzept offenbar kapiert, weil sie das Ergebnis genauso mittragen wie die alten Hasen, die ab 1980 Polizei und Stasi auf Trab hielten.
Die Spielstätte am Kollwitzplatz wartet tagsüber mit einem umfangreichen Programm für Kinder auf, das vom Schattentheater über die schrägen Figuren- und Puppentheater Arbeiten des Theaters Handgemenge (die praktisch beim Theater o. N. assoziiert sind) reicht. Das komplette Erdgeschoß dient als Spiel und Probenstätte und ist auf dem Prenzlauer Berg zu einer festen Addresse für freies Theater geworden. Irgendwie wird da eine Geschichte fortgeschrieben, die sich der durch die Wende provozierten Versuchungen und Schwächlichkeiten entzieht. Die Geschlossenheit von eigenem Text, Dramaturgie und Regie bei "Reineke Fuchs" sowie die Integration anderer Gruppen in das Konzept ist in Zeiten schwindender öffentlicher Unterstützung die richtige Gegenwehr, um sich gegen die kommende Eiszeit zu wappnen.

Reiner Schweinfurt, Zitty (25/96)

 

Die steile Karriere eines Intriganten

"Reineke Fuchs" zum Start des Impulse-Festivals. Von Daniel Jahn

Einen wahrhaft tierischen Auftakt erlebte das Off-Theaterfestival "Impulse" am Donnerstagabend in der Brotfabrik. Nach den Begrüßungsansprachen von NRW-Ministerin für Stadtentwicklung, Sport und Kultur, Ilse Brusis, und Oberbürgermei-sterin Bärbel Dieckmann, sprang Reineke Fuchs auf die Bühne. Und in die Bresche: Denn Thorsten Lensings Inszenierung "Der König stirbt/Die letzten Tage der Menschheit" (Köln), die ursprünglich den Auftakt bilden sollte, mußte wegen einer schweren Erkrankung des Hauptdarstellers vor Wochenfrist abgesagt werden. Dafür rückte das Theater O.N. in die Endrunde nach. Besser bekannt ist das Ensemble unter seinem früheren Namen "Zinnober" als einziges freies Theater der DDR. Improvisieren und Experimentieren prägte schon damals das Spiel der O.N.-Truppe. Mit ihrer kurzfristigen Berufung nach Bonn durften die Schauspieler diese Kunst in besonderer Weise erproben. Allein dafür muß man ihnen danken, und vielleicht kommt ja zu der Gunst der Stunde auch noch die der Juroren. Eine viehische Angelegenheit stand zur Verhandlung. Goethes Versepos über den durchtriebenen und skrupellosen Reineke Fuchs diente Hartmut Mechtel als Vorlage einer mutigen und respektlosen Textbearbeitung (Regie: Gabriele Hänel). "Pfingsten, das liebliche Fest" wird zu einem blutigen Schlachtfest, der Hof des Tierkönigs, Löwe Nobel (Mechtel), zum Schlachthof. Reineke, anfangs noch Angeklagter zahlreicher Verbrechen an seinen Mittieren, windet seinen Kopf intrigant und heuchlerisch aus der Schlinge, die sich bereits um seinen Hals zusammen zieht. Den erst Geächteten ernennt der eitle und dumme König schließlich zum Reichskanzler. Das Schicksal der anderen Tiere ist damit besiegelt. Die Patenschaft Bert Brechts ist bei diesem Berliner Reineke unverkennbar. Bei der Figur Hennings, des "zu kurz gekommenen Hahnes", wird sogar dessen "Vaterschaft" bezeugt Die häufigen Rollenwechsel auf offener Bühne - rund ein Dutzend Spieler schlüpfen in 17 Rollen - und einige Passagen inszenierter Improvisationen zeitigen einen (latenten) Verfremdungseffekt, der den zugrundeliegenden Text aus der Fabulierlust und den Zuschauer aus der Illusion reißt. "Der aufhaltsame Aufstieg Reineke Fuchs'" könnte Mechtels Bearbeitung des Epos auch heißen. 'Wenn am Ende ein treuer Königs-Gefolgsmann nach dem anderen über die Klinge springt, der König jede Verantwortung ablehnt und Reineke (Günther Lindner) mit seiner Frau Ermelyn (Melanie Florschütz) dazu sinnlich Tango tanzt, geht Goethe in seiner Aktualität tief unter die Haut.

Aus: General-Anzeiger, Bonn, 22./23. 11. 97

 

 

 

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