Die Handschrift von Saragossa
Rekopis znaleziony w Saragossie
The Saragossa Manuscript
nebst Anmerkungen zu The Prisoner
Es war in früher Jugend und prägte
mich. Ende der 60er Jahre liefen zwei Serien, die unterschiedlich und doch vergleichbar
waren: Sie fesselten mich durch ihre Qualität und die surrealen Momente.
Die eine, im Westfernsehen, hieß "Nummer 6", die andere, im
Ostfernsehen, hieß "Die Abenteuer in der Sierra Morena". Wenn
Serien so sein konnten, warum waren dann nicht alle so? Beide sah ich nicht
vollständig; man konnte noch nichts aufzeichnen, zudem wurden sie nicht
komplett ausgestrahlt. Als "Nummer 6" unter ihrem Originaltitel The
Prisoner auf DVD erschien, sah ich endlich alle Folgen, erneut
fasziniert. Der großartige Patrick McGoohan hatte das Angebot ausgeschlagen,
den ersten (und später auch den dritten) James Bond zu spielen. Er wollte
Nummer 6 sein. Den Älteren ist McGoohan vor allem als Geheimaufträge
lösender "John Drake" bekannt; in "The Prisoner" hat
die Rolle keinen Namen. Nachdem er seinem Chef die Kündigung auf den Tisch
geknallt hat, wird er betäubt. Er erwacht in einem skurril-spießigen
Village, das ein Gefangenenlager ist. Geführt wird es von Nummer 2. McGoohan
wird Nummer 6. Er versucht, herauszubekommen, wo und warum er gerade hier ist,
und Nummer 2 versucht, ihn zu brechen, woran sie scheitert und daraufhin von
einer neuen Nummer 2 abgelöst wird. Das Lager wird total überwacht,
Nummer 6 wird Drogen und Gehirnwäschen ausgesetzt, kann sich an (wie sich
herausstellt: für ihn fingierten) Fluchten beteiligen; er bekommt nicht
mal heraus, ob das Lager in Afrika oder in der Sowjetunion oder sonstwo ist
(in der letzten Folge wird es in England verortet). Ein Mann auf der Suche nach
der Selbstbestimmung über sein Leben in einer alptraumatisch realen Welt.
Was einmal funktionierte, mußte auch ein zweites Mal möglich sein:
ein Jugenderlebnis wiederzufinden. Den Roman Die
Handschrift von Saragossa oder Die Abenteuer in der Sierra Morena
von Jan Potocki hatte ich seinerzeit gelesen und las ihn nun noch einmal, und
dabei fand ich endlich heraus, daß es sich bei der vermeintlichen Fernsehserie
um einen fürs Fernsehen zerhackten Spielfilm handelte, 1965 von Wojciech
Has mit Zbigniew Cybulski in der Hauptrolle gedreht. Nun endlich konnte ich
meiner persönlichen Legende wiederbegegnen, polnisch mit englischen Untertiteln,
gut verständlich mit seinen expressiven Bildern in rätselhaft komplexer
Handlung. Im Vorspiel finden zwei feindliche Offiziere während der napoleonischen
Kriege in einer Hütte ein dickes Manuskript und vergessen den Krieg, den
draußen weiterkämpfenden Soldaten rufen sie ein "Tür zu,
es zieht" zu und lesen die reich bebilderte Handschrift von Saragossa.
Aus dieser heraus reitet im Jahr 1739 der junge wallonische Offizier Alfons
van Worden durch die wilde, unzugängliche Sierra Morena. Er lernt zwei
maurische Prinzessinnen kennen, die vorgeben, seine Verwandten zu sein. Nach
einer heißen Nacht erwacht er unter einem Galgen neben zwei Gehängten.
Haben ihn Dämonen statt Menschen verführt? Von nun an häufen
sich Angriffe auf seinen Geisteszustand, er erwacht öfter mal unterm Galgen
oder im Verlies der Inquisition, trifft aber auch viele Leute, die allesamt
darauf versessen sind, ihm ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Die Lebensgeschichten
machen den Hauptteil von Buch und Film aus, sie verstricken sich ineinander,
es kann sein, daß in einer der Geschichten jemand anderer dem Erzähler
eine Geschichte erzählt, in der jemand auftaucht, der wiederum ihm oder
ihr seine Geschichte erzählt, in der jemand mitspielt, der auch eine Geschichte
zu erzählen weiß. Es ist ein Gespinst wie aus 1001 Nacht, transponiert
in ein Spanien, in dem die Vernunft noch mit der Mystik ringt (das könnte
auch für unsere Gegenwart gelten), indes hängt alles zusammen und
erfüllt einen Zweck, der erst am Ende enthüllt wird. Ein Mann auf
der Suche nach der Selbstbestimmung über sein Leben in einer zugleich alptraumatischen
und verlockenden Welt. Natürlich ist der Film das, was man heute Arthouse-Kino
nennt, und doch auch anders. Ein zugleich überbordend üppiges und
expressionistisch karges Werk voller unheimlicher und komischer Geschichten,
ein Film auch über das Filmemachen, der aus Literatur Leben und aus Leben
Film macht. Der Held emanzipiert sich dadurch, daß er sich aus seiner
Geschichte befreit, indem er sich in sie hinein begibt. Buñuel liebte
den Film, und in einigen seiner späten Filme ("Das Gespenst der Freiheit",
"Die Milchstraße") nutzte er die Erzählstruktur von Has
(die es so auch schon bei Potocki gibt: Der hatte es tatsächlich geschafft,
zwischen 1800 und 1815 einen Roman zu schreiben, den man heute postmodern nennen
müßte), und Has hat das Kunststück vollbracht, das fast 900
Seiten starke Buch in einem Dreistundenfilm eigenständig und dennoch adäquat
wiederzubeleben. Dank Martin Scorsese und Francis Ford Coppola wurde der Film
restauriert und im Directors Cut auf DVD zugänglich gemacht. Ein unbekanntes
Meisterwerk, das nun wiederentdeckt werden oder an dem man einfach nur Spaß
haben kann.
H.M.
Kurzfassung für den Katalog:
Ein zugleich überbordend üppiges und expressionistisch karges Werk voller unheimlicher und komischer Geschichten, surrealistisch und schwankhaft, spannend und witzig. 1739 reitet ein junger Offizier durch die wilde Sierra Morena, begegnet dort verlockenden Frauen, verrückten Einsiedlern, der Inquisition und gehängten Räubern - und vielen Lebensgeschichten, die 1001 Nacht in den Schatten stellen. Ein Meisterwerk, das nicht nur Louis Buñuel inspirierte.