Die Welt unter meinem Balkon

Tagebucheintrag am 28. und 29. August 2021

Irgendwie kann ich grad nicht groß was schreiben. Ich kann auch nicht (mehr) demonstrieren. Ich bin derzeit (hoffentlich nicht für immer) nicht rüstig genug dafür. Die vorige Großdemo (Anfang August) hatte ich auch schon ausgelassen, hatte nur ein paar Livestreams zugeschaut. Und habe gesehen, dass Menschen grundlos (abgesehen davon, dass sie auf oder in der Nähe einer Demonstration liefen - an oder mit einer Demo, könnte man sagen) zu Boden gerissen wurden, auf einige wurde (vor laufenden Handykameras) schamlos bis demonstrativ eingeschlagen, ich sah blutige Köpfe. Da ich Blutverdünner verordnet bekam (also Bluter bin), kann ich mich dem Risiko einer Begegnung mit den schwarzuniformierten Schlägern nicht mal dann aussetzen, wenn ich wieder fitter bin.

So wusste ich zwar, dass am letzten Augustwochenende in Berlin demonstriert wird gegen das Corona-Regime, nahm daran aber (außer stillen guten Wünschen für alle, die sich auf die Straßen wagen) keinen Anteil. Ich hielt mich am Nachmittag fast ausschließlich in den hofwärtigen Räumen meiner Wohnung auf, und weil aus einem Hoffenster ein Radio nervte, hörte ich lange Zeit nicht, was auf der Straße los war. Das sah ich dann am späten Abend in (aufgezeichneten) Livestreams. Da zogen doch tatsächlich Demonstrantengruppen unter meinem Balkon vorbei. Mehrere Tausend.Lange unbemerkt von mir. Eine Gruppe war dann so laut, dass ich doch etwas mitbekam: Sehr laute rockende Musik. Die Love-Parade? Es waren tatsächlich vor allem jungen Leute, die meisten Twens. Busgroße Fahrzeuge, bunt bemalt, bestückt mit Tonanlagen, wurden von Begleitern mit Seilen gegen das Entern durch wen auch immer geschützt. "Frieden! Freiheit! Demokratie!" riefen die jungen Leute gelegentlich.

Wenn nicht gerade die Rhythmen hämmerten, gab es Durchsagen, etwa dass es vorn (weit außerhalb meiner Sicht) gerade nicht weitergeht. Da blieben sie stehen, warteten. Es werde verhandelt, dröhnte es. Alle müssen Masken aufsetzen, dann gehe es weiter. Wenn ihr in fünf Minuten keine Masken aufhabt, wird die Demo verboten (woraus ich im Gegenzug folgerte, dass sie an sich erlaubt war). Etwa ein Drittel trug ohnehin Maske, an (mindestens) einem der Wagen klebte ein Schild: "Masken auf!" Binnen kurzem trugen mindestens zwei Drittel die (sicher für die Zulassung der Demo erforderliche) Windel vor Mund und Nase. "Wenn ihr keine Masken dabei habt, wir haben welche und können sie euch geben!" Die fünf Minuten dehnten sich auf fast eine halbe Stunde, dann wurden (per Lautsprecher) die jungen Leute aufgefordert, im Chor die letzten Maskenmuffel zu ermahnen: "Masken auf! Masken auf! Masken auf!" Die Selbsterniedrigung schien zu nutzen, auf einmal liefen sie wieder. Etliche Wagen folgten noch, dann gab es wieder eine Durchsage: "Nun sind wir doch verboten worden. Die Demo ist beendet", und ironisch fügte der Sprecher hinzu: "Da blutet uns aber das Herz." Der Zug lief dennoch weiter, doch bald war unterm Balkon Schluss. Am Ende demonstrierte die Stadtreinigung im orangefarbenen Konvoi und fegte die Straße (und, sofern sie mit kleinen, wendigen Maschinen herankamen, auch straßenwärtige Teile des Bürgersteigs). Ja, tatsächlich, nicht die Polizei fuhr hinterher, sondern die Stadtreinigung.

Am Abend ließ ich mich durch Haarschnitt auf dem Balkon verschönern, weil ich am nächsten Tag zum ersten Mal nach anderthalb Jahren meinen ehemaligen Kolleginnen privat begegnen würde; die kleine Firma hatte im März 2020 wegen des Lockdowns von einem Tag zum anderen schließen müssen. Wir wollten uns im Garten einer im Brandenburgischen (an der Grenze zu Berlin) wohnenden Kollegin treffen. Überraschenderweise regnete es. Damit fiel der Garten aus, wir hätten ins Haus gemusst. Ich habe zwar das Beste aller möglichen Gs (das vierte: Gesund!; abgesehen von der für andere ungefährlichen Herzkrankheit), doch das zählt in Drei-G-Zeiten nicht. Ich bin nicht geimpft (was mindestens zwei Kolleginnen vorher wussten, nicht aber die Gastgeberin), bin (da durchgängig gesund) nicht genesen, und getestet bin ich natürlich auch nicht (zumindest nicht aktuell). Zwei der Kolleginnen hatten ihre kleinen Kinder dabei, und die Gastgeberin fürchtete, dass Gesunde ohne Nachweis Kinder gefährden. Wir sprachen erst am Telefon, dann an der Gartenpforte miteinander. Die Idee, irgendwo im Ort ein Testzentrum für einen tagesaktuellen Schnelltest zu finden, wurde von beiden Seiten beiseitegewischt. Ich lüftete meine Kapuze und präsentierte die kurzen Haare, machte noch zweidrei ironische Bemerkungen (maßvoll, obwohl ich einer solchen Zurückweisung im Privatraum bisher nicht begegnet bin). Dann reiste ich ab.

Gehe ich nicht zur Demo, kommt die Demo zu mir. Mittags war ich wieder daheim und hielt mich diesmal im Vorderzimmer auf, so dass ich mitbekam, dass in der Danziger Straße wieder demonstriert wurde. Direkt unter meinem Fenster. Diesmal ging ich auf die Straße. Die Demonstranten gehörten allen Altersklassen an. "Frieden, Freiheit, Demokratie" riefen sie. Verdächtig! Sie fordern Demokratie, also müssen es wohl Nazis gewesen sein (die Rockmusik- und Maskenfreunde vom Vortag natürlich auch). Unbelehrbare. Demokratie passt nicht zum neuen Normal. "Mehr Diktatur wagen" hatte unlängst auf einem grünfreundlichen Plakat gestanden (um den nahtlosen Übergang der Gesundheitsdiktatur zur Öko-Diktatur zu bewerben). Das darf man heute laut sagen. Wer für die Verfassung ist, der ist ein Verfassungsfeind.

"Schließ dich an!" riefen sie (nicht nur) mir zu. Das tat ich. Ich marschierte also ostwärts auf der Danziger, rief wenigstens einmal auch "Frieden! Freiheit! Demokratie!". Schneller laufen, hörte ich von hinten, keine großen Lücken lassen, sonst werden wir von der Polizei abgedrängt. Eine Kamera nahm mich (und tausende andere) auf, vielleicht bin ich ja in einem Livestream zu sehen, wie ich gerade "Demokratie!" fordere. Bald fiel mir auf und ein, dass Demonstrationen nichts mehr für mich sind. Es regnete zwar gerade nicht, doch trug ich aus Sicherheitsgründen meine Regenjacke. Schnell war ich durchnässt - von innen, ich schwitzte und keuchte. Langsam scherte ich aus; ich wusste, dass gleich eine Sitzmöglichkeit am Rande einer Grünanlage kommt. Ich ruhte auf einer niedrigen Steinmauer, Demonstranten zogen vorbei, hunderte, tausende; ich fotografierte die Massen und die an den Seiten mitlaufenden Polizisten. Als ich wieder zu Atem kam, fuhren schon die Abschlusswagen auf, diesmal nicht die Stadtreinigung, sondern weißblauen Polizeifahrzeuge. Ich blickte ihnen nach. Hinterherrennen schien mir sinnlos; ich hinkte heimwärts, ich hatte meine Pflicht als Demokratiefreund erfüllt und Gesicht gezeigt.

Den Rest (und anderes) sah ich in Livestreams. Meine Demo lief bis und durch Lichtenberg (und immer weiter); das hätte ich ohnehin nicht bewältigt. Andere kamen auch zur Danziger. Tausende Demonstranten, hunderte Polizeifahrzeuge. Für Berliner Verhältnisse lief alles recht friedlich ab. Ich sah, dass Markus Haintz grundlos zu Boden geworfen wurde. Später (er war wieder frei) machte er die Polizei auf einen aggressiven Stänkerer aufmerksam, der ihm bereits am Vortag missfallen hatte. Ob der Mann ein bezahlter Provokateur oder einfach nur ein Depp war, wusste keiner, aber dass jener Typ, flankiert übrigens von einem sehr hübschen Mädchen, eine gefährliche Situation herbeizurangeln drohte, solle beachtet werden: Gewalt geht nicht von Demonstranten aus, sondern in diesem Fall von Provokateuren. Fast wäre Haintz von der Polizei für seine Warnung wieder festgenommen worden, doch seine anwaltliche Klarstellung (und die unüberehbare Aggressivität des Störers) reichte aus, den Provokateur kurzzeitig aus der ersten Reihe zu expedieren. Für seine Verteidigung der Polizei (in diesem und nur in diesem speziellen Fall) wurde Haintz dann von aufgebrachten (vermutlich echten) Demoteilnehmern verbal attackiert, die meinten, ein Recht auf handgreiflichen Widerstand gegen die Bedrückung von oben sei verständlich. Ist es auch, sage ich (wiewohl Radikalpazifist), aber es ist unklug. Gewalttätige Demonstranten, verletzte Polizisten - wen will man damit überzeugen? Andererseits ist es komplett gleichgültig, was die Demonstranten wirklich oder zumindest mehrheitlich tun: In den Mainstreammedien wird am nächsten Tag ohnehin stehen, dass die gefährlichen Querdenker Nazis sind.

Ich sah auch, wie der unermüdliche Boris Reitschuster (der von einem Balkon aus mit einem Blumentopf beworfen wurde, der ihn nur um Zentimeter verfehlte) auf der Suche nach dem "Danziger Kessel" war (im Osten Berlins kennt er sich, scheints, nicht gut aus, und die Danziger ist sehr lang). Eine Gruppe Demonstranten war in einer Seitenstraße der Danziger Straße eingekesselt. Was die Polizei dort machte? Keine Ahnung. Journalisten wurden nicht hinter die Absperrung gelassen, doch da keine Krankenwagen vorfuhren, um Blutende zusammenzukehren, wird es wohl relativ undramatisch abgelaufen sein (abgesehen vom Einkesseln selber, versteht sich; das wirkt und ist nun mal bedrohlich).

Ich hörte (sowohl vor Ort als auch in den Streams) gelegentlich Gesänge - Oh, wie ist das schön, Bella Ciao, - und mehrfach den Ruf: Wir sind das Volk! Ab und an wurden auch schon mal Arbeiterkampflieder angestimmt. Klar, wir waren im Osten, und wenn es auch, wie immer, Zugereiste gab, so scheinen doch auch echte Ossis dabeigewesen zu sein. "Nazis raus!" schrien (wenige) am Rand; klar, Revolutionslieder, Stimmungsgesänge und das Selberdenken sind verdächtig. "Nazis raus!" wurde gelegentlich auch gerufen, wenn die schwarze Garde mal wieder Straßen und Brücken sperrte, Leute isolierte oder sich sonstwie danebenbenahm. Die Rückbeschimpfung mag leicht übertrieben sein. Doch die Ähnlichkeit in Aufmachung und Gebaren ruft überzogene Vergleiche hervor. Am Ende meines gefühlsverworrenen Wochenendes steht die Einsicht: Wieder hat sich nichts verändert. Aber immerhin haben wir es versucht. In einer Endzeit kann man das schon mal als Anfang bezeichnen.