Jörg Ganzer

10.6.1964-25.6.2016

Jörg ist gestern gestorben. Das ist so unfassbar, dass ich nichts Vernünftiges dazu schreiben kann im Augenblick. Jetzt, am Sonntagabend, würde er mit mir auf meinem Balkon sitzen. Aber er ist nicht da. Nie mehr. Ich war arbeiten. Er machte eine Radtour im Brandenburgischen mit einem alten Freund namens Thomas; die beiden kannten sich seit der Schulzeit, hatten gemeinsam eine Punkband gegründet und Thomas dann später das Negativeland, das nach und nach an Jörg überging. Eine schöne Fahrt, sagte mir Thomas. Jörg hatte viel von unserem Spanien-Urlaub erzählt. Sie waren auf der Rückfahrt. Auf einer Landstraße - Thomas war etwa 70 Meter vor Jörg - hörte Thomas es hinter sich krachen und scheppern, so laut, dass er sich umdrehte. Ein Auto kam auf ihn zu, Jörgs Rad lag auf der Motorhaube, Jörg war nicht zu sehen. Er kehrte um. Jörg lag im Straßengraben, blutig, aber irgendwie friedlich. Im Graben war eine kleine Mauer, entweder durch den Aufprall des Autos oder an der Mauer war er getötet worden. Thomas begriff erst, dass er tot war, als die Sanitäter eine Plane über ihn breiteten. So hat er es mir heute erzählt. Aus einer Online-Zeitung: >> Zu einem schweren Verkehrsunfall zwischen Biesenthal und Rüdnitz in Höhe Ortslage Wullwinkel wurden Einsatzkräfte von Polizei und Rettungsdienst am Samstagnachmittag gerufen. Aus derzeit unklarer Ursache fuhr ein 87 jähriger PKW- Fahrer auf einen in gleicher Richtung fahrenden Fahrradfahrer auf. Der 52-jährige Radfahrer wurde durch den Aufprall in den Straßengraben geschleudert und erlag noch am Unfallort seinen schweren Verletzungen. Im Rahmen der Einsatzmaßnahmen kam es auf der L 200 zu erheblichen Verkehrsbeeinträchtigungen, so die Polizeiinspektion Barnim in einer Mitteilung.<< Ich telefoniere dauernd mit seinen Freundinnen und Freunden, auch mit dem Vater (der Vater, Jörg und ich waren an Jörgs Geburtstag zusammen durch Potsdam gewandert). Alles ist unklar. Unvorstellbar. Alle vermissen ihn. Er war noch nicht dran. Er hatte mir gesagt, ich solle den Familienfluch überwinden, denn was solle er machen, wenn ich nächstes Jahr nicht mehr da bin? Jetzt ist er nicht mehr da.


Aus meiner Mail an Otto Emersleben vom 26.6.2016

 

 

 

 

 


 

"Ich war es und ich werde es immer sein, Ihr Freund", sagt Spock in "Star Trek - The Wrath of Khan" kurz vor seinem Tod, und bei Jörgs Beerdigung zitierte es Grit zum Abschluss ihrer Trauerrede, und spätestens da hatte sie mich endgültig erwischt. Denn genau das war er - vielleicht nicht gerade Spock, obwohl er einigen so erschien, aber ein Freund. Der Freund. Mein Freund.

 

 

 

 

 

 

 

Widmung meines letzten Reisetagebuches:

Der Grundstock des Tagebuchs wurde, wie immer seit meinem ersten Trip mit Jörg (Juli/August 2003 nach Venezuela), während der Reise mit Kuli in ein Notizbuch geschrieben. Da ich diesmal psychisch nicht stabil genug für regelmäßige Notizen war, haben Jörg und ich die fehlenden Tage in Berlin anhand der Fotos gemeinsam rekonstruiert. Das Abtippen der Vor-Ort-Notizen und der gemeinsamen Ergänzungen dauerte lange. Die Hälfte war bewältigt, als Jörg tödlich verunglückte. Ich habe später dann doch weitergeschrieben. Die Erzählhaltung habe ich nicht geändert, denn es sollte kein Nachruf werden, sondern ein Reisebericht, die Erinnerung an die gemeinsame Welterkundung. Jörg wartete darauf. Am Tag vor der Beerdigung war der Text fertig. Falls es ein Jenseits gibt, in dem man an Diesseitigem Anteil nimmt, kennt er ihn nun. Er glaubte nicht ans Jenseits. Ich habe Zweifel am Diesseits. Die Erinnerung bleibt.

Erinnerungen als Zitate aus den Tagebüchern meiner Reisen mit Jörg

Venezuela

Unser Ziel für diesen Tag heißt Las Trincheras del Caura und ist auf der Karte verzeichnet, obwohl es dort nur 20 bis 30 Häuser und höchstens 80 Einwohner gibt, darunter viele Indianerkinder, die um uns herumspringen. Man gibt uns ein Sandwich; Jeannine hat immer Hunger, was man ihr nicht ansieht. Ein kleiner grüner Papagei und zwei sehr große rotbunte dreiste Aras belauern uns und betteln uns an; sie wohnen im Dorf und fliegen nie weg. Jeannine braucht ihr Sandwich selber. Jörg teilt natürlich.

Als ich zurückgekehrt bin, fragen sie mich, ob ich Jörgs Vater bin. Nein. Dann schätzen sie unser Alter. Mich auf 60 (wegen der graumelierten Haare; Indianer werden nicht grau), Jörg auf 50 (wegen des Glatzenanflugs; Indianer bekommen keine Glatze). Die Gespräche sind etwas zäh, weil nur Jörg spanisch kann. Der jüngere Indio spricht auch spanisch, der alte kann es kaum besser als ich, und ich kann es gar nicht, verstehe zwar inzwischen ein paar Worte, kann aber keinen Satz sprechen. Uns gegenüber sitzen in langer Reihe weitere Indianer und unser Personal. Auch ein paar Kinder sind dabei. Ein kleiner Junge, er mag 5 oder 6 Jahre alt sein, fällt auf einmal von der Bank. Ihm ist nichts passiert, doch er verzieht sein Gesicht, deutet auf Jörg (der 4 Meter von ihm entfernt sitzt) und sagt etwas. Alle Indianer lachen. Unsere zurückhaltende Köchin, die sonst kaum etwas sagt, übersetzt es ins Spanische (und Jörg für mich ins Deutsche). Der Junge, so sagt sie belustigt, hat behauptet, Jörg habe ihn von der Bank geschubst. Die Nacht, in der Don Jorge el niño von der Bank schubste ...

La Gomera

Inzwischen hatte ich Spanisch gelernt, um Jörg nicht wegen jeder Kleinigkeit als Dolmetscher auszunutzen; dies Tagebuch schrieb ich gar auf Spanisch; der Sinn folgender Passage ist, dass mir beim Besteigen der Felsformation La Fortaleza knapp unter dem Gipfel schwindlig wurde; ich kehrte um, Jörg stieg die letzten Meter allein auf und nahm oben für mich ein Foto auf, damit ich weiß, wie es dort und von dort aussah ...
El próximo día sufrí una derrota. La Fortaleza de Chipude es una meseta, como un tepuy en Venzuela, es cierto que pequeña, pero un pico de rocas escarpadas. Es necesario trepar. Nos encontramos con los dos jóvenes. Dijeron que yo no acabaría el ascenso. No les creí. 10 metros debajo de la cumbre me sentí mareado. Pensé que me iba a caer 200 metros monte abajo. A gatas bajé con cuidado. Jorge derrotó La Fortaleza solo.

Venedig

Harald hatte uns empfohlen, Schlafsäcke mitzunehmen, damit wir notfalls auf einem Parkplatz schlafen können, in Venedig finde man nichts, aber das war natürlich Unfug, ich schlafe doch nicht im Auto, hatte längst versucht, ein Hotel in Mestre zu buchen, der stillosen Neubauvorstadt von Venedig, was mir nicht gelang, weil ich keine Kreditkarte besitze; ich hatte es dann Jörg übertragen. Auf gings Richtung Klagenfurt, dann weiter Richtung Udine, dann Richtung Venedig. Mein altertümlicher Routenplaner von 1996 verzeichnete die neue Autobahn noch nicht, auf einmal waren wir an Venedig vorbeigefahren in Richtung Mailand (wo wir vor ein paar Monaten nach dem Nicht-Flug-Desaster gestrandet waren); wir mußten umkehren, nur um uns dann in Mestre wiederum gründlich zu verfahren. Harald stieg aus und erkundete (keine Ahnung wie, vielleicht fragte er einen deutsch oder englisch sprechenden Mestrianer) den Weg, gab mir präzise Anweisungen, die mich durch eine gesperrte Straße führten, was aber kein Bulle bemerkte - und auf einmal standen wir, es war wie ein Wunder, vor dem Hotel Venezia. Auf dem Hotelparkplatz gab es genau noch einen freien Platz für mein Auto, und der deutsch sprechende Rezeptionist wußte von unserem Kommen und gab uns den Zimmerschlüssel. Ein Ehebett, eine (immerhin mannsgroße) Schlafstelle fürs Kind - die wiesen wir dem Größten von uns, Harald, dem Schnarcher, zu. Wanderten dann durch das häßliche Mestre, erkundeten, wo Busse nach Venedig fahren, entdeckten den Marktplatz, auf dem ein paar ältere (also ansehnlichere, aber nicht wirklich schöne) Häuser stehen, aßen was, tranken Bier (ich nach der langen Fahrt den ersten halben Liter Ex, was den Kellner denn doch verblüffte: daß ich eine Minute, nachdem er das Bier gebracht hatte, das leere Glas zum Nachfüllen auf seinen Tresen stellte. Ich hatte vorher ein bissel italienisch lernen wollen, es aber nicht geschafft. Wäre auch nicht nötig gewesen, das Gastro-Gewerbe spricht deutsch oder englisch, und mit anderen bekommt man es eh nicht zu tun. Früh zu Bett, früh wieder auf, Frühstücksbuffet mit plarrigem Kaffee im Hotel, um 10 zum Bus, in dem man nicht bezahlen konnte, wir hätten das Ticket vorher kaufen müssen, der Busfahrer winkte uns durch. Eine halbe Stunde später waren wir in Venedig.
Es stellte sich heraus, daß außer uns noch andere Menschen auf den Einfall gekommen waren, Venedig ausgerechnet an diesem Tag zu besuchen. Die Straßen waren voll, die Hauptstrecken überfüllt, auf der Rialto-Brücke kam ich nicht mal bis ans Geländer durch, um den Canal Grande zu fotografieren. Ab und zu machten wir eine Kaffee-Wasser-Cola-Pause, und weiter gings durch das Gedränge. Venedig ist tatsächlich eine sehenswerte Stadt mit einer Atmosphäre, die selbst durch Touristenmassen nicht gekillt wird. Malerische Palazzi, marode Häuser, überall blättert Putz von den grindigen Fassaden, aber selbst die verkommensten Bauten wirken immer noch angenehmer als das ganze Neubau-Mestre.
Das Wetter meinte es gut, es war meist bewölkt, nieselte nur kurz, es war nie unerträglich heiß, trotzdem ermüdete die Pflastertreterei natürlich auf Dauer. Nippesladen reihte sich an Nippesladen, alles für den Touristen, der sich vielleicht für venezianischen Tand interessieren mag, aber nicht für diese Schwemme. In einem Schaufenster entdeckte Jörg einen Taschenaschenbecher, der zehnmal so schön ist wie die Reiseaschenbecher, die wir nutzen, konnte sich aber nicht dazu entschließen, den Tandladen zu betreten, was er wenig später bereute. Als wir den Laden am frühen Abend auf dem Rückweg wiederfanden, war er längst geschlossen und damit das Aschenbecherjuwel bis an unser Lebensende unerreichbar.

Guatemala

Die Indianer betreiben eine kleine Sauna, deren Nutzung im Preis inbegriffen ist. Wir sollten nackt hingehen, sagte man uns. Wie sonst, drinnen kann man sich ja nicht ausziehen, kein Platz. Carlo hält es für einen Scherz, und Elena kann es nicht fassen. Sie hatte schon herumgezickt, als sie mitbekam, daß es nur die eine Hütte gibt und sie mit Männern in einem Raum schlafen muß. Und nun das? Nackt über den Hof laufen und sich mit drei Männern gemeinsam in eine Sauna zwängen? Auf keinen Fall. Wir lassen ihr den Vortritt, und als die Sauna auf Temperatur ist, huscht sie in weißer Sportkleidung durch die Nacht. Auf keinen Fall desnudo - nicht mal das Wort kann sie vor Empörung aussprechen. Eine halbe Stunde später sind wir an der Reihe. Jörg und ich ziehen uns vor unserem Bungalow aus und gehen barfuß, die edlen Teile notdürftig mit unseren kleinen Handtüchern kaschierend, über den dunklen Hof zur Sauna. Sie ist kaum größer als eine Hundehütte. Wenig später folgt uns Carlo, der vergessen hatte, ein Handtuch mit auf die Wanderung zu nehmen, aber nun irgendwo eines aufgetrieben hat. Vor dem Eingang hängt eine Plane. Drinnen sind Bretter angebracht, auf denen man sitzen und schwitzen kann, rechts steht ein Plastikbehälter mit kaltem Wasser und einer darin schwimmenden Plastikschüssel. Links liegt der Holzkohlehaufen, der die Hitze produziert. Eine Kerze neben dem Eingang ist das einzige Licht.
Kaum sitzen wir zu dritt nackt auf den Brettern, als Anna die Plane beiseiteschiebt und in die Hütte blickt. Vermutlich will sie drei nackte Gringos sehen. Wir haben nichts dagegen. Sie sagt uns, wir sollen Wasser auf den Holzkohlehaufen spritzen, damit es heißer wird. Dann verschwindet sie wieder. Jörg übernimmt die Aufgabe. Sofort wird es sehr heiß in der Hütte. Carlo, der wahrscheinlich zum ersten Mal in einer Sauna ist (anderenfalls hätte er sein Handtuch nicht vergessen), fürchtet, zu ersticken, will die Plane öffnen. Ich bin dagegen, verweise auf die Kerze. Die Worte fehlen mir, Jörg springt ein und sagt, was ich meinte: Solange die Kerze brennt, gibt es genug Sauerstoff in der Hütte. Carlo versteht es sofort. Es ist einfach nur heiß. So ist Sauna also. Die Plane bleibt zu. Wir sitzen und schwitzen. Ich liebe es, zu schwitzen. Aber irgendwann reicht es mir. Wie zum Teufel kühlt man sich hier ab? Und vor allem: wo? Gewiß nicht auf dem Sandboden vor den Brettern, da würde man die Kerze löschen, der Boden ist zwar feucht, aber Elena war ja vor uns in der Hundehütte, und sie wußte es nicht besser. Ich tippe darauf, daß man sich auf den Brettern abkühlt. In der Saunahitze sind sie ein paar Minuten später wieder trocken. Also schütte ich mir kaltes Wasser über den Körper und juchze vor mich hin, die Beine auch, mahnt Jörg, tatsächlich die hatte ich vergessen. Die Poren schließen sich, und ich krieche nackt aus der Hütte und trockne mich ab. Ich laufe zur Hütte und ziehe mich an. Kurz nach mir kommt Jörg, als letzter der Italiener. Nicolas und Elena liegen schon im Bett. Wir gehen in die Hütte, in der gerade das elektrische Licht ausgefallen ist (immerhin gab es welches).
(...)Sehr unterschiedlich verläuft die Nacht für Jörg und mich. Ich schlafe 10 Stunden wie ein Baby, wache nur einmal zum Pinkeln auf, das ich vor der Tür erledige, und schlafe danach sofort wieder ein. Jörg hingegen hat, wie so oft, Pech. Er rammt sich den Kopf an einem Balken blutig, hat davon Kopfschmerzen, nimmt Schmerztabletten ein und hört die Geräusche der Nacht, die mich inzwischen beruhigen, das unzeitgemäße Krähen der Hähne und die orgiastisch kläffenden Hundemeuten. Nach kurzem, unruhigen Schlaf und stundenlangem Herumwälzen erhebt er sich gerädert. Ich bin ausgeruht wie schon lange nicht mehr. Als ich die Platzwunde auf seinem rasierten Kopf und die Harzspuren der Holzbalken sehe, bin ich nahe daran, zu weinen, so leid tut er mir, und ich fühle mich schuldig, weil ich nicht oben geschlafen habe. Mir wäre sicher nichts passiert, außer vielleicht, daß sich mein Bauch an einem der Deckenbalken verklemmt hätte beim Umdrehen. Später sagt Jörg zu Nicolas, das Bett sei gefährlich, und zeigt ihm die Wunde. Nicolas kann sich das Lachen verkneifen, weil er einsieht, daß Jörg Recht hat, aber ein wenig lästern muß er doch: Wer oben schläft, muß einen Schutzhelm tragen. Mir sagt Jörg später, daß er nie wieder eine Mehrtagestour machen möchte. Ein echtes Hotel am Abend muß sein.

Mexiko

Vor der Tür warten wir drei Minuten auf ein Taxi, sind zu früh am Busterminal, warten dort. Ich lasse mir von Jörg Geld fürs Klo geben. Für drei Pesos kann man eine Barriere überwinden, die eines Tresors würdig gewesen wäre. Dahinter, immerhin, liegt das nobelste und sauberste Klo, das ich bisher in Mexiko gesehen habe (und die Mexikaner sind keinesfalls unreinlich). Da ich danach einer verschlossenen Tür wegen aus einem Ausgang des Nebengebäudes gekommen bin, verfehlt Jörg das Klo und irrt durch eine Einkaufspassage. Eine Zigarettenlänge später hat er es endlich gefunden. Fünf Minuten nach der Abfahrtszeit dürfen wir einchecken wie auf einem Flughafen. Auf unserem Sitz hat es sich ein fetter Hippie bequem gemacht, aber die Plätze sind numeriert, er muß weichen. Im Bus ist der Abstand zum Vordersitz größer als im Flugzeug; es besteht gute Aussicht, daß auch Jörg schlafen kann bei dieser Nachtfahrt. Ein Irrtum. Sein Vordermann klappt den Sitz herunter, meiner - der Fette - nicht. Ich schlafe schnell ein, Jörg nicht. Irgendwann in der Nacht, wir rasten eine halbe Stunde an einer Kneipe, erzählt er mir von den Kontrollen. Dreimal sei der Bus angehalten und kontrolliert worden. Vom Militär, von der Polizei, zum Schluß, am gründlichsten, von einem einsamen Zivilisten, der den Bus mit einer Taschenlampe angehalten hat. Letzterer habe sich etliche Leute und auch das Gepäck angesehen. Ich habe alles verschlafen, und als es nach der Pause weitergeht, bin ich auch bald wieder entschlummert. Als wir kurz vor 7 Uhr in Pochutla anlangen, bin ich ausgeschlafen. Jörg nicht. Er spottet über sich: Wenn du Tagebücher schreibst, könnte ich Nachtbücher schreiben.

Dutzende Reisen und ausgedehnte Wanderungen - auch in Deutschland, gar in Berlin - bleiben hier unerwähnt. Es folgen nur noch ein paar Notizen und Bilder der letzten Reise.

Andalusien

Das Castillo Árabe überragt alles. Hier hatten schon die Römer gebaut, die Araber setzten ihren Befestigungs-Gigantismus auf römische Überreste, und dann kam die Reconquista, und die Spanier übernahmen alles. Voller Bekehrungseifer bauten sie in der Stadt 23 Kirchen, was selbst für eine Großstadt eine stattliche Zahl wäre. Man sieht die Kirchlein im Tal der Stadt; nur eine ist so hoch wie das Kastell gelegen. Wir zahlen Eintritt für Festung und Kirche, ich ermäßigt, weil man mich als Rentner identifiziert hat, worüber ich nicht wirklich froh bin: Ich sehe so alt aus, wie ich bin. Dann wandern wir durch den zypressengesäumten kleinen Park des Kastells, laufen über Mauern, durch Gänge, auf Türme. Überreste römischer Statuen - abgeschlagene Beine und ähnliches - wurden als Schmuck auf die Zinnen gesetzt, und im Hintergrund schlummert der Indianer. Ein großes Erdloch am Rande wird uns als Rest eines römischen Grabes angekündigt, und weil hier alles so römisch ist, salutiert Jörg für ein Foto unter der auf dem höchsten Turm gehissten spanischen Fahne wie ein Römer.

Wir fahren an den südlichsten Zipfel Spaniens. Die Verbindung zwischen dem Atlantik und dem Mittelmeer ist zwar nach Gibraltar benannt, doch deren engste Stelle wiederum liegt bei Tarifa, einer Stadt, die so klein ist, dass die Karte schon einen tollen Maßstab haben muss, wenn sie überhaupt eingezeichnet ist (obwohl die 18.000 Einwohner, die meist angegeben werden, so wenig auch nicht sind). Gibraltar mag 20 Kilometer entfernt sein. Von dort aus ist die afrikanische Küste 25 km entfernt. In Tarifa, das als südlichster Punkt des europäischen Festlands gilt, sind es nur 14 Kilometer bis Afrika. Von hier aus wurde früher (und wird in gewisser Weise auch heute) die Meerenge überwacht. Die Spanier versuchten von dort aus jahrzehntelang vergebens, Gibraltar den Engländern wieder abzujagen. Und wegen der Winde, die beide Meere reichlich vorbeischicken, trifft hier alles zusammen, was sich ohne Motorkraft in der Luft bewegt. Tarifa ist eine wichtige Station für Zugvögel, die man jenseits von deren Wanderungen freilich nicht sieht. Immer dort anzutreffen sind die Windsurfer.Wer baden will, fährt ans Mittelmeer, wer wandern will, ins Landesinnere, wer windsurfen will, trifft sich mit Gleichgesinnten in Tarifa. Selbst jetzt, außerhalb jeder Saison, fliegen hunderte an ihren bunten Schirmen am Ufer entlang über das Meer. Wir laufen an der befestigten Strandpromenade in Richtung Zentrum, der León parkt in einem Neubau-Außenbezirk. In naher Ferne liegt ein Gebirge, an dessen Hängen riesige Windräder stehen, hinter einer aus unserer Perspektive schmalen Bucht. Ich sage Jörg, das sei Afrika. Er glaubt es nicht. Viel zu nah, meint er, und haben die da überhaupt so viele Kranichhäcksler? Wir kehren für Kaffee, Cola und Zigarette ein, und Jörg fragt die Kellnerin, wo denn Afrika sei. Überall, sagt sie, verblüfft ob der Frage, und deutet auf die Windradberge.

Itálica war einst eine römische Stadt, und sie liegt bei Sevilla, also in unserer Nähe. Natürlich fahren wir hin. Es ist einer der wenigen Orte, die nach der maurischen Eroberung nicht aufblühte, sondern vergessen wurde, was auch an der Nähe zur (ebenfalls einst römischen) großen Stadt Sevilla liegen mag. Die Bewohner von Santiponce - so heißt das Dorf neben der antiken Stadt - mögen einige Jahrhunderte lang nicht einmal gewusst haben, dass da überhaupt einst jene Stadt gelegen hatte; gelegentlich bediente man sich für eigene Bauten einiger Steine der Römer. Erst im 18. Jahrhundert begann man mit Ausgrabungen, und ein Jahrhundert später lag einigermaßen frei, was unter Sand, Wasser und Grün auf seine Widerentdeckung gewartet hatte. Die EU gab Geld, heute ist es ein archäologisch-touristischer Park, der Eintritt für EU-Büger ist frei. Die Häuser sind längst verfallen, doch ihre Mosaikfußböden blieben verblüffend gut erhalten, schwarzweiße Ornamente und Tierbilder, farbige Götterbilder.
Es ist kalt und trübe, nieselt manchmal, aber wir wandern über historischen Boden, selbst etliche Steinplatten der Römer liegen noch auf den Wegen. Itálica scheint wirklich einmal bedeutsam gewesen zu sein, denn zwei römische Kaiser, die zu den wichtigsten des 2. Jahrhunderts gezählt werden, stammten von hier: Trajan und Hadrian. Das 2. Jahrhundert wird meist auch das goldene Zeitalter der Antonine genannt, der Adoptivkaiser; die Kaiser waren kinderlos und adoptierten jemanden, den sie für geeignet hielten, als potentiellen Nachfolger. Nerva adoptierte - warum auch immer, sie kannten sich kaum - Trajan, und der adoptierte seinen Neffen Hadrian. Erst Marc Aurel hatte dummerweise einen Sohn, und der Nichtsnutz Commodus gilt bis heute als einer der Verursacher des Untergangs des Römischen Reichs. Über Hadrian schrieb die französische Autorin Marguerite Yourcenar die Mémoires d'Hadrian (in der westdeutschen Ausgabe mit "Ich zähmte die Wölfin" übersetzt, in der ostdeutschen korrekt mit "Erinnerungen des Hadrian"; der Roman gilt auch Historikern als Standardwerk über Hadrian). Ich hatte das Buch vor langer Zeit gekauft, aber gelesen hat es nur Jörg, und das vor kurzem. Nicht nur deshalb ist er der Spezialist für römische Geschichte und weiß das eine und andere zu den zahlreich im Park verteilten Tafelinschriften zu ergänzen.
Wir streifen über das große Gelände, weichen einer Schulklasse aus, andere Besucher verlaufen sich, meist sind wir allein mit den römischen Ruinen.Vorbei an einem See nähern wir uns dem Kernstück der Anlage: dem Amphitheater. Es gehört zu den größten, die die Römer bauten, nur das Kolosseum ist größer (und die Arena von Capua, lesen wir; wir kennen sie nicht). Wir laufen durch die Arena (was nur das spanische und wohl auch lateinische Wort für Sand ist), blicken von den Rängen auf das menschenleere Oval und durchstreifen die endlos scheinendenen Gänge rund um den Sand. Darunter gibt es noch eine in Finsternis ruhende Etage. Hier warteten die Gladiatoren auf ihren Einsatz, von dem nicht alle auf den eigenen Beinen zurückkehrten. Die Starz-Serie "Spartacus" und partiell auch die HBO-Serie "Rom" (Jörg und ich haben sie beide gesehen und geschätzt) haben uns deutlich vor Augen geführt, auf welchem Boden wir uns bewegen. In Itálica steckt mehr Rom als in Rom.

 

 


Fotos und Texte: Hartmut Mechtel

Alle Fotos, auf denen auch ich zu sehen bin (und sei es, wie oben, nur mein rechter Arm) stammen von: Harald Deichmann