Jörg Ganzer
10.6.1964-25.6.2016
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"Ich war es und ich werde es immer sein, Ihr Freund", sagt Spock in "Star Trek - The Wrath of Khan" kurz vor seinem Tod, und bei Jörgs Beerdigung zitierte es Grit zum Abschluss ihrer Trauerrede, und spätestens da hatte sie mich endgültig erwischt. Denn genau das war er - vielleicht nicht gerade Spock, obwohl er einigen so erschien, aber ein Freund. Der Freund. Mein Freund.
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Widmung meines letzten Reisetagebuches: Der Grundstock des Tagebuchs wurde, wie immer seit meinem ersten Trip mit Jörg (Juli/August 2003 nach Venezuela), während der Reise mit Kuli in ein Notizbuch geschrieben. Da ich diesmal psychisch nicht stabil genug für regelmäßige Notizen war, haben Jörg und ich die fehlenden Tage in Berlin anhand der Fotos gemeinsam rekonstruiert. Das Abtippen der Vor-Ort-Notizen und der gemeinsamen Ergänzungen dauerte lange. Die Hälfte war bewältigt, als Jörg tödlich verunglückte. Ich habe später dann doch weitergeschrieben. Die Erzählhaltung habe ich nicht geändert, denn es sollte kein Nachruf werden, sondern ein Reisebericht, die Erinnerung an die gemeinsame Welterkundung. Jörg wartete darauf. Am Tag vor der Beerdigung war der Text fertig. Falls es ein Jenseits gibt, in dem man an Diesseitigem Anteil nimmt, kennt er ihn nun. Er glaubte nicht ans Jenseits. Ich habe Zweifel am Diesseits. Die Erinnerung bleibt. Erinnerungen als Zitate aus den Tagebüchern meiner Reisen mit Jörg Venezuela Unser Ziel für diesen Tag heißt Las Trincheras del Caura und ist auf der Karte verzeichnet, obwohl es dort nur 20 bis 30 Häuser und höchstens 80 Einwohner gibt, darunter viele Indianerkinder, die um uns herumspringen. Man gibt uns ein Sandwich; Jeannine hat immer Hunger, was man ihr nicht ansieht. Ein kleiner grüner Papagei und zwei sehr große rotbunte dreiste Aras belauern uns und betteln uns an; sie wohnen im Dorf und fliegen nie weg. Jeannine braucht ihr Sandwich selber. Jörg teilt natürlich. Als ich zurückgekehrt bin, fragen sie mich, ob ich Jörgs Vater bin. Nein. Dann schätzen sie unser Alter. Mich auf 60 (wegen der graumelierten Haare; Indianer werden nicht grau), Jörg auf 50 (wegen des Glatzenanflugs; Indianer bekommen keine Glatze). Die Gespräche sind etwas zäh, weil nur Jörg spanisch kann. Der jüngere Indio spricht auch spanisch, der alte kann es kaum besser als ich, und ich kann es gar nicht, verstehe zwar inzwischen ein paar Worte, kann aber keinen Satz sprechen. Uns gegenüber sitzen in langer Reihe weitere Indianer und unser Personal. Auch ein paar Kinder sind dabei. Ein kleiner Junge, er mag 5 oder 6 Jahre alt sein, fällt auf einmal von der Bank. Ihm ist nichts passiert, doch er verzieht sein Gesicht, deutet auf Jörg (der 4 Meter von ihm entfernt sitzt) und sagt etwas. Alle Indianer lachen. Unsere zurückhaltende Köchin, die sonst kaum etwas sagt, übersetzt es ins Spanische (und Jörg für mich ins Deutsche). Der Junge, so sagt sie belustigt, hat behauptet, Jörg habe ihn von der Bank geschubst. Die Nacht, in der Don Jorge el niño von der Bank schubste ... La Gomera Inzwischen hatte ich Spanisch gelernt, um Jörg nicht wegen jeder
Kleinigkeit als Dolmetscher auszunutzen; dies Tagebuch schrieb ich gar
auf Spanisch; der Sinn folgender Passage ist, dass mir beim Besteigen
der Felsformation La Fortaleza knapp unter dem Gipfel schwindlig wurde;
ich kehrte um, Jörg stieg die letzten Meter allein auf und nahm oben
für mich ein Foto auf, damit ich weiß, wie es dort und von
dort aussah ... Venedig Harald hatte uns empfohlen, Schlafsäcke mitzunehmen, damit wir notfalls
auf einem Parkplatz schlafen können, in Venedig finde man nichts,
aber das war natürlich Unfug, ich schlafe doch nicht im Auto, hatte
längst versucht, ein Hotel in Mestre zu buchen, der stillosen Neubauvorstadt
von Venedig, was mir nicht gelang, weil ich keine Kreditkarte besitze;
ich hatte es dann Jörg übertragen. Auf gings Richtung Klagenfurt,
dann weiter Richtung Udine, dann Richtung Venedig. Mein altertümlicher
Routenplaner von 1996 verzeichnete die neue Autobahn noch nicht, auf einmal
waren wir an Venedig vorbeigefahren in Richtung Mailand (wo wir vor ein
paar Monaten nach dem Nicht-Flug-Desaster gestrandet waren); wir mußten
umkehren, nur um uns dann in Mestre wiederum gründlich zu verfahren.
Harald stieg aus und erkundete (keine Ahnung wie, vielleicht fragte er
einen deutsch oder englisch sprechenden Mestrianer) den Weg, gab mir präzise
Anweisungen, die mich durch eine gesperrte Straße führten,
was aber kein Bulle bemerkte - und auf einmal standen wir, es war wie
ein Wunder, vor dem Hotel Venezia. Auf dem Hotelparkplatz gab es genau
noch einen freien Platz für mein Auto, und der deutsch sprechende
Rezeptionist wußte von unserem Kommen und gab uns den Zimmerschlüssel.
Ein Ehebett, eine (immerhin mannsgroße) Schlafstelle fürs Kind
- die wiesen wir dem Größten von uns, Harald, dem Schnarcher,
zu. Wanderten dann durch das häßliche Mestre, erkundeten, wo
Busse nach Venedig fahren, entdeckten den Marktplatz, auf dem ein paar
ältere (also ansehnlichere, aber nicht wirklich schöne) Häuser
stehen, aßen was, tranken Bier (ich nach der langen Fahrt den ersten
halben Liter Ex, was den Kellner denn doch verblüffte: daß
ich eine Minute, nachdem er das Bier gebracht hatte, das leere Glas zum
Nachfüllen auf seinen Tresen stellte. Ich hatte vorher ein bissel
italienisch lernen wollen, es aber nicht geschafft. Wäre auch nicht
nötig gewesen, das Gastro-Gewerbe spricht deutsch oder englisch,
und mit anderen bekommt man es eh nicht zu tun. Früh zu Bett, früh
wieder auf, Frühstücksbuffet mit plarrigem Kaffee im Hotel,
um 10 zum Bus, in dem man nicht bezahlen konnte, wir hätten das Ticket
vorher kaufen müssen, der Busfahrer winkte uns durch. Eine halbe
Stunde später waren wir in Venedig. Guatemala Die Indianer betreiben eine kleine Sauna, deren Nutzung im Preis inbegriffen
ist. Wir sollten nackt hingehen, sagte man uns. Wie sonst, drinnen kann
man sich ja nicht ausziehen, kein Platz. Carlo hält es für einen
Scherz, und Elena kann es nicht fassen. Sie hatte schon herumgezickt,
als sie mitbekam, daß es nur die eine Hütte gibt und sie mit
Männern in einem Raum schlafen muß. Und nun das? Nackt über
den Hof laufen und sich mit drei Männern gemeinsam in eine Sauna
zwängen? Auf keinen Fall. Wir lassen ihr den Vortritt, und als die
Sauna auf Temperatur ist, huscht sie in weißer Sportkleidung durch
die Nacht. Auf keinen Fall desnudo - nicht mal das Wort kann sie vor Empörung
aussprechen. Eine halbe Stunde später sind wir an der Reihe. Jörg
und ich ziehen uns vor unserem Bungalow aus und gehen barfuß, die
edlen Teile notdürftig mit unseren kleinen Handtüchern kaschierend,
über den dunklen Hof zur Sauna. Sie ist kaum größer als
eine Hundehütte. Wenig später folgt uns Carlo, der vergessen
hatte, ein Handtuch mit auf die Wanderung zu nehmen, aber nun irgendwo
eines aufgetrieben hat. Vor dem Eingang hängt eine Plane. Drinnen
sind Bretter angebracht, auf denen man sitzen und schwitzen kann, rechts
steht ein Plastikbehälter mit kaltem Wasser und einer darin schwimmenden
Plastikschüssel. Links liegt der Holzkohlehaufen, der die Hitze produziert.
Eine Kerze neben dem Eingang ist das einzige Licht. Mexiko Vor der Tür warten wir drei Minuten auf ein Taxi, sind zu früh am Busterminal, warten dort. Ich lasse mir von Jörg Geld fürs Klo geben. Für drei Pesos kann man eine Barriere überwinden, die eines Tresors würdig gewesen wäre. Dahinter, immerhin, liegt das nobelste und sauberste Klo, das ich bisher in Mexiko gesehen habe (und die Mexikaner sind keinesfalls unreinlich). Da ich danach einer verschlossenen Tür wegen aus einem Ausgang des Nebengebäudes gekommen bin, verfehlt Jörg das Klo und irrt durch eine Einkaufspassage. Eine Zigarettenlänge später hat er es endlich gefunden. Fünf Minuten nach der Abfahrtszeit dürfen wir einchecken wie auf einem Flughafen. Auf unserem Sitz hat es sich ein fetter Hippie bequem gemacht, aber die Plätze sind numeriert, er muß weichen. Im Bus ist der Abstand zum Vordersitz größer als im Flugzeug; es besteht gute Aussicht, daß auch Jörg schlafen kann bei dieser Nachtfahrt. Ein Irrtum. Sein Vordermann klappt den Sitz herunter, meiner - der Fette - nicht. Ich schlafe schnell ein, Jörg nicht. Irgendwann in der Nacht, wir rasten eine halbe Stunde an einer Kneipe, erzählt er mir von den Kontrollen. Dreimal sei der Bus angehalten und kontrolliert worden. Vom Militär, von der Polizei, zum Schluß, am gründlichsten, von einem einsamen Zivilisten, der den Bus mit einer Taschenlampe angehalten hat. Letzterer habe sich etliche Leute und auch das Gepäck angesehen. Ich habe alles verschlafen, und als es nach der Pause weitergeht, bin ich auch bald wieder entschlummert. Als wir kurz vor 7 Uhr in Pochutla anlangen, bin ich ausgeschlafen. Jörg nicht. Er spottet über sich: Wenn du Tagebücher schreibst, könnte ich Nachtbücher schreiben. Dutzende Reisen und ausgedehnte Wanderungen - auch in Deutschland, gar in Berlin - bleiben hier unerwähnt. Es folgen nur noch ein paar Notizen und Bilder der letzten Reise. Andalusien Das Castillo Árabe überragt alles. Hier hatten schon die Römer gebaut, die Araber setzten ihren Befestigungs-Gigantismus auf römische Überreste, und dann kam die Reconquista, und die Spanier übernahmen alles. Voller Bekehrungseifer bauten sie in der Stadt 23 Kirchen, was selbst für eine Großstadt eine stattliche Zahl wäre. Man sieht die Kirchlein im Tal der Stadt; nur eine ist so hoch wie das Kastell gelegen. Wir zahlen Eintritt für Festung und Kirche, ich ermäßigt, weil man mich als Rentner identifiziert hat, worüber ich nicht wirklich froh bin: Ich sehe so alt aus, wie ich bin. Dann wandern wir durch den zypressengesäumten kleinen Park des Kastells, laufen über Mauern, durch Gänge, auf Türme. Überreste römischer Statuen - abgeschlagene Beine und ähnliches - wurden als Schmuck auf die Zinnen gesetzt, und im Hintergrund schlummert der Indianer. Ein großes Erdloch am Rande wird uns als Rest eines römischen Grabes angekündigt, und weil hier alles so römisch ist, salutiert Jörg für ein Foto unter der auf dem höchsten Turm gehissten spanischen Fahne wie ein Römer. Wir fahren an den südlichsten Zipfel Spaniens. Die Verbindung zwischen dem Atlantik und dem Mittelmeer ist zwar nach Gibraltar benannt, doch deren engste Stelle wiederum liegt bei Tarifa, einer Stadt, die so klein ist, dass die Karte schon einen tollen Maßstab haben muss, wenn sie überhaupt eingezeichnet ist (obwohl die 18.000 Einwohner, die meist angegeben werden, so wenig auch nicht sind). Gibraltar mag 20 Kilometer entfernt sein. Von dort aus ist die afrikanische Küste 25 km entfernt. In Tarifa, das als südlichster Punkt des europäischen Festlands gilt, sind es nur 14 Kilometer bis Afrika. Von hier aus wurde früher (und wird in gewisser Weise auch heute) die Meerenge überwacht. Die Spanier versuchten von dort aus jahrzehntelang vergebens, Gibraltar den Engländern wieder abzujagen. Und wegen der Winde, die beide Meere reichlich vorbeischicken, trifft hier alles zusammen, was sich ohne Motorkraft in der Luft bewegt. Tarifa ist eine wichtige Station für Zugvögel, die man jenseits von deren Wanderungen freilich nicht sieht. Immer dort anzutreffen sind die Windsurfer.Wer baden will, fährt ans Mittelmeer, wer wandern will, ins Landesinnere, wer windsurfen will, trifft sich mit Gleichgesinnten in Tarifa. Selbst jetzt, außerhalb jeder Saison, fliegen hunderte an ihren bunten Schirmen am Ufer entlang über das Meer. Wir laufen an der befestigten Strandpromenade in Richtung Zentrum, der León parkt in einem Neubau-Außenbezirk. In naher Ferne liegt ein Gebirge, an dessen Hängen riesige Windräder stehen, hinter einer aus unserer Perspektive schmalen Bucht. Ich sage Jörg, das sei Afrika. Er glaubt es nicht. Viel zu nah, meint er, und haben die da überhaupt so viele Kranichhäcksler? Wir kehren für Kaffee, Cola und Zigarette ein, und Jörg fragt die Kellnerin, wo denn Afrika sei. Überall, sagt sie, verblüfft ob der Frage, und deutet auf die Windradberge. Itálica war einst eine römische Stadt, und sie liegt bei
Sevilla, also in unserer Nähe. Natürlich fahren wir hin. Es
ist einer der wenigen Orte, die nach der maurischen Eroberung nicht aufblühte,
sondern vergessen wurde, was auch an der Nähe zur (ebenfalls einst
römischen) großen Stadt Sevilla liegen mag. Die Bewohner von
Santiponce - so heißt das Dorf neben der antiken Stadt - mögen
einige Jahrhunderte lang nicht einmal gewusst haben, dass da überhaupt
einst jene Stadt gelegen hatte; gelegentlich bediente man sich für
eigene Bauten einiger Steine der Römer. Erst im 18. Jahrhundert begann
man mit Ausgrabungen, und ein Jahrhundert später lag einigermaßen
frei, was unter Sand, Wasser und Grün auf seine Widerentdeckung gewartet
hatte. Die EU gab Geld, heute ist es ein archäologisch-touristischer
Park, der Eintritt für EU-Büger ist frei. Die Häuser sind
längst verfallen, doch ihre Mosaikfußböden blieben verblüffend
gut erhalten, schwarzweiße Ornamente und Tierbilder, farbige Götterbilder.
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